Ein lebendiger Ort

Begegnungen auf dem Ohlsdorfer Friedhof

(aus Hinz&Kunzt 124/Juni 2003)

Hein Gas präsentiert die Dart-Reportage: Hamburg hat viele unbekannte Ecken. Mit Häusern voller Geschichte und Menschen mit besonderen Lebensläufen. Um sie zu finden, werfen die Reporter einen Dartpfeil auf den Stadtplan. Die Geschichten erzählen von viel menschlicher Wärme oder dem Mangel daran. Diesmal: die Kriegerehrenallee auf dem Ohlsdorfer Friedhof.

Donnerstag, 11 Uhr: Die Planierwalze rast über die Gräber. Durch die Zweige der Fichte in der Mitte des Gräberfeldes blinzelt die Sonne. Das dröhnende Gefährt brettert über das Gras. In einer Minute pressen seine Tonnen zwei Gräberreihen platt. Nebenan kniet ein Gärtner und jätet in aller Ruhe Unkraut, die Planierwalze ignoriert er.

3418 deutsche Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg liegen an der Kriegerehrenallee auf dem Ohlsdorfer Friedhof begraben. Ihre Grabsteine sollen hier ewig stehen – als Mahnung zum Frieden, wie es im Friedhofsführer heißt. Doch Maulwürfe haben sich den Friedhof als Lebensraum ausgesucht und drohen nun die Grabsteine zu unterwühlen. „Mit der Walze versuchen wir, den Boden so zu verdichten, dass die Tiere nicht mehr darin graben wollen“, sagt Friedhofsgärtner Martin Müller. Vergiftet werden dürfen Maulwürfe glücklicherweise nicht, deshalb gehen an der Kriegerehrenallee nur Greifvögel auf die Maulwurfsjagd – und eben die Planierwalze. Wirklich vertreiben lassen sich die Tiere vom größten Parkfriedhof der Welt nicht.

So beschaulich der Ohlsdorfer Friedhof wirkt, wer genauer hinsieht, entdeckt, dass er alles andere ist als nur ein Ort des Todes. Reinhold Roosen, ebenfalls Gärtner, sagt: „Was die Leute hier alles machen: joggen, Rad fahren, sonnenbaden, Picknick und sogar angeln.“ Einiges davon verbietet die Friedhofsordnung, etwa Fische fangen im See, der einen Steinwurf entfernt von der Kriegerehrenallee liegt. Allerdings sind Maulwürfe und zuweilen auch Menschen blind für die Regeln. Sie machen die Kreuzung Kriegerehrenallee/Mittelallee zum Habitat, Gedenkort, Naherholungsgebiet, Arbeitsplatz, kurz: zu einem Ort des Lebens.

Donnerstag, 13 Uhr: „Ich komme gerade von einer Feier“, sagt Friederun Poppe-Kögler. Die Freude der schwarzhaarigen Frau ist fast greifbar – was mag das für eine Feier gewesen sein? Sie trägt einen schwarzen Hosenanzug, dazu eine aufblasbare Gießkanne in der einen Hand und einen Geigenkoffer in der anderen. „Heute haben wir den ‚Sommer‘ von Vivaldi gespielt.“ Friederun Poppe-Kögler spielt Violine und Bratsche auf Beerdigungen – besser gesagt auf „Feiern“, wie sie es nennt. Sie spielt, was sich die Angehörigen wünschen, meist klassische Stücke von Mozart bis Bruckner. „Das ist toll, da kann ich beinahe jeden Tag Solo spielen“, sagt Poppe-Kögler.

Die 59-Jährige hat offensichtlich ihren Traumjob gefunden. Die ehemalige Geigenlehrerin interpretiert aber auch Popsongs oder Schlager wie Heidi Kabels „In Hamburg sagt man Tschüs“. Früher ist sie bei solchen Spezialwünschen immer ins Musikgeschäft gegangen und hat sich die Noten gekauft. „Heute gucken meine drei Söhne kurz ins Internet – schon hab ich, was ich brauche“, erzählt Poppe-Kögler.

Jetzt, nach ihrem Auftritt, ist sie auf dem Weg zum Grab ihres Mannes. „Er ist vor vier Jahren gestorben.“ Als sie dies sagt, verschwindet das Lächeln aus ihrem Gesicht. Doch es ist fast augenblicklich wieder da, als der Blick der Musikerin auf ihre aufblasbare Gummigießkanne fällt. Zusammengefaltet passt sie locker in ihre Tasche, zwischen die Abschiedsgrüße von Maffay und Mozart.

Sonntag, 14 Uhr: Auf der Mittelallee tobt der Verkehr, Radfahrer flitzen über den Asphalt, die Autos und Motorräder fahren Kolonne. Ein leiser, eintöniger Klangteppich liegt über den Kriegsgräbern. „Als Frau kann man hier eigentlich nicht allein herumlaufen“, sagt Frau Wilfing, als sie auf einer Bank eine Verschnaufpause einlegt. „Da kann einem ja immer was passieren!“ An dem latenten Unsicherheitsgefühl der Rentnerin änderte es auch nichts, dass die Friedhofsgärtner die Rhododendronbüsche gestutzt und Bäume beschnitten haben. Frau Wilfing war nicht die einzige, der es zu düster war auf dem Friedhof.

Ein junges Paar in schweren Lederstiefeln schlendert an den Grabsteinen der Soldaten vorüber. Die roten Strähnen im langen Haar der Frau sind das einzig Farbige an den beiden, sie tragen komplett Schwarz. Hand in Hand lesen sie schweigend die Inschriften der Steine. Obwohl der Kontrast zwischen ihrem blassen Teint und den schwarzen Kleidern auf dem Spiel steht, scheinen sie die Sonne zu genießen. Als das verliebte Paar außer Sicht ist, nimmt Frau Wilfing ihren Mut zusammen und macht sich auf zum Grab ihrer Eltern. Die größte Gefahr, die ihr dabei droht, ist schnell beseitigt: Frau Wilfing setzt sich noch einmal auf die Bank, verschnürt ihr offenes Schuhband und wünscht einen schönen Tag.

Freitag, 17 Uhr: Es nieselt warm. Der Asphalt der Kriegerehrenallee sendet diesen kitzligen Duft in die Nase, den der erste Regen nach einer langen Hitze verursacht. Ein Specht trommelt, die Allee und das Gräberfeld sind fast verwaist. Nur ein Mann mit schlohweißem Haar, vielleicht Mitte 60, schlendert ohne Eile an den grauen Reihen der Grabsteine vorbei, die der Regen noch einen Ton grauer färbt. „Manchmal komme ich am Nachmittag oder in der Dämmerung hierher, um die Atmosphäre zu genießen“, sagt er und rückt seine Brille zurecht. Helmut Schoenfeld, so heißt der Mann, kennt den Friedhof wie die Tasche seiner Jeans. 20 Jahre hat er hier als Gartenarchitekt gearbeitet, die Geschichte des Friedhofs erforscht und nach der Pensionierung ein Buch über seinen ehemaligen Arbeitsplatz geschrieben. Jetzt führt er Besuchergruppen über die Kriegsgräber.

„Gelegentlich werden ganze Busladungen von Bundeswehrsoldaten zum Pflichtbesuch abkommandiert“, sagt er und leckt hastig über seine Lippen. Richtig wohl fühlt er sich nicht, wenn die Kommandanten den Soldaten am Ende der Führungen befehlen, den toten Kämpfern Ehre zu bezeugen. „Den Kriegsopfern hier gebührt doch in erster Linie Mitleid, nicht Ehre“, sagt Schoenfeld. Die Kriegerehrenallee liegt verlassen. Nur der Specht klopft – als wolle er jemandem Schoenfelds Worte einhämmern.

Philipp Jarke und Steffen Kraft

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