Hinz&Künztler : Pommes-Duft und Stammkundschaft

In der aktuellen Hinz&Kunzt-Ausgabe kommen unsere Verkäufer zu Wort. Marian hat aufgeschrieben, was er an einem typischen Tag an seinem Stammplatz erlebt, von durstigen Matrosen bis eingerosteten Lateinkenntnissen – und was ihm dabei durch den Kopf geht.

(aus Hinz&Kunzt 222/August 2011)

Die Sonne dringt durch mein Fenster. Nachdem ich mich ein paar Mal im Bett herumgedreht habe, kommt mir eine glänzende Idee – ein guter, sonniger Verkaufstag ist angesagt! An regnerischen Tagen ist die Kundschaft oft rar und die Zeitschriften werden nass. Ein kurzer Blick in meine rote Verkaufstasche und eine kurze Kalkulation – ich muss heute einige Exemplare dazukaufen. Die Zeitschriften müssen wir nämlich immer für 90 Cent selbst kaufen – beim Verkauf habe ich dann pro Heft einen Euro Verdienst. Deswegen darf ich nicht zu wenige, aber auch nicht zu viele haben, sonst sitze ich am Monatsende auf Kosten von nicht verkaufter Ware.

Ein Spaziergang zur U-Bahn-Sta­tion, dort betrachte ich die Aushänge zu Änderungen im Fahrplan. Das kann schließlich von Bedeutung für mich und die Kundschaft sein. Ich nehme Platz in der Bahn und lese am Info-Monitor „Ihre Meingung ist gefragt“. Meine Meinung dazu ist: Fehlerfrei schreiben! Texte in den Medien, aktuelle Nachrichten und Kommentare müssen absolut klar sein und sauber geschrieben werden. Und Ansagen klar und deutlich aussprechen, notfalls vom Zettel. Manchmal hört man nur Gebrüll und Stottern aus den Lautsprechern, was die Fahrgäste (nicht vergessen: Jedes Jahr kommen vier Million Touristen nach Hamburg, davon eine Million aus dem Ausland!) nur verunsichert.

„Du dickes Schwein“, ertönt es plötzlich. Alle sehen sich um. Wer ist das? Meint er mich? Aber es war nur ein lautes Handy-Gespräch. Man sollte diese lauten und lästigen Gespräche in Verkehrsmitteln unterbinden. Ich steige an der Steinstraße aus, in fünf Minuten bin ich im Vertrieb von Hinz&Kunzt, im Hof schräg gegenüber der St.-Jacobi-Kirche. Mein Blick richtet sich auf die grüne Holztafel, an die immer die Namen von verstorbenen Verkäufern gehängt werden. Heute hängt da ein neues Foto mit einer Verkäufernummer. Wer ist schon wieder gegangen, ohne Abschied? Den habe ich doch noch vor Kurzem gesehen! Und jetzt ist er wirklich gestorben.

Eine starke Stimme holt mich aus meiner Melancholie: „Willst du Zeitungen verkaufen oder wat?“ Sigi sorgt hier für Ordnung und verteilt Hefte und Plätze. Jeder Verkäufer hat einen Ausweis und einen eingetragenen Verkaufsplatz, Unstimmigkeiten werden gleich geklärt. Ich kaufe Zeitungen und gehe auf meinen Platz in der Innenstadt. Wie jeder Verkäufer beseitige ich erst einmal den Straßenmüll und nehme dann meine Stellung ein, die Hefte im Arm.

Eine Gruppe Männer zieht ratlos herum. Ich aktiviere mein gebrochenes Englisch und zeige ihnen den Weg nach St. Pauli. In Windeseile verschwinden die Männer, einer drückt mir eine Münze in die Hand. Sie sind Matrosen und haben nur beschränkten Ausgang, und es juckt ihnen offenbar in der Kehle. Es duftet so herrlich vom nahen
Restaurant, eine Frau liest meine Gedanken und bringt mir eine Tüte frischer Pommes frites. Ich kann der Versuchung nicht widerstehen, obwohl ich die nicht essen sollte. Ich bin von chronischen Krankheiten geplagt, muss ständig meinen Zucker kontrollieren. Lange habe ich meine Gesundheit vernachlässigt. Eine Familie gestikuliert wild, ich spreche sie an. Italiener! Mein Latein ist schwach (der größte Abwasserkanal von Rom, das weiß ich, hieß Cloaca Maxima), aber ich hole meinen Stadtplan hervor, mit Zeichensprache zeige ich ihnen den Weg zum Rathaus.

Die Stammkundschaft begrüßt mich herzlich, sie warten treu auf mich. „Ich kann doch nicht fremdgehen“, sagte eine Kundin mir neulich. Den umgekehrten Fall gibt es allerdings auch: Manche haben einen anderen Stammverkäufer und kaufen nur bei ihm. „Mrowka“, die Ameise – so habe ich ihn getauft – sammelt fleißig Pfand­flaschen. Ich unterhalte mich mit ihm zur Übung auf Russisch, das kann hilfreich sein. Russisch ist zum Englisch des Ostens geworden, sogar viele Afghanen sprechen es fließend. Das kyrillische Alphabet unterscheidet sich sehr vom deutschen, deswegen haben viele Russen in Deutschland Probleme mit dem Lesen. Papiere und Flugtickets entziffere ich gerne gegen ein kleines Trinkgeld.

Manche Passanten blicken unentschlossen auf die Titelseite. „Hinz&Kunzt – eine normale Zeitung für normale Leute“, empfehle ich. Und zerstreue die letzten Zweifel: „Kulturkalender, wahre Geschichten, keine aggressive Werbung und keine Propaganda.“ Oft sage ich: „Vorsichtig, die Zeitung macht süchtig! Wer einmal kauft, kauft immer.“ Und tatsächlich, sogar alte Exemplare werden nachgefragt. Der Umsatz ist immer verschieden. Manchmal – viel zu selten – stehen die Leute bei mir Schlange. Manchmal passiert auch stundenlang gar nichts.

Der Tag geht zu Ende, es sind weniger Leute unterwegs. Ich packe meine Sachen. Der Verdienst ist nicht groß, aber ich bekomme ihn sofort. Er reicht für den Einkauf und für neue Hefte. Als ich zur U-Bahn gehe, denke ich: Wenn ich in diesem Leben noch zu Geld kommen sollte, dann stecke ich ab und zu
einem Hinz&Kunzt-Verkäufer eine Münze zu.

Marian, 59 Jahre alt, stammt aus Polen und ist – mit einigen Jahren Unterbrechung – Hinz&Kunzt-VerKäufer seit November 1999.
Foto: Daniel Cramer