Dart-Reportage : Der Sound vom Heestweg

Es gibt Gegenden in Hamburg, da sitzen keine jungen Leute entspannt vor ihrem Latte macchiato. Da mähen vielmehr Männer in kurzen Hosen den Rasen, da fahren Linienbusse im Minutentakt, da verstärken Lärmschutzwände den Krach.

(aus Hinz&Kunzt 255/Mai 2014)

Wir glauben, jedes Fleckchen Erde steckt voller Besonderheiten und Geschichten. Dass wir ausgerechnet im Heestweg in Rahlstedt danach suchen, ist Zufall. In der Redaktion habe ich einen Dartpfeil auf einen Stadtplan geworfen und den Heestweg getroffen. Zugegeben, erst beim dritten Mal – der erste Pfeil steckte im Dienstplan, der zweite landete im Heizkörper. Nun sind Fotograf Mauricio Bustamante und ich in Rahlstedt und marschieren los, alle Sinne offen für das, was da kommen mag. Wir haben keinen Termin, keine Hausnummer und kein Klingelschild, nach denen wir suchen. Aber wir sind überzeugt, dass es spannend wird – wenn wir nur genau genug hinsehen, hinhören, riechen, fühlen und schmecken.

Birgit Kalender wohnt seit zehn Jahren im Heestweg in Rahlstedt und weiß, was hier los ist. Trotz der alles beherrschenden Geräuschkulisse findet sie es eigentlich ­ziemlich ruhig hier.
Birgit Kalender wohnt seit zehn Jahren im Heestweg in Rahlstedt und weiß, was hier los ist. Trotz der alles beherrschenden Geräuschkulisse findet sie es eigentlich ­ziemlich ruhig hier.
Der Rahlstedter Heestweg ist Wohnsiedlung, Durchfahrtstraße und Industriegebiet zugleich. Anreise: am besten mit dem Regionalzug. Wenn am Bahnsteig Güterzüge vorbeirasen, hält man sich besser die Ohren zu.  Geradezu zurückhaltend klingt im Vergleich dazu das Klappern hoher Absätze auf dem Asphalt.
Der Rahlstedter Heestweg ist Wohnsiedlung, Durchfahrtstraße und Industriegebiet zugleich. Anreise: am besten mit dem Regionalzug. Wenn am Bahnsteig Güterzüge vorbeirasen, hält man sich besser die Ohren zu. Geradezu zurückhaltend klingt im Vergleich dazu das Klappern hoher Absätze auf dem Asphalt.

Track 1: Bums, kling – auf der Durchreise
Erst einmal sind wir gar nicht sicher, ob wir richtig sind, denn an der Ecke zur Straße, die der Heestweg sein soll, fehlt ein Straßenschild. Da wuchtet gerade eine Frau ihr Fahrrad die Bordsteinkante hoch. Ich höre, wie der Vorderreifen an die Kante stößt und beim Aufprall auf den Bordstein die Fahrradklingel leise „kling“ macht. Ja, das sei der Heestweg, sagt die Frau, sie selbst aber nur auf der Durchfahrt. Wo will sie hin? Zum ersten Eisbecher des Jahres im Eiscafé! Oh, das erste Eis des Jahres. Es gibt wenig Verheißungsvolleres, als zum ersten Mal die Ärmel hochzukrempeln, die noch nicht sehr kräftigen, aber wärmenden Sonnenstrahlen auf den nackten Unterarmen und im Nacken zu spüren und kühle Eiscreme zu löffeln. Kühne tragen dazu schon Sonnenbrille. Profis reisen mit dem Fahrrad an. Genießen Sie es, Durchreisende!

Track 2: Roaaaaaaar – der Duft des Sommers
Ein paar Häuser weiter rieche ich noch, bevor ich höre: den ultimativen olfaktorisch-akustischen Mix des Sommers. Rasenmähen. Ein Mann in kurzen Hosen schiebt den Mäher über den Rasen vor einem schlichten frei stehenden Haus. Reihe für Reihe, vor und zurück. Der Mäher röhrt, der Mann schaut konzentriert, und der Duft von frisch abgesäbeltem Gras kündigt den Sommer an: laue Abende, an denen die Sonne scheinbar nie untergeht, und draußen spielen die Kinder, bis sie dann doch am Horizont verschwindet.

Track 3: Rumpel-Polter-Zack – Anlieferungen aller Art
In Hamburg wie in jeder Stadt gibt es: Wohnsiedlungen, Industriegebiete, Durchfahrtstraßen, Freiflächen und sicherlich noch ein paar weitere Arten, Grundstücke zu nutzen. Der Heestweg ist das alles auf einmal. Dort der Rasenmähermann – Idylle wie in einer Reihenhaussiedlung. Zwei Einfahrten weiter: ein schmucker Neubau, frei stehend, mit viel Glas und Stahl. An der Ecke gegenüber der Tankstelle: um einen großzügigen grünen Innenhof Mehrfamilienhäuser, wie ein Miniplattenbau. Und auf der gegenüberliegenden Straßenseite: eine Art kleines Industriegebiet. Zur Straße hin buhlen die Werbeschilder vom Tanzstudio Dance Space und „Yoga in Rahlstedt“ um Aufmerksamkeit. Folgt man der Einfahrt, gelangt man auf ein Werkstattgelände. Hier wird geackert. Jemand schweißt. Es zischt. Lieferwagentüren knallen, Motoren starten. Ähnlich nebenan beim Abholterminal des Sanitätshauses Peter Jensen. Hier fahren Lieferanten, Kunden, Boten und Mitarbeiter groß auf. Es gibt nicht einen Augenblick, in dem nicht ein Kleinbus oder Pkw in eine der Einfahrten hinein- oder aus ihr wieder herausfährt. „Heute Abend“, verrät eine Passantin, „ist hier erst richtig was los.“ Zur Yogastunde um 18 Uhr und um 19.45 Uhr kommen sie von nah und fern, und alle mit dem Auto.

Track 4: Mhhhhhhh – die Ruhe nach der Pleite
Mittendrin im Heestweg: ein paar verkehrsberuhigte Quadratmeter, mit einem Bauzaun abgeriegelt. Die brachliegende Fläche dahinter ist von gelbem Gras eher zurückhaltend in Besitz genommen. Genau von oberhalb dieser Fläche prallen die Strahlen der Sonne auf den Heestweg. Der Wind streicht durch die Halme des Grases, das Rauschen hören wir immer nur für Sekundenbruchteile – kurz nachdem das letzte Auto vorbeigekommen ist und sich das nächste nähert. Dem Vernehmen nach gehörte dieses Stück Land zum mittlerweile pleitegegangenen Baumarkt Max Bahr. Ob der, der das zurzeit leer stehende Gebäude auf der anderen Seite des Geländes übernimmt (Hagebau oder Bauhaus, je nachdem, wen man fragt), auch diese Fläche nutzen will? Auf jeden Fall gehen die großen nationalen wirtschaftlichen Ereignisse am Heestweg nicht spurlos vorbei. Weil Max Bahr hier ein Lager einrichten wollte, soll der Besitzer und Bewohner des nahe gelegenen Eckhauses aus Angst vor weiterem Lieferverkehr Hab und Gut verkauft haben und weggezogen sein.

Track 5: Zisch-brumm-brumm – eigentlich ganz ruhig hier I
Birgit Kalender läuft uns geradewegs in die Arme. Sie macht ein freundliches Gesicht und weiß bestimmt, was hier los ist. Wir fragen sie einfach. Unsere Zufalls-Dart-Geschichten-Suche findet sie lustig. Vielleicht lacht sie uns auch ein wenig aus. Denn sie meint: „Es ist eigentlich ganz ruhig hier.“ Wir wollen ihre Kompetenz nicht in Frage stellen, denn sie wohnt seit zehn Jahren im Heestweg, aber: Wir finden es alles andere als ruhig hier. „Na ja“, räumt sie ein. „Bis auf die Busse.“ Die sind uns auch schon aufgefallen. Ein HVV-Bus nach dem anderen poltert durch den Heestweg. Von der Tankstelle her sieht man sie kommen, sie passieren den Rasenmähermann und Jensens Sanitätshaus, schwanken meist leicht bei ihren Bemühungen, keins der vielen parkenden Autos zu touchieren und bremsen zischend an der Straßenecke ohne Straßenschild, bevor sie nach links Richtung Rahlstedter Bahnhof abbiegen. Manchmal sind es zwei Busse direkt hintereinander, sie fahren hier im Wenige-Minuten-Takt durch und tragen nicht unerheblich zum Heestweg-Sound bei. „Ich weiß nicht, wie viele Linien es sind“, sagt Birgit Kalender. „Aber es sind viele.“ Dann kriegt sie es doch zusammen, zählt an den Fingern ab: der Daumen für den 168er, der Zeigefinger für den 368er, der Mittelfinger für den 24er (der kommt besonders oft), der Ringfinger für den 275er. Das Gemeine: Keine der Linien hält im Heestweg. Vom ganzen Verkehr haben die Heestweg-Bewohner also noch nicht mal eine besonders gute Anbindung. Aber manchmal, verrät Birgit Kalender, und sie flüstert es uns zu, „manchmal abends halten die Fahrer hier einfach irgendwo und lassen einen aussteigen“.

Track 6: Ratter-ratter-ratter-zonk – eigentlich ganz ruhig hier II
Nee, aber sonst, sagt Birgit Kalender, sei es eigentlich ganz ruhig hier im Heestweg. „Na ja“, fällt ihr dann doch noch ein. „Bis auf die R-Bahn.“ Die kennen wir. Zum einen sind wir selbst mit dem Regionalzug hergefahren. Und die Schienen führen nicht nur am Heestweg vorbei, sie teilen ihn sogar. „Es ist ja nicht nur die R-Bahn“, sagt Birgit Kalender. „Es ist ja auch die Deutsche Bahn, mit Güterzügen sogar.“ Und die sind schnell und rattern wirklich laut. Was das Ganze auf dieser Seite des Heestweges noch schlimmer macht: Ein Lärmschutzwall wurde nur zur anderen Seite hin angebracht. Der wirft das Rattern des Schienenverkehrs mit mehrfacher Stärke hierher zurück. Eigentlich ein unhaltbarer Zustand. Birgit Kalender meint, es gab mal ein Anwohnerengagement. Mit irgendeinem Vertreter irgendeiner Partei oder von der Deutschen Bahn, so genau weiß sie das nicht mehr, haben sie sich getroffen und darüber gesprochen, dass das anständig isoliert werden müsste. Passiert ist nichts. Unsere Suche nach Aktivisten im Heestweg endet ergebnislos. Spätere Recherchen ergeben, dass es einen „Lärmschutz-Rahlstedt e.V.“ gibt, der sich für die Errichtung von Lärmschutzwällen einsetzt und die Planungen einer S-Bahn-Linie 4, sagen wir, kritisch begleitet.

Track 7: Rätätätätä und „Heil“ – Kopfkino
Wir beide wollen uns über die Brücke für Autos und die wenigen Fußgänger hier auf die andere Seite der Bahnschienen zur anderen Häfte des Heestweges aufmachen. Weit kommen wir nicht. An der Straßenecke ohne Straßenschild hält uns eine echte Attraktion auf: ein pompöses schwarzes Trumm von einem Fahrzeug. Ich bin gebannt, ich habe so etwas noch nie gesehen – und es gruselt mich ein wenig. Eine Weile stehen wir da und schauen dem jungen Mann zu, der die Seitenfenster dieses Ungeheuers von einem Auto poliert. Ein Leichenwagen? Das ausladende Hinterteil weist daraufhin. In meinem Kopf klingen leise Marschmusik und „Heil“-Rufe. Trotz Sonnenschein läuft es mir kalt den Rücken runter. Was macht der Mann da? Bereitwillig gibt er Auskunft: Er bringt den Wagen auf Hochglanz, er soll verkauft werden. Was ist das für ein Wagen? Den typischen Stern, der zu Fabrikaten von Mercedes Benz gehört, hab ich schon entdeckt. „Ein G4“, sagt der Mann. Aha. „Aus dem Zweiten Weltkrieg.“ Ahaaaaaaaaa. „Da gibt’s nur fünf Stück von“, mischt sich ein Mann im roten Blaumann ein. Ich frage: „Fünf Stück auf der ganzen Welt?“ Mann im roten Blaumann: „Auf der ganzen Welt!“ „Woooooooow! Mauricio, hast du gehört, da gibt’s nur fünf Stück von auf der ganzen Welt.“ Die Männer schmunzeln über meine Begeisterung. „Hitler ist mit so einem rumgefahren“, sagt der Mann im roten Blaumann. Ich flippe vollends aus. Vor Aufregung, so ein Stück Geschichte von ganz nah zu sehen. Und irgendwie auch vor Abscheu. Dieses Wehrmachtsungetüm, es zieht mich gleichermaßen an und stößt mich ab. Als hätte es Schuld auf sich geladen. Was Quatsch ist, zudem dieses Modell so aufwendig runderneuert worden ist, dass es viel mehr einem Neuwagen gleicht als einem Museumsstück.
P.S.: Im Internet ist zu lesen, dass es noch mindestens sechs G4 weltweit gibt. Einer steht im Automuseum Sinsheim, einer gehört zur Autosammlung des spanischen Königshauses.

Track 8: Summ-summ-„Nochmaaaaaal“ – wo die Kleinen verkehren
Jetzt aber mal weiter, rüber über die Brücke und geradewegs zur nächsten Attraktion: Jumicar, dem Verkehrsübungsplatz für Kinder. Da sind die Heestweg-Bewohner schon ein
bisschen stolz drauf, da kam bisher jeder von ihnen drauf zu sprechen. Die Jumicars sind kleine Elektroautos in allen Farben des Regenbogens. Drei von ihnen sind gerade im Einsatz. Die Kinder tuckern hoch konzentriert über das Gelände, das – da bin ich mir ziemlich sicher – die höchste Verkehrsschilddichte der Stadt aufweist. „Vorfahrt beachten“ folgt auf „Achtung, Kreisverkehr“ folgt auf „Tempolimit-Warnung“ folgt auf „Parkverbot-Zone“.

Keine Chance, die Kinder zu interviewen, die müssen Verkehr üben. Aber Oma und Opa sind ansprechbar. Alfred und Heidi Endlich sind mit ihren Enkeln hier. Immer wenn Caroline und Konrad aus Fredenbek in Schleswig-Holstein zu Besuch sind, führt der Weg zu Jumicar. Geduldig harren Oma und Opa Endlich auf Klappbänken aus. Alle paar Minuten, wenn die Jumicars stoppen, reichen sie ein neues Ticket über den Zaun. „Wollt ihr noch mal?“ – „Jaaaaaaa!“

Sonst gibt’s ja hier nicht so viel für Kinder. Wobei, Oma und Opa Endlich stellen da schon immer ein ordentliches Programm zusammen, das kommt so nach und nach heraus. Die beiden sind keine Schnacker. Einträchtig sitzen sie da, verstehen sich ohne viele Worte. Kennen sich ja auch schon ewig. Als Kinder haben sie einander gegenüber in Wandsbek-Gartenstadt gewohnt, die Grundschule am Graudenzer Weg besucht und dort gegenüber nach dem Krieg Spalier gestanden für den Schah von Persien und seine liebreizende Frau Farah. Aber das ist eine ganz andere Geschichte. Jedenfalls, heute Abend wollen sie sich alle vier aufs Sofa kuscheln und fernsehen. „Zu Hause haben die Kinder ja gar keinen Fernseher.“ Was sie auch gerne machen: rausfahren zum Inlinern ins Naturschutzgebiet Höltigbaum. Das wird wohl diesmal nichts, Caroline ist aus ihren rausgewachsen. „Da laufen diese Rinder frei herum, diese … na … diese zotteligen“, sagt Oma Heidi Endlich. Ich weiß genau, was sie meint. Aber ich komm auch nicht drauf. Diese Rinder, die haben wir von Hinz&Kunzt mal für eines unserer Koch-Sonderhefte besucht – und auch probiert. Köstliche Wurstwaren ergeben die. Davon sag ich jetzt aber nichts. Ich will die Konzentration nicht stören. Zu dritt sitzen wir nebeneinander auf Klappbänken, tun so, als würden wir den Kindern bei ihren Verkehrsübungen zusehen und zermartern uns die Köpfe. Ich meine, es rattern zu hören. „Siehste“, sagt Opa Endlich zu seiner Heidi, „mit dem Alter hat das nichts zu tun.“ Und dann fällt’s uns doch noch ein: Galloways heißen die! Wir sind alle erleichtert.

Ich glaube, es ist alles gesagt. Ich hab so viel gehört. Brummen, Rattern, Stottern, Rumpeln, Puffen, Pfeifen, Quietschen. Das ist der Sound vom Heestweg. Mancher mag es Kakofonie nennen. Für uns sind es die Ouvertüren zu den Geschichten, die diesen Ort besonders machen. Wir brechen auf. Zurück zur Brücke, dem Verkehrsfluss folgend, bis zur Straßenecke ohne Straßenschild. Das Weltkriegsauto ist längst weg. Ein letzter Blick, ein letztes Lauschen. Kurz warten, der 168er will hier abbiegen. Am Rahlstedter Bahnhof auf dem Bahnsteig rauscht ein Güterzug an uns vorbei. Ohrenbetäubend laut ist das. Abfahrt Richtung Hamburg Hauptbahnhof – mit dem Sound vom Heestweg im Ohr.

Text: Beatrice Blank
Fotos: Mauricio Bustamante