„Ein Wahnsinns-Motor“

Diakoniechefin Annegrethe Stoltenberg und Schauspielhaus-Intendant Tom Stromberg diskutieren über Glaube, Liebe, Hoffnung

(aus Hinz&Kunzt 134/April 2004)

H&K: Was bedeutet Glaube in Ihrem Leben, Herr Stromberg? Wir haben nicht mal in Erfahrung bringen können, ob Sie noch in der Kirche sind.

Tom Stromberg: Nein, bin ich nicht. Ich komme aus einem katholisch-jüdischen Umfeld mit der in dieser Generation typischen Familiengeschichte der Verheimlichung des jüdischen Anteils. Selbst lange nach dem Ende der Nazi-Herrschaft litten viele jüdische Familien unter einem diffusen Gefühl der Bedrohung und wollten ihre Kinder schützen. Ich bin mit 18 aus der Kirche ausgetreten, weil ich mit den Modellen, die mir die katholische Kirche und auch das Judentum angeboten haben, nicht viel anfangen konnte. Als Lebenshilfe haben Religion und Kirche für mich keine große Rolle gespielt. Aber ich habe immer gesehen, welche großen Aufgaben sie im sozialen Bereich übernehmen.

H&K: Glauben Sie überhaupt an etwas?

Tom Stromberg: Ich glaube an meine Familie, an Freundschaften oder an das Vertrauen, das ich mit Leuten aufgebaut habe. Vielleicht glaube ich auch manchmal an die Kunst, aber ich sehe Glauben nicht in einem religiösen Zusammenhang. Solche wie mich kennen sie viele – oder, Frau Stoltenberg?

Annegrethe Stoltenberg: Ich bin selbst so eine. Jedenfalls bin auch ich mit 18 aus der Kirche ausgetreten. Ich komme aus Hamburg und bin evangelisch aufgewachsen, aber hanseatisch distanziert, mit dem ständigen Hinweis meines Vaters, dass die Kirche im Ganzen im Faschismus keinen Widerstand geleistet habe. Als Jugendliche war ich in der Kirche engagiert, aber ich hatte immer das Gefühl: Die haben etwas, das du nicht hast. Die verstehen etwas, was du nicht verstehst. Mit dem Satz: Ich glaube nicht, dass ich glaube, bin ich ausgetreten. Das verbindet uns, Herr Stromberg, aber dann hat mein Leben offensichtlich eine andere Wende genommen, denn ich bin mit 30 wieder eingetreten. Glaube bezieht sich für mich auf etwas, das uns überschreitet und nicht meiner Macht oder Gestaltungskraft untersteht. Ich finde Glauben so spannend, weil er ganz widersprüchliche Dinge vereinbart. Zum Beispiel: Freiheit und Bindung sind für mich keine Gegensätze. Eine Beziehung, in der ich mich binde, setzt mich frei.

Tom Stromberg: Brauchen Sie den Glauben, um sich an etwas festzuhalten?

Annegrethe Stoltenberg: Ich habe nicht den Eindruck, dass ich etwas gebraucht habe, dafür habe ich eine Therapie gemacht. Eher wurde ich darauf gestoßen. Ich saß in einem Bus in Bangkok, es dauerte endlos, und ich habe mich gefragt: Wieso sitzt du eigentlich hier? Da ließ ich eine Kette von Entscheidungen Revue passieren und dachte: Das ist trotzdem auch gefügt, gelenkt. Noch stärker geht mir das bei Begegnungen mit Menschen. Ich habe beispielsweise im ICE meinen Mann kennen gelernt. Ich gestalte dann zwar die Begegnung, aber dass sie ermöglicht wird, das ist Fügung.

H&K: Herr Stromberg, glauben Sie an so etwas wie Fügung?

Tom Stromberg: Na klar, es gibt unendlich viele solcher Begegnungen, die den Charakter von Fügungen haben, oder auch Entscheidungen, von denen man spürt, dass man sie genau jetzt treffen muss.

H&K: Was ist der Unterschied zum Glauben?

Tom Stromberg: Wenn etwas passiert ist, gibt es nichts, an das ich mich danach halte oder für das ich dankbar wäre.

Annegrethe Stoltenberg: Bundesumweltminister Trittin ist bei seiner Vereidigung gefragt worden, warum er die Formel „So wahr mir Gott helfe!“ nicht benutzt. Da hat er gesagt: „Ich habe niemandem etwas zu verdanken, das hab ich alles selber gemacht.“ Das ist in der Tat ein völlig anderes Weltbild. Wenn mir etwas gelungen ist, klopfe ich nicht nur mir selber auf die Schulter…

Tom Stromberg: Ich ertappe mich dabei, dass ich mehr Fügungen zulasse, je älter ich werde. Aber ich würde das nicht als komplexes Glaubensgebilde bezeichnen und schon gar nicht sagen, dass ich einem Gott dankbar bin. Vielleicht nehm’ ich unser Gespräch zum Anlass, wieder mehr mit meinem Schwiegervater zu sprechen, der ist Propst.

H&K: Unterstellen Sie sich einer höheren Macht?

Tom Stromberg: Ich unterstelle mich grundsätzlich niemandem. Der Halt, den mir meine Familie und meine Freunde geben, steht für mich über allem. Es gibt drei oder vier Menschen, zu denen ich mich so stark hingezogen fühle, dass die mir Kraft geben. An die glaube ich.

Annegrethe Stoltenberg: Ich vertraue meinen Freunden absolut, trotzdem ist das eher im Bereich Freundschaft oder Liebe angesiedelt. Die Frage, in deren Beantwortung wir uns wohl grundsätzlich unterscheiden, ist: Gibt es eine religiöse Dimension des Lebens? Gibt es eine Energie, eine Kraft – oder nicht?

Tom Stromberg: Energie, da kommen wir in den Grenzbereich. Für mich sind Liebe und Freundschaft ein unglaublicher Antrieb im Leben. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber in meinem Leben sind häufig die besten Freunde jene Frauen, von denen ich mich oder die sich von mir getrennt haben. Das ist herrlich: Wenn man das blöde Thema Sexualität einmal hinter sich gelassen hat, kann ich wunderbar mit Frauen befreundet sein. Das ist einer der größten Antriebe: diese Menschen zu kennen, sich um sie zu kümmern und zu wissen, dass man darin immer einen Halt hat. Es gibt sogar Menschen, die ich vergöttere.

Annegrethe Stoltenberg: Vergöttern gibt’s bei mir nicht. Dagegen habe ich eine große Abwehr. Trotzdem ist auch für mich die Liebe das Entscheidende. Es gibt ja diesen berühmten Satz: In den Augen des Liebenden ist jeder Mensch schön. Das ist es! Das gilt für meinen Mann, den ich erst spät kennen gelernt habe. Und das gilt auch für meine ehemaligen Beziehungen. Auch bei denen ist es so: Diese Männer habe ich einmal großartig gefunden.

Liebe und Freundschaft spielen auch bei meiner Arbeit in der Diakonie eine Rolle. Wir haben ja mit viel Kaputtheit zu tun, und wenn ich nicht trotzdem etwas Heiles sehen würde, könnte ich diese Arbeit nicht machen. Und ich finde wie Sie: Liebe ist ein Wahnsinns-Motor. Ohne Eros stirbt man langsam.

H&K: Wie steht es mit dem Prinzip Hoffnung? Ist Hoffnung in der heutigen Zeit ein Zeichen von Naivität oder ist sie lebensnotwendig?

Tom Stromberg: In meinem Sprachgebrauch kommt das Wort Hoffnung nicht vor.

Annegrethe Stoltenberg: In meinem eigentlich auch nicht, aber ich glaube, dass ich ein hoffnungsvoller Mensch bin. Ich hoffe auf das Gute im Menschen und auf das Gute in der Welt, und daran halte ich fest. Insofern ist das natürlich naiv, weil das gegen den Augenschein spricht. Bei vielen Menschen zerbricht genau an dem Erleben des Negativen ihr Glaube. Sie fragen: Wie kann Gott das zulassen?

Tom Stromberg: Was für eine Frage: Wie kann er das zulassen. Das ist doch völlig absurd! Wir scheinen beide Menschen zu sein, die frohgemut ins Leben gehen. Ich freu’ mich auf jeden Tag. Wenn das Hoffnung ist, bin ich auch hoffnungsvoll.

Interview: Birgit Müller

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