Kein Schwein da, und Bambi lebt!

Wir waren auf der Jagd. Extra für unser Sonderheft „Hamburger Naturkost“. Denn in einem Magazin, das sich den Abenteuern und kulinarischen Highlights aus Wasser, Wald und Wiese widmet, dürfen Waidmann und Wild nicht fehlen.

(aus Hinz&Kunzt 201/November 2009)

Ein wenig mulmig ist mir schon auf dem Weg zu Klaus Schmidt. Klaus Schmidt ist Jäger, und wir wollen zusammen ein paar Stunden auf die Kanzel. Das ist nicht der Ort, wo gepredigt wird. Kanzel ist ein anderes Wort für Hochsitz. Wir wollen Wild beobachten und möglicherweise auch schießen.
Klaus Schmidts Händedruck ist fest und beruhigend. Er ist ein kerniger Typ, der ein wenig an Clint Eastwood erinnert. Schmidt jagt, seit er 18 ist. „Liegt in der Familie“, meint er trocken. Ein echter Norddeutscher, der klare Ansagen schätzt. Sein Geld verdient der 55-Jährige mit dem Verkauf und der Reparatur von Motorrädern, aber sein Herz schlägt für die Natur, und er verbringt jede freie Minute draußen.
Es ist später Nachmittag, Klaus Schmidt drängt zum Aufbruch. Schließlich wollen wir bis zum Einbruch der Dunkelheit möglichst viele Tiere sehen. Ich öffne die hintere Tür von Schmidts Kombi, um meine Jacke hinten auf die Rückbank zu legen, und zögere einen Moment, als ich das Gewehr sehe. Es ist das erste Mal, dass ich überhaupt Kontakt mit einer echten Waffe habe. Weit müssen wir nicht fahren, denn wir befinden uns in einer Eigenjagd, das heißt, auf einem 100 Hektar großen Gebiet, das direkt zu einem Landwirtschafts-betrieb gehört. Besitzerin ist Schmidts Lebensgefährtin Petra Harms, die selbst einen Jagdschein besitzt und leidenschaftlich Öffentlichkeitsarbeit in Sachen Jagd betreibt.
Wir parken den Wagen und machen uns auf den Weg zum Hochsitz, beziehungsweise zur Kanzel. Woher der Ausdruck kommt, kann Schmidt nicht sagen. „Jägerisch“ ist eben eine Sprache für sich. Mehr als 3000 Wörter gehören dazu, und entsprechend oft muss ich im Laufe unserer Unterhaltung um eine Übersetzung bitten. Wir bleiben oft stehen auf dem kurzen Weg vom Wagen zur Kanzel. Klaus Schmidt zeigt hierhin und dorthin und weist auf Dinge, die mein Stadt-Auge niemals bemerkt hätte. „Sehen Sie das kleine Loch im Boden? Das war ein Dachs, der hier Regenwürmer gesucht hat.“ Oder er weist auf einen Findlingshaufen, den er im Knick angelegt hat. „Für die Steinhummeln und Schlangen“, sagt er, nicht ohne Stolz. An einer Stelle ist das Gras ziemlich großflächig platt gedrückt. „Haben Sie eine Idee, was das gewesen sein könnte?“, fragt er. Ich überlege fieberhaft und schlage Wildschweine vor. „Rindviecher, die ausgebrochen sind“, erklärt er grinsend. Ich bin aber auch leicht vorzuführen.
Ich erfahre noch eine Menge über Naturschutzmaßnahmen: Vogelnährgehölze im Knick, kurz gemähte Rasenflächen, damit die Rebhühner sich trocken laufen können, und Futterstellen, die ausgleichen sollen, was der Mensch durch die Monokultur auf dem Speiseplan der Wildtiere angerichtet hat. Hege- und Naturschutzmaßnahmen machen den größten Teil der Arbeit im Alltag des Jägers aus.
Wir erreichen die Kanzel – eine von fünf, die Schmidt im Laufe der letzten Jahre aufgestellt hat. Materialkosten: rund 900 Euro. Eng ist es hier, aber durch die Wolldecke auf der harten Bank und ein Tütchen mit Bonbons auch gemütlich. Fast wie in einem Baumhaus für Kinder. Schmidt stellt zwei Ferngläser bereit und lädt sein Gewehr. Zu Hause im Waffenschrank hat er noch ein Repetiergewehr für die sogenannte Drückjagd (siehe Glossar), eine schnell ladbare robuste Waffe, die „unterladen geführt“ werden kann und einen Revolver für den „Fangschuss“ aus kurzer Distanz. So eine Waffe kos­tet schnell mal 2000 Euro und das Zielrohr noch einmal so viel. Zum besseren Zielen steht ein Sandsack bereit, auf den Klaus Schmidt den Gewehrlauf auflegen kann. „Es ist wichtig, dass der Schuss das Stück richtig trifft“, erklärt er. Deswegen gehört zur Jägerausbildung eben nicht nur viel Theorie, sondern auch regelmäßiges Schießtraining. Ich lege die Waffe probeweise an und finde es sehr schwer, sie auch nur halbwegs ruhig zu halten. Durch das Fadenkreuz sieht alles aus wie im Vorspann des „Tatort“. Ein unheimliches, aber auch ein wenig reizvolles Gefühl.
Wir dürfen uns jetzt nur noch flüsternd unterhalten, damit wir das Wild nicht vertreiben. „Die Sinne der Tiere sind uns weit überlegen“, weiß Schmidt. „Vor allem die Schweine sind schlau und haben uns jetzt schon längst bemerkt, wenn sie in der Nähe sind.“ Die Wildschweine sind der Feind der Landwirte, denn sie können große Schäden anrichten. „Vor Kurzem habe ich hier eine Rotte von 41 Tieren gesehen“, sagt Schmidt. „Da bleibt nicht viel von einem Maisfeld übrig, wenn die sich den Bauch vollschlagen.“ Die Zahl der Wildschweine nimmt seit Jahren zu. „Kein Wunder, wenn wir immer mehr Mais anbauen. Das ist ihre Leibspeise“, erklärt Klaus Schmidt. Vor keinem anderen Tier hat der deutsche Jäger so viel Respekt wie vor dem Schwarzwild. Die Zähne des Keilers sind scharfe Waffen, die schwere Verletzungen zufügen können. Das Kräfteverhältnis zwischen Tier und Mensch scheint hier ausgeglichen zu sein. „Ich denke, die Chance zu überleben, stehen für das Schwein 50:50“, schätzt Schmidt.
Der Jäger legt Wert auf waidgerechtes Verhalten: „Wir haben eine große Verantwortung, und der Respekt vor dem Tier gehört für mich dazu.“ Schwarze Schafe gebe es natürlich auch, räumt er ein. Solche, die die Suche nach krank geschossenem oder angefahrenem Wild nicht ernst nehmen, das heißt das Finden und „Abfangen“ (Töten) des Stücks. Hierfür gibt es Spezialisten: Jäger mit speziell ausgebildeten Hunden sind immer in Bereitschaft, um verletzte Tiere aufzuspüren und per Fangschuss oder „kalter Waffe“ (Messer) zu erlegen.
Die Sonne sinkt tiefer und taucht die Wiesen um uns herum in ein goldenes, friedliches Licht. Gegenüber ist ein kleines Wäldchen, in das Schmidt eine Lichtung geschnitten hat. Um die Wildschweine anzulocken, hat er in 30 cm Tiefe Mais vergraben. Tief genug, dass nicht andere Maisfreunde ihn wegfuttern. Außerdem hat er Buchenholzteer an den Stamm einer kleinen Birke geschmiert. Die Schweine mögen den Geruch und schubbern sich am Stamm. An den Schleifspuren kann man die Größe der Tiere erkennen.

Kein Schwein zu sehen. Aber ein Hase mümmelt entspannt vor sich hin und dreht seine langen Ohren. Und da kommt ein Reh mit zwei Kitzen vorsichtig aus dem Wäldchen. „Ah, nicht die ganz alte Ricke. Die ist nämlich bald fällig.“ Das Gewehr bleibt unten, registriere ich erleichtert. Schmidt kennt jedes Tier in seinem Revier. Eine weitere Ricke mit Kitz taucht auf und in etwas weiterer Entfernung noch ein Bock. Die Tiere in freier Wildbahn beob­achten zu dürfen ist etwas ganz anderes als im Wildpark – ein schon fast spirituelles Erlebnis.
Die Schatten werden immer länger. Wir warten immer noch auf  Wildschweine. „Die kommen erst, wenn es fast ganz dunkel ist“, meint Schmidt. Er ist sicher, dass sie in der Nähe sind. „Die Rehe sind so unruhig, die mögen die Schweine nicht.“ Für mich sehen die Tiere vollkommen entspannt aus. Dafür ist die Dämmerung für mich schon fast Dunkelheit zu nennen. Wie will Schmidt denn hier sehen, geschweige denn zielen können? Leise äußere ich meine Bedenken. „Noch kann man sie sauber ansprechen“, meint Schmidt. Damit meint er, dass er noch zweifelsfrei Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand der Tiere erkennen kann. Zum Beweis darf ich noch einmal das Gewehr halten und durchschauen. In der Tat, durch das Glas ist der Blick viel schärfer. Zehn Minuten später ist es aber auch für Schmidts Adleraugen zu dunkel.

Schwein gehabt, die Schweine. Wir räumen alles an seinen Platz und klettern die Leiter hinab. Ich bin durstig, hungrig und müde; Schmidt ist topfit. Wir fahren zu seiner Wohnung und begrüßen seine Lieblings-Jagdgefährten. Seit vielen Jahren züchtet er Jagdterrier. Drahtige, furchtlose, kleine Kerle, die wie ein prima Kumpel für Kinder aussehen, es aber mit jedem Keiler aufnehmen. Bei der Jagd tragen sie maßgeschneiderte, orangefarbene Schutzwesten, um sich vor den scharfen Zähnen der Wildschweine zu schützen. Klaus Schmidt zeigt mir noch seinen Waffenschrank, Fotoalben und seine stattliche Sammlung von Bälgen (Fellen). Zur Belohnung wartet Schmidts Lebensgefährtin Petra Harms an der gedeckten Tafel mit einem leckeren Wildgericht. Zeit für 1000 Fragen und spannende Jagdgeschichten. In die Welt der Jagd habe ich in acht Stunden gerade mal hineingeschnuppert, zum Eintauchen muss ich wiederkommen.

Text: Sybille Arendt