Kritik am Winternotprogramm : Hamburgs größte Platte

„Platte machen ist kein Spaß“: Mit einer Protestaktion hat das Bündnis gegen Wohnungsnot am Donnerstagabend für ein ganzjähriges Angebot an menschenwürdigen Notunterkünften protestiert. Etwa 100 Hamburger machten für eine Stunde „Platte“ vor dem Hauptbahnhof.

Wohnungsnot beenden
Protest vor dem Hauptbahnhof: Das Aktionsbündnis gegen Wohnungsnot macht auf die Situation der Wohnungslosen aufmerksam.

Eingemummelt in einem Schlafsack liegt Ricarda Obrikat auf dem Asphalt. Nur wenige Meter entfernt strömen die Menschen in die Wandelhalle des Hauptbahnhofs. „Eine ungewohnte Perspektive. Ich sehe nur ihre Beine,“ sagt Obrikat und versucht eine bequeme Liegeposition zu finden. „Der Boden ist so unglaublich hart. Da hilft auch meine Isomatte nicht. Man hat ja keine Vorstellung wie das hier unten ist.“ Neben Ricarda Obrikat haben etwa 100 Menschen auf der „größten Platte Hamburgs“ ihr Lager aufgeschlagen, obwohl die meisten nicht obdachlos sind. Damit wollen sie gegen die Wohnungsnot in Hamburg protestieren.

Auch Hinz&Künztler Marcel hat seine Isomatte ausgerollt: „Ist doch gut, dass sich Menschen gegen Obdachlosigkeit wehren“, sagt der 25-Jährige, der selber den Sommer über in der Innenstadt Platte gemacht hat. Für ihn geht es nach der Aktion am Hauptbahnhof gleich weiter. „Ich übernachte heute vor der Tagesaufenthaltsstätte in der Bundesstraße.“ Dort erfolgt am Freitag die Vergabe der begehrten Containerplätze. „Ich habe gehört, dass sich lange Schlangen bilden werden“, sagt Marcel. „Hoffentlich bekomme ich einen Platz.“

Wohlfahrtsverbände fordern „menschenwürdige Unterbringung“

Zu der Aktion hatte das Hamburger Bündnis gegen Wohnungsnot aufgerufen, um auf die Not wohnungsloser Menschen aufmerksam zu machen. Das Bündnis aus verschiedenen Wohlfahrtsverbänden, Trägern und Einrichtungen der Hamburger Wohnungslosenhilfe übt Kritik an der Sozialbehörde, obwohl ihr Winternotprogramm am Freitag mit so vielen Unterkunftsplätzen wie nie zuvor startet. „Es ist zwar gut, dass es 700 Plätze gibt, aber das genügt in keiner Weise“, sagt Bettina Reuter von der Ambulanten Hilfe für das Bündnis. Zum Ende des Winternotprogramms im vergangenen April stellte die Behörde über 800 Plätze zur Verfügung – die Unterkünfte waren trotzdem überfüllt.

„Es gibt auch zu viele Massenunterkünfte“, kritisiert Reuter weiter. Das Bündnis fordert kleinteilige Unterkünfte für Wohnungslose statt Einrichtungen wie das ehemalige Bürogebäude in der Spaldingstraße, in dem zunächst 230 Menschen untergebracht werden. Auf großes Unverständnis stößt bei den Wohnungslosenhelfern auch, dass es ein Zweiklassensystem gibt. Die Sozialbehörde will Wohnungslose ohne Rechtsanspruch auf eine öffentliche Unterbringung in Schulen unterbringen: „Wir fordern eine menschenwürdige Unterbringung für jeden, der bedürftig ist. Egal, wo er her kommt oder welche Geschichte er hat.“

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Frauen fürchten sich vor Übergriffen

Dass insbesondere für Frauen die Zustände in der Notunterbringung kaum erträglich seien, kritisiert der Hamburger „Arbeitskreis wohnungslose Frauen“. Die Gruppe aus Mitarbeiterinnen der Wohnungslosenhilfe hat sich vorab ein Bild von den Gegebenheiten in der Spaldingstraße gemacht. „Das Angebot entspricht in keiner Weise den Bedürfnissen obdachloser Frauen“, sagt Hinz&Kunzt-Sozialarbeiterin Isabel Kohler. In der Spaldingstraße gibt es keinen separaten Schlafbereich für Frauen: Die 20 Schlafplätze in den Frauenzimmern sind auf einer Etage mit 12 Schlafplätzen für Paare. Der Arbeitskreis fordert, dass es eine Etage geben müsse, die ausschließlich von Frauen genutzt werden kann. Es müsse außerdem eine Sozialarbeiterin als Ansprechpartnerin zur Verfügung stehen und einen Aufenthaltsraum für Frauen geben.

Besonders heikel: die Situation in den Sanitärbereichen. Zwar gibt es in der Spaldingstraße getrennte Bereiche für Männer und Frauen, da sie jedoch hinter einer Feuerschutztür lägen, sei nicht einsehbar, wer welchen Bereich betritt. Daher fordert der Arbeitskreis, dass zu festen Zeiten Mitarbeiter des Wachdienstes den Bereich kontrollieren. „Die Frauen müssen unbedingt in Ruhe duschen können“, sagt Isabel Kohler. „Ohne Angst haben zu müssen, wer vielleicht gleich reinkommt.“ Leider sei die Stimmung in der Notunterbringung in den vergangenen Jahren immer so gewesen, dass viele Frauen sich vor Übergriffen fürchten.

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Kaum Privatsphäre: In diesem Zimmer in der Spaldingstraße 1 werden ab Freitag vier Wohnungslose übernachten.

Die Angst vieler Frauen sei so groß, sagt Isabel Kohler, dass sie „sich lieber einen Schlafplatz draußen suchen, weil sie sich dort allein sicherer fühlen als im Winternotprogramm“. Das ganze Jahr über aber vor allem Winter gingen Frauen zudem Zweckbeziehungen ein, um der Obdachlosigkeit zu entkommen.

Keine Unterkünfte für Familien

Für Familien gibt es im Winternotprogramm nach wie vor keine geeigneten Unterkünfte: Sie müssen entweder auf der Straße bleiben oder sich von der Stadt getrennt unterbringen lassen. Während die Eltern in den Einrichtungen des Winternotprogramms unterkommen können, werden Kinder vom Kinder- und Jugendnotdienst untergebracht. Diesen Umstand kritisierte die Diakonie bereits am Montag: „Natürlich gehören Kinder eigentlich nicht in ein Winternotprogramm“, sagte Landespastorin Annegrete Stoltenberg. „Aber in einer solchen Notsituation dürfen Familien nicht auch noch getrennt werden.“ Die Stadt solle entweder geeignete Plätze für Familien im Winternotprogramm schaffen oder sie gemeinsam in regulären Unterkünften unterbringen, so Stoltenberg.

Text: Jonas Füllner, Benjamin Laufer, Beatrice Blank
Fotos: Mauricio Bustamante, Dimitrij Leltschuk (Zimmerfoto)
Video: Benjamin Laufer