„Du darfst nicht denken, ich wäre dumm“

Kasimir, 55, verkauft an der Schleusenbrücke.

Kasimir zeigt sich optimistisch: Er will weg von der Straße.

Der Entzug musste sein. „Ich war fünf Jahre lang immer besoffen“, sagt Kasimir, endlich ehrlich zu sich selbst. „Ich bin viel zu weit gegangen.“ Wie weit, davon können die Hinz&Kunzt-Vertriebsmitarbeiter mehr als ein Liedchen singen. Immer wieder rückten sie aus, und knöpften sich den volltrunkenen Hinz&Künztler vor.

Oft war Kasimir kurz davor, seinen Verkäuferausweis abgeben zu müssen, weil er sich – vorsichtig ausgedrückt – nicht so verhielt, wie es die Hinz&Kunzt-Regeln vorsehen. Die besagen zum Beispiel, dass man nicht unter dem deutlichen Einfluss von Rauschmitteln verkaufen und keine Passanten bedrängen darf. Doch seit mehr als vier Wochen ist Kasimir jetzt nüchtern, kaut minzig-frisches Kaugummi, statt eine Wodkafahne vor sich herzutragen. Nun ist er auch bereit, etwas von sich und seinem Leben zu erzählen.

Seit etwas mehr als fünf Jahren
verkauft Kasimir Hinz&Kunzt in der Hamburger Innenstadt: an der Schleusenbrücke und den Alsterarkaden. Da ist immer viel los. Das passt zu ihm, findet Kasimir: „Ich rede gerne mit den Menschen.“ Offen und ehrlich ist er. Doch was tief in ihm drin vorgeht, das vertraut er nur seinen besten Freunden an. „Kollegen habe ich über 100. Aber Freunde habe ich gerade mal so viele wie Finger an der Hand.“ Wohlgemerkt an der linken Hand. Denn der rechten fehlen der Zeige- und ein gutes Stück vom Ringfinger. Ein Tribut an das harte Leben auf der Straße. Kasimir hatte sich vor acht Jahren an einem Rosenbusch verletzt. Die Wunde entzündete sich. „Elf Monate habe ich da selbst einen Verband drumgemacht. Ich hatte keine Krankenversicherung.“ Als Kasimir sich endlich an einen Arzt wandte, war der eine Finger gar nicht mehr zu retten, der andere nur halb.

Gebürtig ist der 55-Jährige aus Polen. Sein halbes Leben hat er aber in Hamburg verbracht. Vor 23 Jahren verließ er als junger Mann Mikolajki (Nikolaiken, „die schönste Stadt in den Masuren“) aus familiären Gründen, über die er nicht weiter sprechen will.

Der gelernte Maurer und Bautechniker („Ich bin nicht dumm. Das darfst du nicht denken!“) wollte jedenfalls möglichst weit weg und schaffte es bis in die Hansestadt. Seitdem lebt Kasimir auf der Straße, wenn er nicht bei Bekannten oder im Winternotprogramm unterkommt. Er schlägt sich seither mit Gelegenheitsjobs durch – mehr will er dazu nicht sagen.
Doch heimatlos fühlt Kasimir sich nicht. Polen und Deutschland, in beiden Länder fühlt er sich zu Hause. Ist er Pole oder Deutscher oder beides? Diese Frage findet Kasimir dumm: „Ich bin ein Mensch, das ist die Hauptsache.“

Hinz&Kunzt: Wenn du einen Wunsch frei hättest, was würdest du dir wünschen?
Kasimir: Ich will kein Haus mit großem Garten oder ein schickes Auto. Das Wichtigste ist die Gesundheit.

H&K: Wie möchtest du in fünf Jahren leben?
Kasimir: Ganz normal wie jeder Mensch. Mit meinen Freunden. Für eine eigene Familie ist es für mich leider zu spät. Ich will ganz weg von der Straße.

Text: Beatrice Blank
Foto: Mauricio Bustamante