Herr Grimm und Elise

Fast 40 Jahre führte Herr Grimm seinen Haarschneide-Salon in Wilhelmsburg. Dann wurde er krank, und Elise Fellberg übernahm. Jetzt frisieren die beiden Seite an Seite – solange Herr Grimm noch da ist.

(aus Hinz&Kunzt 227/Januar 2012)

„Wie immer!“ Und schnell soll’s gehen. Herrn Grimms Kunden wünschen keine Experimente, außer vielleicht mal einen spontanen Bartschnitt.

Es kommt vor, da tEs kommt vor, da tritt ein Kunde durch die Tür und fragt murmelnd: „Isser Chef da?“ Oder: „Isser Meister da?“ Elise Fellberg lächelt milde: „Ich korrigiere das nicht mehr; ich schicke den Kunden dann hoch zu Herrn Grimm.“ Und sie zeigt auf die vier Stufen, die hinaufführen in den einstigen Damensalon mit seinen zehn Trockenhauben, wo nun Herr Grimm seine Kunden empfängt: Männer in beigen Jacken und soliden Schuhen. Männer, die seit vielen, vielen Jahren den gleichen Haarschnitt haben. Viele sind älter als Herr Grimm und Herr Grimm ist auch schon 63. Elise Fellberg aber ist jung, sie ist jetzt die Chefin. Und Meister, also Meisterin, ist sie auch.  „Die schneidet gut“, sagt Herr Grimm, nickt mit dem Kopf in ihre Richtung und kämmt seinem heutigen Kunden, dem Herrn Hoch, die Haare zur Seite.

40 Jahre wären es übrigens neulich her gewesen, dass Herr Grimm das Friseurgeschäft am Vogelhüttendeich im Wilhelmsburger Reiherstiegviertel von seinem damaligen Chef übernahm und sich somit selbstständig machte. „Aber ich hab nicht gefeiert. Ist ja nicht mehr mein Laden, ich bin jetzt bei Frau Fellberg angestellt. Wenn es noch mein Laden gewesen wäre, dann hätte ich natürlich schon gefeiert.“ Und so hat er das einfach für sich behalten.

Unten, im einstigen Herrensalon, ist Elise mit einer Kundin in ein lebhaftes Gespräch vertieft. Die beiden duzen sich ungezwungen, sie lachen und scherzen. „Mich freut, dass das mit ihrer Philosophie aufgeht“, sagt Herr Grimm. Und wie ist die Philosophie der Elise Fellberg?

Herr Grimm hört kurz auf zu schneiden: „Also: Erst mal hinsetzen. Erst mal eine Tasse Kaffee trinken. Dann in Ruhe den Schnitt besprechen. Erst dann geht es los, da braucht sie eine Stunde pro Kopf, aber ihre Kunden mögen das, für meine Kunden ist das nix.“ Er wischt ganz vorsichtig Herrn Hoch ein paar Haare von der Schulter: „Meine Kunden kommen, setzen sich, sagen ‚Wie immer!‘. Das war’s. Oder?“ Herr Hoch, der hier gleich um die Ecke in der Vehringstraße wohnt, sagt: „Genauso isses.“ Überlegt es sich dann doch und setzt hinzu: „Ach, stutzen Sie mir doch heute mal den Bart. Aber nicht so viel!“ Herr Grimm nickt zufrieden. Dann sagt er: „Dann machen wir das.“

Das mit Herrn Grimm und Elise war nicht so geplant. Aber vor etwa zwei Jahren ging es Herrn Grimm schlecht. Es wollte nicht besser werden. „Ich konnte zuletzt keine 20 Schritte mehr gehen, ohne mich hinzusetzen, solchen Druck auf der Brust hatte ich. Ich bin hier kaum die Treppe hoch gekommen, können Sie sich das vorstellen?“ Heute weiß er, dass seine Nieren kaputt sind und dass es nicht das Herz war, und seit er zur Dialyse geht, ist er wieder auf dem Damm. Jedenfalls, als Herr Grimm schon das Schlimmste befürchtet, da kommt Elise Fellberg vorbei. Sie hat in Berlin ihre Ausbildung zur Friseurin gemacht, hat ein Kind bekommen, ist zurück nach Wilhelmsburg gezogen, dem Stadtteil, über den sie sagt: „Ja! Hier ist meine Heimat!“ Und sie sucht einen Friseursalon, wo sie untermieten kann. Mehr nicht. Da hat Herr Grimm eine Idee: Sie soll doch seinen Laden ganz übernehmen – auch damit das Geschäft erhalten bleibt, damit daraus nicht so ein x-beliebiger Billigfriseur wird, wie es sie längst auch in Wilhelmsburg gibt. „Wissen Sie“, sagt Herr Grimm, „dass es hier mal 56 Herrenfriseure gab? War eine Feier, ein Geburtstag, ging man vorher zum Friseur. Nicht wie heute, wo einem das egal ist, wo man zehn Wochen wartet oder elf.“

Jedenfalls, Elise überlegt. Und Herr Grimm redet ihr gut zu. Sie wäre dann hier die Chefin! Und er würde nebenher noch ein paar Stunden arbeiten. Um das Geschäft übernehmen zu können, müsste sie allerdings die Meisterprüfung absolvieren. Elise beschäftigt etwas anderes: Der Laden müsste gründlich renoviert werden. Müsste anders gestylt sein. Müsste neuer und frischer wirken. So, dass auch junge Leute kommen, wie sie selbst, die eine helle und schnelle Stimme hat und die in ihrem Geschäft nicht nur Haare schneiden, sondern auch Lesungen, Ausstellungen und kleine Konzerte veranstalten will. Nicht ständig natürlich und dann nichts Großes, aber ab und an. Und Elise besucht die entsprechenden Kurse, meldet sich zur Meisterprüfung an. „Es war der schönste Sommer meines Lebens“, erzählt sie. „Ich war viel draußen, ich hab viel Sport gemacht, war viel schwimmen, mir ging es rundum gut, und abends ging ich zu den Kursen.“ Sie weiß das Prüfungsergebnis noch nicht, da fängt sie an zu renovieren. Stellt alles auf den Kopf, tapeziert, malt. Holt die Gardinen aus dem Schaufenster, sodass man rein- und rausschauen kann, unten im Erdgeschoss, während es oben bei Herrn Grimm so bleibt wie es immer war. „Wenn ich mich umschaue, dann frage ich mich, wie ich das alles geschafft habe, aber man schafft das eben“, sagt sie. Sie bekommt ihr Ergebnis, ist Meisterin. „Als …“, sagt Herr Grimm, er holt tief Luft, dreht sich auf seinen Absätzen um, lässt die Pause richtig lange wirken: „… als Jahrgangsbeste!“

Bei ihm selber war das einst ganz anders, Ende der 60er: „Ich kam von der Bundeswehr, hatte hier vorher meine Lehre gemacht, hab hier weitergearbeitet, da fragt mich der Chef, ob ich Chef werden will.“ Eigentlich soll dessen Sohn das Geschäft übernehmen. Doch Vater und Sohn überwerfen sich, Familie eben. Und Herr Grimm wird auf eine Art Friseurinternat geschickt, draußen bei Trittau, zum Meisterkurs. „Eigentlich war ich noch nicht so weit; ich war noch zu jung, noch nicht reif.“ Aber auf solche Befindlichkeiten nimmt damals niemand Rücksicht:  „Ich hab gleich mit sechs Angestellten angefangen, wir hatten bis zu 1200 männliche Kunden im Monat damals.“ Er zeigt nach draußen: „Damals gab es hier gleich nebenan eine Schnapsbrennerei, einen Fischhandel, einen Bierverlag, eine Zoohandlung und ein Geschäft für Haus­haltswaren. Ist alles weg.“ Er ver­ab­schiedet Herrn Hoch, der sich zufrieden durch seinen Bart streicht. Erzählt weiter: „Wir hatten am Vogelhüttendeich 18 Gaststätten. Mein Schwiegervater wollte die alle mal abklappern, er kam aber nicht weit. Das ist schon 38 Jahre her. Ich weiß das, weil meine Frau damals schwanger war und unsere Tochter ist jetzt 37.“ Ab den Siebzigern kam Wilhelmsburg unter die Räder; sollte Hafengebiet werden. Herrn Grimms Kunden zogen weg. Aus sechs Angestellten wurden vier, dann zwei, dann war er alleine.

Von daher freut es ihn, was jetzt hier passiert, dank der Internationalen Bauausstellung. Dass überall gebaut wird und die Häuser saniert werden: „Es ist gut, dass was geschieht, selbst wenn es 20, 30 Jahre zu spät kommt.“ Auch Elise sieht die Veränderungen im Stadtteil positiv, dass neue Bewohner kommen: „Ein Laden, wie ich ihn mache, der hätte hier vor sechs Jahren definitiv keine Chance gehabt.“ Heute aber ist sie ausgebucht, muss umgekehrt schauen, dass sie sich ihre Freiräume bewahrt und so viel Zeit für ihre Kunden hat, wie sie es wünscht: „Ich mag die Intimität zwischen der Friseurin und der Kundin; ich mag das Zweier-Ding.“ Richtige Haarprojekte werden so bei ihr gestemmt: „Manchmal kommen Kundinnen, die wollen eine bestimme Frisur, aber das Haar ist dafür nicht lang genug. Dann arbeiten wir daran.“

Was ihr auch gefällt: das Vertrauen, das man ihr entgegenbringt. „Ich kenne die Namen der Kinder meiner Kunden, ich weiß, wo die im Urlaub waren und wie es war“, sagt sie. „Ich weiß hier Sachen aus dem Stadtteil, die weiß sonst niemand.“ Sie lacht: „Aber hier herrscht Schweigepflicht.“ Bei Herrn Grimm laufen die alten Fäden zusammen, wenn die kommen, die es über die Jahrzehnte ins Umland verschlagen hat, nach Buchholz, nach Seevetal, nach Neu Wulmstorf: die ehemaligen Nachbarn, die Männer vom Wilhelmsburger Bandoneonorchester, die vom Männerchor, wo Herr Grimm passives Mitglied ist. Alles alte und ehemalige Wilhelmsburger, die bei Herrn Grimm noch einen Rest Heimat finden, wenn er ihnen die mittlerweile wenigen Haare schneidet.

Aber damit wird es bald vorbei sein. Herr Grimm wird eines nicht mehr so fernen Tages das letzte Mal das Geschäft aufschließen, er wird seine Sachen packen und das Schild in der Eingangstür mit dem Satz „Herr Grimm ist weiterhin für Sie da“ abhängen. „Das wird nicht einfach werden“, sagt Herr Grimm, „das wird mir schon schwerfallen.“

Aber das ist nicht das Ende! Herr Grimm hat noch einiges vor. Herr Grimm wird auswandern. „Nach Teneriffa, mit meiner Frau“, sagt er, und zeigt auf die Fotos, die an den Wänden hängen, hier im einstigen Damensalon, wo früher zu jedem Stuhl ein Aschenbecher gehörte, denn während die Locken unter den Hauben trockneten, wurde geraucht, aber kräftig. Er geht zu einem der Bilder, klopft mit dem Kamm ganz leicht auf das Glas, zeigt auf eines der Häuser: „Hier ist das, wo ich dann die Dialyse mache. Wo wir wohnen werden, in der Altstadt, nahe am Hafen, das ist leider nicht mit drauf.“ Mit der Krankenkasse sei alles geklärt. Nun müsse nur noch das Haus verkauft werden, in dem er mit seiner Frau hier ganz in der Nähe wohnt. Und jede Menge Papierkram sei noch zu erledigen. Dann aber geht es ab ins Warme, irgendwann dieses Jahr. Herr Grimm sagt: „Wir wollen uns noch eine schöne Zeit machen. Wenn nicht jetzt, wann dann?“ Er drückt den Rücken durch, sieht auf die Uhr: Demnächst muss er zur Dialyse. Jeden Montag und jeden Mittwoch und jeden Freitag. Er muss dann für vier Stunden still liegen, während ihm das Wasser literweise aus dem Körper gezogen wird, aber das sei okay: „Ich bin ja so froh, dass es mir wieder gut geht.“ Er stellt den Besen in die Ecke und knöpft sich seinen Kittel auf, während von unten helles Lachen herauf plätschert: „Und alles andere kriege ich auch noch hin.“

Salon: Vogelhüttendeich 86, Telefon: 753 42 19, www.salonsalon.de

Text: Frank Keil
Foto: Kathrin Brunnhofer