Miteinander: Nette Nachbarn

Wie Bürger im Münsterland den Zusammenhalt pflegen

(aus Hinz&Kunzt 124/Juni 2003)

Opa ist tot. Gedankenverloren wirft Florian den Ball immer wieder gegen die Hauswand. Sein düsterer Blick lässt das Ausmaß des Verlustes ahnen. Rosemarie Kehr nimmt den Zehnjährigen in den Arm und sagt: „Kommst du nachher zum Fest? Dein Großvater hätte sicherlich nicht gewollt, dass du nur traurig bist…“ Daniel schaut zu Boden und sagt leise: „Aber Opa ist gestorben – das geht nicht!“ – „Doch, das geht!“, sagt resolut die 52-Jährige, die manche hier auch „die Bürgermeisterin vom Markenkamp“ nennen. „Eine Stunde kannst du schon vorbeikommen. Grüß deine Eltern von mir, und sag ihnen, ich hätte das gesagt.“

Die Anwohner feiern ihr alljährliches Fest. Rund 120 Familien leben am Markenkamp, einer am Wald gelegenen Neubausiedlung am Rande der westfälischen Kleinstadt Haltern. 1984 wies die 37.000-Einwohner-Gemeinde das ehemalige Römer-Lager als Baugrund für Familien mit Kindern aus. Alle waren neu, kaum einer kannte den anderen. Bald organisierten Umtriebige wie Rosemarie Kehr oder Heribert Walfort das erste Fest. Ein Geist entstand, den der ehemalige Telekom-Abteilungsleiter und heutige Frühpensionär Walfort so beschreibt: „Man hilft sich gegenseitig, wenn jemand Hilfe braucht.“

Am Anfang ging es hauptsächlich um die Häuser und die Kinder. Wollte einer einen Balkon an seinem Haus anbauen, fragte er die Nachbarn. Und musste ein anderer in die Stadt zum Einkaufen, wusste er, wer auf die Kinder aufpassen wird. Doch bald schon warteten andere Herausforderungen auf die Menschen vom Markenkamp, „echte Härtefälle“, wie Rosemarie Kehr heute sagt. Ein halbes Jahr lang hat sie zum Beispiel einen Säugling versorgt, weil die Mutter nach der Geburt in Depressionen verfiel. „Da haben alle ringsherum geholfen“, erinnert sich die klein gewachsene Frau mit der großen Energie. Oder als sich die Eltern eines siebenjährigen Jungen scheiden ließen: Da kümmerte sich eine Nachbarin rührend um den Kleinen und sorgte dafür, dass es ihm gut ging in schlechten Zeiten.

Gelebte Nachbarschaft hat im Münsterland eine lange Tradition. Damals, vor gut 100 Jahren, waren Stadt und Land noch kaum zu unterscheiden. In den größeren Siedlungen waren es die Ackerbürger, die sich zu Brunnen- gemeinschaften zusammenschlossen, gegenseitig auf die Kinder aufpassten und auch sonst einander halfen. Nicht nur aus reiner Nächstenliebe, meint Hans-Josef Böing, Sozialdezernent der Stadt Haltern. „Es war zweckmäßig, sich zu verstehen, um sich nicht ums Wasser zu kloppen.“ Ähnlich verhielt es sich auf dem platten Lande, wo Heribert Walfort groß geworden ist. „Wenn du da keine Nachbarn hast, bist du aufgeschmissen.“ Einem Kalb etwa kann der Bauer nicht alleine auf die Welt helfen, und der Trecker wird billiger, wenn man ihn gemeinsam anschafft.

Um der Idee des Zusammenhalts eine möglichst verlässliche Form zu geben, entwarfen die Münsterländer sogar schriftlich fixierte Regelwerke. „Sinn und Zweck der Nachbarschaft liegen darin, dass alle Familien in friedlicher und freundschaftlicher Weise zusammenhalten. Dieser Grundsatz soll gelten in guten und schlechten Tagen, in Trauer, Freude und Leid“, heißt es etwa in der Satzung der „Nachbarschaft Johannesstraße“, die vergangenes Jahr ihr 50-jähriges Bestehen feierte. Wer dem Verbund beitreten will, muss einen Mitgliedsbeitrag bezahlen. Im Gegenzug kümmern sich Jahr für Jahr neu gewählte „Nachbarschaftsherren“ und „-knechte“ um die Organisation von Geburtstagsgeschenken, Krankenbesuchen und Beerdigungen. „Nachbarschaften haben den Reiz, dass sie das bieten, was man heute oft als Dienstleistung einkauft“, sagt Sozialdezernent Böing.

Doch eine Nachbarschaft ist mehr als ein soziales Hilfesystem, meint Heribert Walfort und erinnert an die vielen „schönen Momente“, die sie sich gegenseitig schon bereitet haben. Vor Jahren zum Beispiel kamen sie mal auf die Idee, einem Paar zur silbernen Hochzeit eine Play-Back-Show à la „Blues Brothers“ darzubieten. „Das kam so bombastisch an, dass es seitdem alle wollen.“ Oder die „Aida“-Geschichte: Da schenkte die Nachbarschaft einem anderen Jubiläums-Pärchen Karten für die Oper – und verkleidete sich zu diesem Anlass komplett als Römertruppe. „Das waren alles selbst gebastelte Kostüme“, sagt Rosemarie Kehr stolz. Etwa 15 Familien umfasst ihre Nachbarschaft. Vier Mal im Jahr machen sie gemeinsam einen Ausflug, etwa ins Bergwerk, einmal jährlich lädt eine Familie zur „Fete ohne Knete“, bei der das Buffet aus den Nachbarschaftsbeiträgen – 60 Euro pro Familie und Jahr – bestritten wird. Wohlgemerkt: „Niemand wird gezwungen“, sagt Heribert Walfort. Jener prominente Sportler etwa, der mit seiner Familie nebenan wohnt, bleibt lieber für sich, berichtet der Frührentner und sagt: „Man kennt die Eigenheiten. Und richtigen Ärger hat es hier noch nie gegeben.“ Im Balance-Akt zwischen Ansprüchen und Abgrenzungen müsse eben „jeder ein bisschen Gefühl dafür haben, wo die Grenzen sind“.

15 bis 20 Nachbarschaften gibt es allein in Haltern, wie viele es im gesamten Münsterland sind, weiß niemand. Die Zukunft aber ist ungewiss. „Wir wollen uns dieses Kleinod erhalten“, sagt Alfons Stock, derzeit Nachbarschaftsherr in der Halteraner Johannesstraße. Doch gehört in seiner Straße nur noch ein Drittel der rund 200 erwachsenen Anwohner zur Nachbarschaft, und die Zahl sinkt. Alfons Stock meint den Grund zu kennen: „Viele Mietwohnungen, hohe Fluktuation.“ Ins gleiche Horn bläst auch Sozialdezernent Böing: „Eine Nachbarschaft in der Großstadt kann ich mir kaum vorstellen. Schon in Münster gibt es so etwas nicht mehr.“

Diese Erfahrung hat auch Sabrina gemacht, die 23-jährige Tochter von Rosemarie Kehr. Wegen des Studiums wohnt sie unter der Woche neuerdings in der Stadt, in einer Dreier-WG im Mehrfamilienhaus. „Eine Nachbarin dort ist meine beste Freundin, sonst hab ich mit den Leuten nichts zu tun“, erzählt sie. Allerdings, sagt Sabrina, vielleicht liegt das auch daran, „dass ich hier im Markenkamp ja immer noch meine Leute habe“. Zudem sei das auch eine Frage des Alters. „In zehn Jahren wird das anders sein. Das ist so ein innerer Drang: Meine Mutter ist so, und ich bin so.“ Gut möglich also, dass die junge Frau bald eine neue Nachbarschaft stiften wird.

Ulrich Jonas

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