Die Erschrecker

Horror live auf dem Dom – Wie das „Psycho-Haus“ Besucher lockt

(aus Hinz&Kunzt 134/April 2004)

Die Tür fliegt auf: Eine imposante Erscheinung. Schwarzer Umhang über schwarzem Anzug, bleiches Gesicht und im Mundwinkel ein dunkelrotes Rinnsal. Graf Dracula grinst und zeigt seine langen Eckzähne. „Die sind neu, hab’ ich mir extra vom Zahnarzt anfertigen lassen. 420 Euro“, sagt Christian Müller und lässt die Kunststoffschiene mit einem schmatzenden Geräusch runterklappen. „Hab’ ich aber noch nicht bezahlt“, fügt er lachend hinzu. Eine Investition mit unternehmerischem Weitblick.

Christian Müller ist der Chef vom „Psycho-Haus“, einer so genannten Abenteuersimulationsanlage, und Christian Müller ist immer gut gelaunt. Einer, der den Spaß liebt, für den der Beruf Berufung ist. Er selbst stammt aus einer Schaustellerfamilie. Von März bis Dezember lebt er mit seiner Frau Mandy, zwei kleinen Töchtern und bis zu fünf Angestellten auf den Festplätzen der Bundesrepublik. Hamburg ist Heimat, mit dem hiesigen Frühjahrsdom geht die Saison los.

Als Dracula steht der 28-Jährige vor dem 20 Jahre alten Fahrgeschäft der Schwiegereltern und lockt Besucher. „Wir wollten das Geschäft aufpeppen“, sagt er. So sind sie auf die Idee mit den Erschreckern gekommen. Keine ausgebildeten Schauspieler. Das wäre viel zu teuer. Sondern Männer, die mitreisen von Festplatz zu Festplatz, die auf- und abbauen, reparieren, putzen – und eben erschrecken. Das alles für 1250 Euro brutto, Unterkunft und Mittagessen frei. Vergangenes Jahr im Herbst haben sie es das erste Mal probiert. Es war der Knaller. Die Besucherzahlen haben sich vervielfacht. Dank der „Live Actors“.

Bereits hinter der Kasse wartet ein bleicher Mönch. Romak Karzimierz, genannt Kasi, empfängt die Besucher in brauner Kutte und mit einem stechenden Blick aus seinen eisblauen Augen. Das ist seine Spezialität, ein Blick, der sich von nichts irritieren lässt. Von sich selbst sagt er, dass er vor nichts Angst habe. Er weiß, dass das nicht normal ist, aber so sei es nun einmal. Der 37-jährige Pole ist schon das siebte Jahr dabei. Dienstältester. In Polen hat er Maurer gelernt und bei einem Wachdienst gearbeitet. Seine Familie, Frau und drei Kinder leben in der Nähe von Stettin. Letztes Jahr hat Kasi die meisten Stoff- und Plastikblumen bekommen. Geschenke von Fans. Frauen. Er hebt die Augenbrauen, der Ansatz eines Lächelns umspielt seinen Mund.

Mit seinem Blick im Nacken erobern die Besucher noch kichernd und scherzend das Geisterhaus: sprechende Puppen, ausgestattet mit primitiven Bewegungsmechanismen, ein paar Luft- und Geräuscheffekte, die nur die Schreckhaften unter den Besuchern zusammenfahren lassen. Alles halb so schlimm. Eher albern als furchterregend. Doch die Sicherheit währt nur kurz. Die Gänge werden schmaler, die Atmosphäre bedrohlicher. Die Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit. Wachsam tasten sie den Boden ab, suchen nach festem Halt. Entfernt heult eine Sirene. Ein Zischen. Ein scharfer Luftzug trifft eine Besucherin am Hals. Sie zuckt zusammen. Reflexartig. Schnell weiter. Der Gang führt zu einer Zelle. Hinter den Stäben ein Stuhl. Darauf sitzt einer. Mensch oder Puppe? Rührt sich nicht. In eine Zwangsjacke geschnürt mit einer ledernen Gesichtsmaske.

Viele kennen ihn. Er ist ein Filmstar: Hannibal Lector, genialer Kannibale. Der Gang führt nah an seiner Zelle vorbei. Die Besucherin hat ihn immer im Auge, und doch entfährt ihr ein spitzer Schrei, als er plötzlich aufspringt. Seine Arme sind frei und rütteln an den Gitterstäben. Ohrenbetäubender Lärm. Sie ist erstarrt. Ihre Beine seien gelähmt gewesen, wird sie später sagen. Hannibal ist mit zwei Schritten bei der Zellentür. Sie schreit. Er reißt die Tür auf und stürzt hinaus. Die Stimme versagt ihr. Augen und Mund weit geöffnet starrt sie ihn an. Dann, endlich lösen sich ihre Beine vom Boden. Sie rennt davon. Hannibal dicht hinter ihr. Fast kann sie seinen Atem spüren. Sie schlägt gegen die Wände, und tatsächlich schwingt eine Tür auf. Im Freien. Sie läuft ein paar Schritte auf einer Veranda. Luft holen. Durchatmen. Die Knie wackeln. Sie dreht sich um. Hannibal ist ihr nicht gefolgt.

Christoph Kopjsc gefällt seine Rolle. Sie ist eine der Attraktionen. Der 21-Jährige mit den kurzen, blonden Haaren und dem verschmitzten Lächeln war auch im vergangenem Jahr schon dabei. Er teilt sich mit Kasi eine Wohnwagenhälfte. Etagenbetten. Kasi schläft unten, Christoph oben. Ein Stuhl, ein Kühlschrank, ein kleiner Tisch, ein Fernseher und ein knapper Quadratmeter freie Fläche. Das ist ihr sehr bescheidenes Heim.

Ursprünglich wollte sein Vater im „Psycho-Haus“ arbeiten. Vor zwei Jahren brachte er seinen Sohn Christoph mit – und der blieb. In Polen hat er in einer Schuhfabrik und auf dem Bau gearbeitet. Er komme aus einem Ort etwa 100 Kilometer von Warschau entfernt, erzählt Christoph und verrät, dass er dort eine Frau und eine kleine Tochter hat.

Reine Improvisation ist die Arbeit der Erschrecker. „Aber ein bisschen Menschenkenntnis muss man schon haben“, sagt Thomas Bätzgen. Für manche sei es zu viel des gut inszenierten Schreckens. Wie für die völlig verschreckte Frau neulich, die er als Killer Jason aus „Freitag der 13.“ zum Notausgang geführt hat. „Das hat dann ja keinen Sinn“, sagt der 33-Jährige mit den sanften, braunen Augen verantwortungsbewusst.

Er arbeitet das erste Mal bei einem Schaustellerbetrieb. Die Arbeitstage sind lang: Von 9 bis 12 Uhr putzen, Kleinigkeiten reparieren, bis 15 Uhr Pause und dann öffnet das Geschäft, unter der Woche bis 22 Uhr, am Wochenende bis Mitternacht. „Mit dem Geld kommt man klar, man hat ja auch nicht viel Zeit es auszugeben“, sagt Bätzgen.

Zehn Jahre war er bei einer Lebensmittelspedition beschäftigt, hat als Vorarbeiter im Lager gearbeitet und auf Messen. Die Arbeit, vor allem das Erschrecken macht ihm allerdings mehr Spaß. „Es ist lustig, wenn die Leute mitmachen.“

Und das tun sie. Nach dem Turm kommen noch die Höhle und der Fahrstuhl. Die Simulationsräume. Dann haben die Besucher es so gut wie geschafft. Nur wenige Meter trennen sie vom Tageslicht. Da kann noch einiges passieren. Draußen trocknet der Angstschweiß, der Herzschlag schaltet von rasend auf galoppierend runter. Geschafft.

„Die Frauen stehen drauf“, sagt Graf Dracula und zuckt mit den Schultern. Er beugt sich zu einem kleinen Mädchen runter, das mit offenem Mund Kaugummi kaut und ihn mit großen Augen anstarrt. „Du hast da ja ein leckeres Kaugummi“, raunt er ihr zu und schwingt seinen Umhang.

Annette Scheld

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