Hafen: Das Container-Dorf

Wie aus Altenwerder ein Terminal wurde

(aus Hinz&Kunzt 123/Mai 2003)

Manchmal kann Steve Kalinowski es gar nicht fassen, dass sein Traum so schnell in Erfüllung gegangen ist. Fahrer einer dieser Containerbrücken wollte der ehemalige Dachdecker werden. Und jetzt sitzt der 22-jährige Berliner hoch oben in seinem gläsernen Häuschen und überblickt das modernste Containerterminal der Welt: Altenwerder. Dass in dieser Sandwüste einst ein Dorf stand, kann sich der Neu-Hamburger gar nicht vorstellen. Wie auch: Von Altenwerder steht nur noch die Kirche.

„Altenwerder?“, schnaubt Heinz Oestmann. „Für mich heißt das nur noch Sandhausen, alles Spülfläche und Beton.“ Keinen Fuß mehr will der Fischer auf den Boden seiner einstigen Heimat setzen. „Damit habe ich abgeschlossen“, behauptet der 53-Jährige, der inzwischen im Nachbarort Finkenwerder lebt.

Dabei gehörte der Fischer zu den letzten 35 Bewohnern, die sich weigerten, dem Terminal zu weichen. Schließlich lebte seine Familie seit Generationen auf der Elbinsel. Um genau zu sein, seit 1740. Damals waren zwei Vorfahren im Ruderboot von Blankenese nach Altenwerder geflohen, um dem Militärdienst zu entgehen. Absolutes Ödland fanden sie vor.

„Die wenigen Bewohner lebten wie auf einer Hallig.“ Wie die meisten anderen auch wurden die Oestmanns Fischer – im Winter mussten sie mit Schlitten übers Eis zum Festland, wo sie auf dem Hopfenmarkt den Fang verkauften. Es war ein karges Leben. Keiner der Oestmanns wurde jemals wohlhabend oder gar reich.

Das Altenwerder, das Heinz Oestmann, Fischer in der achten Generation, kennen lernte, sah anders aus. In den fünfziger Jahren erlebte das Dorf seine Blütezeit: 2500 Einwohner lebten hier, die meisten arbeiteten im Hafen oder hatten etwas mit Schifffahrt zu tun. Auch bei den Oestmanns gings bergauf. Vater Oestmann hatte sich von Verwandten Geld geliehen und den Bau eines Fischkutters in Auftrag gegeben. „Die ‚Nordstern‘ und ich haben das gleiche Baujahr“, sagt Heinz Oestmann, der immer noch auf dem selben Kutter fährt.

„Der Einschnitt kam, als ich elf Jahre alt war“, sagt Heinz Oestmann. 1961 beschloss die Bürgerschaft, Altenwerder zum Hafenerweiterungsgebiet zu erklären. Die Folge: Bauverbot im Dorf – und der Plan, die Bewohner umzusiedeln. Richtig ernst wurde es allerdings erst 1973: Da beschloss die Bürgerschaft einstimmig und binnen weniger Minuten die endgültige Räumung des Dorfes. Den Bewohnern flatterte ein Brief ins Haus: die Aufforderung, ihre Häuser an die Sadt zu verkaufen. Alle zwei Wochen rückten Bagger an und rissen ein Haus ab.

Bis dahin hatte sich Oestmann „keinen Kopf“ gemacht. „Wer zur See fährt, hat sowieso zwei Zuhause“, sagt er. „Eins an Land und eins an Bord.“ Sein Vater war gestorben, und er hatte mit 20 Jahren den Betrieb übernommen. „Richtig weh“ tat es erst, als er herausbekam, dass seine Mutter das Elternhaus verkauft hatte. „Hinter meinem Rücken!“ Fünf Jahre lang redete der Fischer kein Wort mehr mit ihr.

Die Familie blieb zwar zur Miete in ihrem Haus wohnen, aber der Abschied rückte spürbar näher. Immer mehr Bewohner verkauften ihr Anwesen. Die Natur eroberte sich das Land zurück. „Altenwerder wurde immer schöner, ein richtiger Ökopark“, erinnert sich Oestmann – und die verbleibenden Bewohner rückten immer enger zusammen. Noch mehr als er selbst hing seine Frau Renate an dem Dorf. „Hier kannte jeder jeden, wir gehörten einfach zusammen“, sagt der Fischer. Aber er wollte nicht nur aus Sentimentalität bleiben. Er hatte Existenzangst. „Ich hatte kein Geld, um woanders neu anzufangen. Ich sah einfach keine Perspektive.“

Und er fand es „völlig unsinnig“, dass Menschen Containerterminals weichen sollten. Terminals, auf denen erklärtermaßen mehr Boxen umgeschlagen, aber weniger Menschen arbeiten sollten. Genau das empörte auch andere. Hafen ja, war die Devise, aber nicht auf Kosten der Menschen. Altenwerder wurde für viele ein Symbol für Freiheit und Solidarität, vielleicht ähnlich wie Bambule und die Bauwagenplätze heute.

Der Kampf dauerte Jahrzehnte. Für die Oestmanns bis 1997. Da gab es nur noch eine Handvoll Bewohner, alle bekannt durch Funk und Fernsehen. Beinahe schien es so, als würde sich die Stadt an ihnen die Zähne ausbeißen. Das Leben im Dorf brach immer mehr zusammen. An manchen Tagen waren sogar die Telefonleitungen tot. Alles hielten die letzten Mohikaner aus. Scheinbar jedenfalls. Letztendlich haben alle aufgegeben.

Bei Oestmann waren es ausgerechnet zwei Bäume, die seinen Kampfgeist gebrochen haben. Eines Tages rückten artenarbeiter an und fällten zwei Kastanien in der Nachbarschaft. „Da war für mich Schluss“, sagt Oestmann. Denn an diesen Bäumen hing der Fischer mehr, als ihm je bewusst war. „Als Kinder haben wir hier Kastanien gesammelt. Ich dachte: Wenn die jetzt schon so etwas Schönes abholzen, dann will ich hier auch nicht mehr leben.“

Er tat etwas Ungeheuerliches, fast das Gleiche, wofür er mit seiner Mutter jahrelang nicht mehr gesprochen hatte. Im Januar 1997 schrieb er heimlich an Wirtschaftssenator Erhard Rittershaus einen kurzen Brief: Er solle ihm ein Angebot machen. Schon ein paar Tage später fuhr der Senator in seiner Limousine vor, etwas ängstlich, so schien es Oestmann, ob ihn nicht doch Schläge statt Gespräche erwarteten. Aber Oestmann wars ernst. „Ich wollte nur, dass sie mir zu einem bezahlbaren Preis ein Grundstück anbieten, auf dem ich neu anfangen kann.“ Ritterhaus, so erinnert sich Oestmann, soll platt gewesen sein. „Wie, das ist alles, was sie wollen?“, soll er gesagt haben. Die Verhandlungen gingen zu beider Zufriedenheit aus. Renate Oestmann war allerdings ziemlich sauer auf ihren Mann. Zumindest im ersten Moment. „Wir beschlossen, in Finkenwerder ein Fischrestaurant zu eröffnen – in dieser Idee ging sie völlig auf.“

Ein Happy End hat es trotzdem nicht gegeben. Ein Jahr nach der Eröffnung starb Renate Oestmann an Krebs. Die Freunde von damals hat der Fischer so gut wie nie wieder gesehen. Vielleicht nahm jeder dem anderen übel, wie und wann er verkauft und die Insel mitsamt dem Traum von der Freiheit aufgegeben hat.

Wenn das modernste Terminal der Welt in Altenwerden ganz fertig ist, wird es 14 Brücken für Containerriesen geben – bisher sind es sieben – und eine für Feederschiffe, sagt Steve Kalinowski und setzt sich wieder in sein Führerhäuschen. Eigentlich könnte er jetzt eine ruhige Kugel schieben und „nur“ überwachen, wie seine Brücke die Arbeit erledigt. Aber wie die meisten hier will er ein „richtiger“ Hafenarbeiter sein. Wenigstens eine der beiden „Katzen“ – so werden die Containerkräne genannt – will er selbst bedienen. Regelrecht langweilig findet es Kalinowski, wenn die Katze den Container automatisch hochhebt und eine vorgesehene Bahn in einer vorgesehenen Zeit absolviert. Man spürt seine Begeisterung, wenn er seinen Job erklärt: „Ich picke den Container an – und lass ihn fliegen“.

Birgit Müller

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