Die Angst vor der Zwangsräumung

Jahrelang erhielt in Spanien nahezu jeder Bürger günstige Kredite, um sich eine Wohnung zu kaufen. Dann kam die Wirtschaftskrise. Nun fürchten viele Menschen, dass sie ihre Wohnung verlieren –
und sie beginnen sich zu wehren. Ein Artikel, der in vielen Straßenmagazinen Europas anlässlich des Weltarmutstages erscheint.

(aus Hinz&Kunzt 236/Oktober 2012)

Bis zu 200 Zwangsräumungen werden täglich in Spanien vollstreckt. Sie sind damit ein Symbol für Spaniens Wirtschaftskrise, die durch den Kollaps der Bauindustrie verursacht wurde und die seit fünf Jahren andauert. Millionen Menschen wurden arbeitslos und konnten ihre Kreditraten nicht mehr zahlen. Aber die von Zwangsräumungen bedrohten Bürger nehmen ihr Schicksal selbst in die Hand: Sie haben eine „Plattform der Hypothekenopfer“ gegründet.

Wer zum ersten Mal zu dem wöchentlichen Treffen kommt, stellt sich den anderen vor, erläutert seine Situation und berichtet, wie nahe er vor der Zwangsräumung steht. Erzählt, wie er seinen Job verloren hat und die Kreditraten nicht mehr zahlen konnte und schließlich die Benachrichtigung vom Gerichtsvollzieher über die bevorstehende Zwangsräumung bekam. Die erfahrenen Mitglieder der Plattform beraten die Neuankömmlinge und bereiten sie darauf vor, dass sie wahrscheinlich ihre Wohnung verlieren werden. Ebenso weisen sie auf psychologische und rechtliche Beratungsangebote hin.

Aber die Plattform hat es im vergangenen halben Jahr geschafft, dass in Dutzenden Fällen die Zwangsräumung aufgeschoben beziehungsweise wenigstens verzögert wurde: Sie protestierten vor den zu räumenden Häusern oder Wohnungen und halfen so den Betroffenen, eine neue Übereinkunft mit ihrer Bank auszuhandeln.

Diese sehr öffentlichkeitswirksame „Stop den Zwangsräumungen“-Kampagne hat den Widerstand gegen die Banken befeuert und die neue Regierung hat prompt Hilfen für Betroffene angekündigt. Viele Mitglieder der Plattform sind Ecuadorianer, die während der zweiten Hälfte der 90er-Jahre und Anfang des neuen Jahrtausends nach Spanien gekommen sind, um in der Bauindustrie zu arbeiten. Sie hatten keine Ahnung, dass zu der Zeit, als sie auf Kredit Wohnungen kauften, die Immobilienblase kurz vor dem Platzen stand: Menschen wie die 28-jährige Ecuadorianerin Patricia Tapia.Sie erzählt, dass sie und ihr Ex-Mann ungefähr 3600 Euro pro Monat verdienten, als sie eine Hypothek von 285.000 Euro aufnahmen. Dann verlor sie ihre Arbeit bei einem Logistikunternehmen, die Aufträge für Gartenarbeiten ihres Ex-Partners verflüchtigten sich. Tapias Einkommen schmolz auf 400 Euro Arbeitslosenunterstützung. Seit vier Jahren hat sie keine Raten mehr zahlen können.

Als der Tag der Zwangsräumung kommt, bringt sie ihre Kinder in eine Kindertagesstätte, wartet dann in der Wohnung auf den Gerichtsvollzieher. Nun filmt ein Kamerateam die gut 100 Protestierenden, die vor ihrem Apartmentblock Parolen gegen die Banken skandieren – beäugt von der Bereitschaftspolizei. Als der Gerichtsvollzieher und ein Bankmitarbeiter schließlich erscheinen, kann Patricia sie mithilfe eines ehrenamtlichen Psychologen überreden, ihr einen Aufschub von 45 Tagen zu gewähren. Sie hofft, dass in dieser Zeit neue Regelungen durch die Regierung beschlossen werden, die ihre finanzielle Situation verbessern.

Patricia Tapias Kreditgeber, die Bank „Bankia“, die mit am stärksten von faulen Immobilienkrediten betroffen ist, brachte sie vor Gericht. Mittlerweile ist die Bank Eigentümerin des Hauses, in dem Patricia Tapia eine Wohnung hat. Allerdings kann die Bank das Haus auf dem derzeitig toten Immobilienmarkt nicht verkaufen, und solange das Haus nicht wieder verkauft ist, muss Tapia die gesamte Hypothek nach wie vor abzahlen. Selbst wenn das Haus demnächst zu einem vermutlich geringen Preis verkauft werden sollte, schuldet Tapia der Bank die Differenz zwischen ursprünglichem und heutigem Kaufpreis. „Das Haus gehört denen, ich hoffe nur, dass mir der Rest der Schuld erlassen wird. Es ist eine ungeheure Belastung. Selbst wenn ich wieder Arbeit finde, wird die Bank einen Teil meines Gehalts pfänden“, sagt Tapia.

Ein Sprecher von Bankia teilte mit, dass das Institut nicht wahllos und unkontrolliert Kredite vergeben habe. Er gestand jedoch ein, dass sie zu bestimmten Zeiten Kredite zu vereinfachten Konditionen vergeben hat, in der Erwartung, der Immobilienboom würde anhalten. Die Zentralbank Spaniens ließ verlauten, dass die Bankenaufsicht keine Notwendigkeit für eine Untersuchung der Kreditvergabepraxis der Banken sieht. Die Zentralbank stellte klar, sie wache lediglich über die Liquidität der Banken.

„Diese Leute hatten keine Ahnung, worauf sie sich eingelassen haben“, sagt dagegen Rafael Mayoral, ein Rechtsanwalt, der Kreditnehmern hilft. Laut Mayoral haben die Banken und Kreditvermittler gezielt Einwanderer aus Ecuador als Kunden umworben. Während des Booms sind die Ecuadorianer mit 400.000 zur drittgrößten Gruppe der Nicht-Spanier im Land geworden, nach den Rumänen und Marokkanern. Damals war es für die mittellosen Einwanderer leichter, ein Haus zu kaufen, als eines zu mieten. Vermieter verlangten meist eine Kaution von sechs oder zwölf Monatsmieten. Banken hingegen vergaben zu dieser Zeit bereitwillig Hypothekenkredite ohne jede Anzahlung.

Viele Ecuadorianer wurden auch deshalb in die Kreditfalle getrieben, da sie den Nachweis von Immobilienbesitz benötigten, damit Familienmitglieder nachkommen konnten. Manche Kreditvermittler haben sogar unter dem Deckmantel einer Hilfsorganisation agiert und gaben so vor, Einwanderern bei der Familienzusammenführung zu helfen. Rechtsanwalt Mayoral, der meist ehrenamtlich arbeitet, hat mehrere Gerichtsverfahren gegen Finanzvermittler und Banken angestrengt. Eines dieser Verfahren endete mit der Verhaftung und der Anklageerhebung gegen einen früheren Kreditvermittler. Ein Amtsrichter untersucht nun, ob dieser Vermittler illegale Bürgschaften arrangiert hat, bei denen zwei Migranten mit niedrigem Einkommen je eine Immobilie erwarben und diese gleichzeitig als zusätzliche Sicherheit für die Hypothek des anderen verpfändet wurde.

„Risikomanagement gab es nicht. Kredite wurden für alles und an jeden vergeben“, sagt auch Jose Antonio Garcia Rubio, Wirtschaftsexperte der Vereinigten Linken. Die Oppositionspartei hat eine Gesetzesinitiative eingebracht mit dem Ziel, die Regeln für Hypothekenkredite zu ändern. Die Banken wären dann verpflichtet, Wohnungen an Arbeitslose, die ihren Kredit nicht mehr bezahlen können, zurückzuvermieten, sodass die Bewohner nicht obdachlos werden. „Es war zu gut, um wahr zu sein. Es war Verführung, Verfolgung, Betrug“, sagt Aminta Buenaño, Ecuadors Botschafterin in Spanien. Sie hat für die geschätzten 15.000 ecuadorianischen Familien, die Probleme mit ihren Banken haben, ein kostenloses Hilfsprogramm für Rechtsberatung initiiert.

Obgleich es keine systematische Untersuchung der Hypothekenvergabepraktiken gegeben hat, hat die öffentliche Aufregung um die Zwangsräumungen dazu geführt, dass Spaniens Mitte-Rechts-Regierung aktiv geworden ist. Finanzminister Luis de Guindos hat vor Kurzem die Banken aufgefordert, Hypotheken für Immobilien im Wert von unter 200.000 Euro zu erlassen, wenn sämtliche Mitglieder der Eigentümerfamilie arbeitslos sind. Die meisten Banken haben diesem Vorschlag zugestimmt. Bankia und weitere große spanische Geldinstitute haben bestätigt, dass sie Kredite von Familien in finanziellen Schwierigkeiten refinanziert haben, wodurch den Betroffenen mehr Zeit für die Rückzahlung bleibt.

Der Verbraucherschutzorganisation ADICAE reicht das nicht: Sie fordert eine tiefer gehende Reform der Gesetze, die das Hypothekengeschäft regeln. Aber Carlos Baños, dessen Verein Opfer von Hypothekenkündigungen bei der Neuverhandlung ihrer Bankkredite unterstützt, meint: Ein neues Gesetz, das es den Menschen erlauben würde, ihre Häuser ohne jegliche finanzielle Einbußen den Banken zurückzugeben, würde eine gefährliche Welle von Kreditausfällen auslösen. Sein Fazit: „Die Banken tragen die Hauptschuld, aber die Hauseigentümer sind ebenso beteiligt. Ich sage meinen Kunden immer wieder: Lernt daraus, verschuldet euch nicht über beide Ohren. Jeder hat Immobilien gekauft, auch Leute, die es niemals hätten machen sollen.“

Text: Fiona Ortiz
Übersetzung: Jan Seyfried, Bearbeitung: Frank Keil
Foto: Juan Medina, Reuters
Erschienen zuerst bei: www.street-papers.org