Mitarbeiter Sergej : Früher wohnungslos, jetzt Kollege

Bis Sergej in Deutschland arbeiten durfte, war es ein langer Weg. Inzwischen hat er einen Job bei Hinz&Kunzt. Seine Frau leidet 30 Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl noch immer unter den Folgen.

sergej_mauricioDer 1. Oktober war sein erster Arbeitstag. Seitdem gibt unser neuer Vertriebsmitarbeiter Sergej regelmäßig Zeitungen an die Hinz&Künztler aus. „Ich kenne deren Situation nur zu gut“, sagt der 42-Jährige. Denn als er vor acht Jahren zusammen mit seiner Frau Litauen verließ, hatten sie nichts. Kein Geld. Keine Wohnung. Keine Arbeit. Nur Hinz&Kunzt.

Außerdem erkrankte seine Frau. Die Nächte verbrachten sie im städtischen Winternotprogramm, die Tage in Aufenthaltsstätten für Obdachlose. Und das, obwohl Sergej gleich zu Beginn einen Arbeitsvertrag als Briefträger in Aussicht hatte. Doch für die neuen EU-Bürger aus Litauen galt noch keine Arbeitnehmerfreizügigkeit. Deswegen musste die Post deutsche Bewerber vorziehen. „Ich frage mich manchmal, wie es mir und meiner Frau jetzt gehen würde, wenn man mich hätte arbeiten lassen“, sagt Sergej.

Vier Jahre stritt Sergej mit dem Amt um seine Arbeitserlaubnis. Weitere vier Jahre dauerte es, bis er seinen ersten echten Arbeitsvertrag unterzeichnen konnte. „Ich habe acht Jahre verloren. Und ich muss sagen, das ist schädlich für den Kopf.“

Trotzdem habe er nie darüber nachgedacht, zurückzukehren. „Ich habe dort nichts mehr“, sagt der gebürtige Russe. Sergej hat keinen Kontakt zu seinen Eltern. Seine Kindheit war schwierig: „Damals war immer viel Alkohol um mich herum“, erinnert sich Sergej. „Wohl auch deswegen rühre ich keinen Tropfen an.“

Als Sergej volljährig war, zog er zu seiner Freundin. Für den gelernten Bernsteinmeister brachen bessere Zeiten an. Er profitierte vom Touristenboom nach der Unabhängigkeit Litauens. Der war allerdings nur von kurzer Dauer und die Konkurrenz unter den Bernsteinhändlern groß. Als das Pärchen 2007 schließlich Litauen verließ, hatte Sergej alle Hoffnung auf eine Perspektive in Litauen verloren.

Nur mit Mühe standen die zwei die Zeit im Winternotprogramm durch. Die Aggressivität und die vielen Alkoholkranken hätten seiner Frau sehr zugesetzt. Trotz der Wohnung, die Sergej fand, ging es ihr immer schlechter. Die gebürtige Ukrainerin lebte 1986 nur gute 100 Kilometer von Tschernobyl entfernt, als es zur Atomkatastrophe kam. „Erst nach zwei Wochen informierte man die Menschen“, sagt Sergej. Jetzt, 30 Jahre später, leidet Sergejs Frau unter Hautkrebs und ständiger Müdigkeit.

Zum Glück ist Sergej ein Kämpfer. Früher hat er mit dem Amt gestritten. Jetzt hilft er seiner Frau, wo er kann. „Manche Medikamente und vor allem die wichtigen Vitamine werden nicht von der Krankenkasse übernommen“, sagt Sergej. Um das Geld irgendwie zu beschaffen, sammelte er Pfandflaschen. Von seinem neuen Job erhofft sich Sergej eine Sicherheit, die er hier in Hamburg noch nie verspürt hat.

Text: Jonas Füllner
Foto: Mauricio Bustamante