Drogenhilfe in Kiel: Vom Junkie zum Tischler

Ruhig ist es morgens um 11 Uhr in der Tischlerwerkstatt von Horizon. Nur ein paar Männer stehen an einer Werkbank und sägen. Die meisten arbeiten auf einer Baustelle. Auch Klaus Krause ist nicht da. „Kommt aber gleich“, beteuert Tischlermeister Andreas Busemann. Schließlich will uns der ehemalige Hinz&Künztler endlich mal das Projekt vorstellen, das ihm geholfen hat, wieder clean zu werden.

(aus Hinz&Kunzt 220/Juni 2011)

Klaus hat es geschafft. Der ehemalige Junkie hat in der Tischlerwerkstatt in Kiel seinen Traumjob gefunden
Klaus hat es geschafft. Der ehemalige Junkie hat in der Tischlerwerkstatt in Kiel seinen Traumjob gefunden

Die Zeit, bis Klaus kommt, überbrückt sein Chef. Andreas Busemann erzählt, wie er vor 18 Jahren hierherkam. Fast gegen seinen Willen. Der Tischlermeister war damals arbeitslos. Und freute sich, endlich auch mal eine Auszeit zu haben. Aber Pustekuchen: Prompt vermittelte ihn das Arbeitsamt zu Horizon. Die Einrichtung wollte eine Tischlerwerkstatt aufmachen für Drogenabhängige, die clean waren und arbeiten und abstinent leben wollten. Dazu hatte Busemann „überhaupt keine Lust“.
Niemals hätte er sich damals vorstellen können, dass er jetzt nicht nur wochentags mit den Jungs arbeiten würde, sondern auch noch am Samstag. Freiwillig. „Da ich nicht Fußball spiele, gönne ich mir den Luxus, hierherzukommen und für mich zu werkeln.“ Einerseits. Andererseits kommen dadurch auch viele der Azubis oder Hilfsarbeiter. Auch freiwillig, um etwas für sich zu bauen – oder gezwungenermaßen, weil Busemann gemerkt hat, dass sie in der Berufsschule hinterherhinken und jetzt extra pauken müssen.
Familiär geht es zu. Aber ein Streichelzoo ist die Tischlerwerkstatt nicht. Eher eine raue Männerwelt mit Menschen, die ein offenes Ohr und das Herz auf dem rechten Fleck haben. „Die meisten haben als Kinder und Jugendliche kein männliches Vorbild gehabt, schon gar nicht den Vater“, sagt Busemann. Der Tischlermeister und die Gesellen versuchen, durch „Vorleben“ und Gespräche einen Draht zu den Jungs aufzubauen und ein männliches Vorbild zu sein. „Ein Vorbild auf Zeit“, betont Busemann. „Dann müssen sich die Jungs auch wieder abnabeln und ihren eigenen Weg gehen.“
Die Männer arbeiten nicht nur zusammen, lernen Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit und das Handwerk, wenn sie wollen. Sie lernen auch, abstinent zu leben, den Haushalt zu führen, Hobbys zu entwickeln und Konflikte auszuhalten. „Recht auf Rausch? Gibt es bei uns nicht“, sagt Busemann. Und zur Überwindung der Sucht hilft nur eins: Abstinenz. Nicht nur Drogen, sondern auch Alkohol sind tabu. Die schlimme Kindheit, die an allem schuld ist? „Wird in der Therapie aufgearbeitet, darf aber nicht als Entschuldigung dafür dienen, nichts auf die Reihe zu kriegen.“
Das hört sich ganz schön markig an, finden wir. „Der Preis ist hoch“, sagt er. „Doch wer sich dran hält, wer die Disziplin aufbringt und den Willen, der erntet Erfolgserlebnisse, Erfolgserlebnisse, Erfolgserlebnisse.“
Was das in der Praxis bedeutet, erzählt uns Klaus. Der ist endlich da, in voller Tischlerkluft. „Und das mit den Erfolgserlebnissen funktioniert auch, wenn man unten steht“, sagt der 54-Jährige. Klaus weiß es, er musste in Kiel wieder ganz unten anfangen. 50 Jahre war er alt, als er wieder rückfällig wurde. Da hatte der gelernte Bootsbauer schon eine zehnjährige Cleanphase hinter sich. Aber er hatte sich einfach übernommen. Mit einer Liebe hatte er ein Haus ausgebaut, ein Kulturcafé eingerichtet – und über dem ganzen Stress sich selbst vergessen. Kaum war das Projekt fertig, stürzte er ab und sank ins Bodenlose. Hinz&Kunzt half ihm, aber eine Perspektive fand er in Hamburg nicht. Beim Entzug in der Klinik hörte er von Horizon. „Ich hatte das Gefühl, das ist meine letzte Chance.“
„Jeden Tag Erfolgserlebnisse, immer wieder“, das war auch das, was für Klaus lebenswichtig war. In der Werkstatt – und zu Hause. Zu Hause, das ist für die meisten im ersten Jahr eine therapeutische Wohngemeinschaft. Für Exjunkies auch etwas ganz Neues: Das hübsche Reihenhaus steht mitten in einem schmucken Wohnviertel – nicht draußen vor den Toren der Stadt. Ärger mit den Nachbarn? Nie. „Die Leute sehen, dass die Männer morgens zur Arbeit gehen und abends wiederkommen – ganz normal“, sagt Klaus.
Auch er hat hier begonnen. Mit 50 noch mal in eine therapeutische Wohngemeinschaft. Das war für ihn eine ganz harte Sache. Die er sich aber selbst ausgesucht hat. In seinem Alter hätte er auch in eine der Wohnungen ziehen dürfen. „Aber ich war ganz unten“, sagt Klaus. „Und ich musste erst wieder hochkommen.“ Sein Selbstbewusstsein war so im Eimer, dass er sich nichts mehr zutraute. „Ich hatte sogar Angst vor den Werkzeugen und Maschinen, mit denen ich mein Leben lang gearbeitet hatte.“
Wer neu in die WG kommt, muss auch ganz unten anfangen: Klo putzen oder Kartoffeln schälen etwa. Jedenfalls die niederen Arbeiten verrichten. Und er bekommt einen Paten, mit dem er in einem Zimmer schläft, der dem Neuling hilft, aber auch kontrolliert, ob er womöglich rückfällig wird oder die dreimonatige Kontaktsperre unterläuft.
Alle Stufen der Hierarchie muss der Neue durchlaufen, bis er Küchenver­antwortlicher wird und dann Erster Mann, der Hausverantwortliche. Klar: Umgang mit Macht ist gar nicht so einfach. Da passiert es schon mal, dass der eine versucht, den anderen zu unterdrücken oder gar zu erpressen. Mit sogenannten Verträgen etwa. Das funktioniert so: Einer entdeckt etwa, dass sein Mitbewohner heimlich Alkohol getrunken hat. Er petzt nicht, dafür nimmt er ihm das Versprechen ab, ihm im Gegenzug einen Gefallen zu tun.
„Als ich das damals mitgekriegt habe, habe ich sämtliche Verträge geknackt“, sagt Klaus. Was heißt: Beim wöchentlichen Mittwochs-Therapiegespräch hat er alle auffliegen lassen. Man kann es sich lebhaft vorstellen. Seinen Beliebtheitsgrad hat das nicht gerade gesteigert. „Sie haben mich alle gehasst“, sagt Klaus. „Aber ich hatte keine andere Wahl.“ „Ehrlich“ wollte er in Zukunft leben, eben weil er überleben wollte. „Und ich hatte von Anfang an ein Ziel: Ich wollte hier bleiben und hier arbeiten.“
Auf lange Sicht hat er seinen Mitbewohnern sogar einen Gefallen getan: „Wer Verträge eingeht, kann sich gar nicht mehr frei entwickeln“, sagt Klaus. Schon montags seien die Betreffenden mit hängenden Schultern herumgelaufen, „vor lauter schlechtem Gewissen und weil sie Angst hatten, sie fliegen doch bei der Mittwochsgruppe auf“.
Als alter Hase, der inzwischen in einer eigenen Wohnung lebt, weiß er um die Nöte der anderen. Morgens genau um 6.15 Uhr steht er mit Tischlermeister Andreas Busemann und den anderen Gesellen an der Werkbank und erwartet die Ankunft der Männer. „Schon wie jemand morgens reinkommt, zeigt, was bei dem los ist.“ Und dann teilen Busemann und seine Gesellen die Arbeit schon so ein, dass auch mal Zeit für einen Schnack unter Männern ist. Allerdings: „Therapie ist das nicht“, sagt Klaus. Probleme kann man niemanden abnehmen und Konflikte muss jeder selbst durchstehen. „Jeder muss selbst den Mumm haben, bestimmte Dinge in der Mittwochsgruppe anzusprechen.“
Weil die Ausbildung so gut und Busemanns Männer so viel soziale Kompetenz haben, „werden sie von anderen Betrieben oft mit Kusshand genommen“, so der Tischlermeister. Es hört sich fast zu schön an, um wahr zu sein: Das Projekt hat eine Erfolgsquote von 73 Prozent. „Alle, die länger als drei Monate bei uns waren, sind in Arbeit.“ Ein Grund ist sicher, dass keiner mehr aussieht und sich verhält wie ein Junkie. Und das wiederum liegt auch daran, dass hier lange Haare, Szeneklamotten oder Schmuck tabu sind, sagt Andreas Busemann. Kaum hat der Tischlermeister das mit den langen Haaren gesagt, kommt Stefan um die Ecke – mit einer richtigen Matte.
Stefan macht ein Praktikum, und er hat eine Ausnahmegenehmigung, noch. Er wurde substituiert und ist jetzt clean, kann sich aber noch nicht durchringen, den Sprung zu den Abstinenzlern zu wagen. Er will sich noch nicht von seinen Haaren trennen und von seinem Hund auch nicht. Das wäre aber Voraussetzung. „Der Hund ist eine Ersatzbezugsperson“, so Busemann. „Stefan kann erst wirklich Kontakt zu anderen Menschen aufbauen, wenn er sich von dem Hund trennt.“
Und Kontakt aufbauen und Hobbys entwickeln, gehört genauso zur Entwicklung bei Horizon wie die Arbeit. Seinen Hund hat er seit sechs Jahren, „da war der erst acht Wochen alt“.Trotzdem ist er ins Grübeln geraten. „Mir gefällt es hier schon gut“, sagt der 39-Jährige. „Und es stimmt: Mein Hund ist eine Bremse für mein Leben.“
Für Klaus ist bei Horizon ein Traum in Erfüllung gegangen. „Ich wollte von Anfang an hier fest angestellt werden, und ich habe es geschafft“, sagt er. Jetzt will er anderen helfen, die Sucht zu überwinden. Deshalb kommt er auch zwei Mal im Monat zu Hinz&Kunzt. Dort setzt er sich zu seinen alten Kollegen und versucht, den ein oder anderen für das Projekt zu gewinnen. Ein Hinz&Künztler war für ein paar Wochen mit dabei. Hat dann aber abgebrochen. Ein bisschen enttäuscht ist Klaus natürlich schon. Aber nicht hoffnungslos: „Das heißt nicht, dass er es nicht schafft. Jeder braucht seine Zeit.“ So wie er seine Zeit gebraucht hat. „Eines Tages war ich dann so weit“, sagt Klaus. Damals kaufte er noch einmal einen Stapel Magazine, stellte sich an seinen Stammplatz. „Die letzte Hinz&Kunzt war meine Fahrkarte nach Kiel.“

Text: Birgit Müller
Foto: Mauricio Bustamante