Blödes Orchester

Vor den Deichtorhallen proben alte Haushaltsgeräte für ein Konzert

(aus Hinz&Kunzt 208/Juni 2010)

Meldungen: Politik und Soziales

(aus Hinz&Kunzt 208/Juni 2010)

Gegen Sanktionen für Hartz-IV-Empfänger
Arbeitsvermittler sprechen sich für eine Lockerung der strengen Sanktionen für Hartz-IV-Empfänger unter 25 Jahren aus. Sie befürchten, dass Jugendliche dadurch in die Verschuldung gedrängt oder kriminell werden. Zudem werde eine Integration in den Arbeitsmarkt erschwert. Dies hat eine Studie des
Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit ergeben. Das Gesetz sieht vor, bei Verweigerung einer zumutbaren Tätigkeit oder eines Ein-Euro-Jobs die Unterstützung für drei Monate zu streichen. Damit bliebe nicht einmal das Existenzminimum. Die Betroffenen könnten Lebensmittelgutscheine beantragen, hätten aber keinen Anspruch darauf. Bei einem erneuten Verstoß würden Wohn- und Heizkosten nicht mehr erstattet. Die Bundesanstalt für Arbeit will trotz der Kritik an den Sanktionen festhalten. LEU

Schufa-Auskunft künftig kostenlos
Seit April können Bürger einmal jährlich bei Auskunfteien wie der Schufa kostenlos die Einschätzung ihrer Kreditwürdigkeit überprüfen und gegebenenfalls korrigieren. Wie wichtig diese Selbstauskunft ist, zeigt eine Studie von 2009: Fast 45 Prozent der gespeicherten Daten waren nicht vollständig oder fehlerhaft. LEU

Mindestlohn für Pflegekräfte gefährdet
Der neue Mindestlohn in der Pflege kann möglicherweise erst ab 1. August in Kraft treten. Das teilte das Arbeitsministerium auf Nachfrage mit. Verantwortlich für die mögliche Verzögerung ist Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP). Er hatte eine Befristung der Regelung, die ursprünglich zum 1. Juli wirksam werde sollte, bis 2011 gefordert. Der nun ausgehandelte Kompromiss sieht eine Laufzeit bis Ende 2014 vor. Die Pflegekommission hat eine Lohnuntergrenze für Hilfskräfte von 8,50 Euro die Stunde in West- und 7,50 Euro in Ostdeutschland ausgehandelt. Anfang 2012 und Mitte 2013 soll der Lohn um jeweils 25 Cent steigen und dann bei 9 beziehungsweise 8 Euro stabil bleiben. In der Pflegebranche arbeiten 800.000 Beschäftigte, 2,25 Millionen Menschen sind auf ihre Hilfe angewiesen. LEU/UJO

Schutz für Schuldner verbessert
Wer Schulden hat, kann sich vom 1. Juli an ein „Pfändungsschutz-Konto“ einrichten lassen und seine Einkünfte so vor Zugriffen von Gläubigern schützen. Das sogenannte P-Konto sei „ein großer Schritt in die richtige Richtung“, so Matthias Brömmel von der Landesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung Hamburg. Bislang bekommen Betroffene immer wieder Probleme, weil Gläubiger ihnen Geld wegpfänden, obwohl sie dieses zum Leben brauchen. Das neue Gesetz, das noch von der Großen Koalition auf den Weg gebracht wurde, ermöglicht das P-Konto aber nur Menschen, die bereits ein Girokonto bei einer Bank haben. Die Hamburger Sparkasse erklärte entsprechend auf Nachfrage von Hinz&Kunzt: „Diese Regelung betrifft bestehende Girokonten.“
Vor allem Menschen mit Schulden haben oft Probleme, ein Girokonto bei einer Bank zu eröffnen. Die Ablehnung erfolgt meist aus vorgeschobenen Gründen, da die Geldinstitute sich in einer Erklärung dazu verpflichtet haben, jedem ein Konto einzurichten, der es wünscht. Schuldnerberater fordern deshalb weiterhin, das Recht auf ein Girokonto gesetzlich festzuschreiben. UJO
Mehr Infos unter www.lag-sb-hh.de/p-konto

Niederlage für Fluggastkontrolleur
Rund 6200 der 7000 Sicherheitskontrolleure an deutschen Flughäfen arbeiten für private Sicherheitsfirmen, werden aber deutlich schlechter bezahlt als ihre Kollegen im öffentlichen Dienst. Das Arbeitsgericht Bremen hat mit Urteil vom 27. April die Musterklage eines Fluggastkontrolleurs abgewiesen, der die gleiche Bezahlung fordert. Der Klägervertreter kündigte Berufung an. LEU

Urteil gegen Lohndumping
Ein Stundenlohn von sechs Euro brutto für eine Fachverkäuferin im Einzelhandel ist sittenwidrig, wenn sie den Laden faktisch allein führt, entschied das Arbeitsgericht Leipzig (Az: 2 Ca 2788-709). Es gab der Klägerin Recht, die auf 8,50 Euro pro Stunde geklagt hatte. Das entspricht zwei Dritteln des Tariflohns in Sachsen von 12,34 Euro. LEU

Gemeinsam sind sie stark!

Wie die Bürger von Nörten-Hardenberg ihr Schwimmbad gerettet haben

(aus Hinz&Kunzt 208/Juni 2010)

Das Schwimmbad macht Miese. Die Gemeinde hat kein Geld. Ein Investor ist nicht in Sicht.  Normalerweise bedeutet das: Das Bad wird geschlossen. In Nörten-Hardenberg haben sie eine  andere Lösung gefunden. Da haben die Bürger sich zusammengetan nach dem Motto:  Alle packen an. Ihre Genossenschaft ist heute Vorbild für Gemeinderäte in der ganzen Republik.

Irgendwann sind sie runter an die Theke gegangen. Haben dort weiterdiskutiert über die scheinbar verrückte Idee, eine Genossenschaft zu gründen. Genossenschaft! Das klingt nach: Sozialismus. Kommunismus. Spinnereien. „Die haben mich ausgelacht!“, sagt Frank Priebe und schmunzelt angesichts der Erinnerung an jenen Abend im Ratskeller von Nörten-Hardenberg. Doch der Bürgermeister der 8343-Seelen-Gemeinde ist hartnäckig geblieben. Und hat den Unternehmern des Ortes – dem Schnapsfabrikanten, dem Autohändler, dem Banker – eine folgenschwere Zusage abgerungen: „Wir prüfen mal, ob es sich rechnet.“ Ein paar Monate danach, im September 2005, haben sie gemeinsam die erste Hallenbad-Genossenschaft Deutschlands gegründet.

_MG_9007Viereinhalb Jahre später hat sich der kommunale Verlustbetrieb in ein Vorzeigeprojekt verwandelt. Ortsvorsteher und engagierte Bürger aus dem ganzen Bundesgebiet reisen in die zehn Kilometer nördlich von Göttingen gelegene Gemeinde, um das Geheimnis des Erfolgs vor Ort zu erkunden. Für sie führt kein Weg vorbei an Frank Priebe. Der charismatische 54-Jährige ohne Parteibuch lenkt nicht nur seit 20 Jahren die Geschicke der Gemeinde. Er ist auch der Vorstandsvorsitzende der Genossenschaft, der einmal im Monat am Wochenende die Lohnabrechnungen der Schwimmbad-Beschäftigten erstellt und sagt: „Man muss bereit sein, viel Zeit und eigene Gedanken zu investieren.“
Im Frühjahr 2002 deutet nichts auf eine Erfolgsstory hin. Die Gemeinde ist klamm, der Rat ist es leid, immer wieder aufs Neue Geld ins Schwimmbad zu pumpen. Die Schließung droht. Da schlägt die Stunde von Theresia Asselmeyer und ihren Mitstreitern. Schon die beiden Söhne der 57-Jährigen haben in dem schmucklosen 70er-Jahre-Bau das Schwimmen gelernt, und die Universitätsangestellte will, dass andere Kinder es ihnen nachtun können. Sie verfasst Flugblätter und ruft mit Gleichgesinnten gleich fünf Arbeitskreise ins Leben, die Antworten auf entscheidende Fragen finden sollen: Wer nutzt Schwimmbad und Sauna? In welchem Zustand ist das Gebäude? Und wie kann es sich rechnen, das Bad zu betreiben?

Heute ist das jährliche Defizit von 250.000 Euro auf 75.000 Euro gesunken – eine Summe, die die Gemeinde stemmen kann. Es sind die Bürger, die das Schwimmbad zu dem gemacht haben, was es heute ist: ein Gemeinschaftswerk, das den Nörten-Hardenbergern noch viele Jahre Freude bereiten wird. 300 Menschen haben Geld in die Genossenschaft gesteckt, 150 stehen als Mitglieder des Fördervereins bereit für den jährlichen Großputz und die Öffentlichkeitsarbeit, sammeln Geld für eine neue Saunatür oder Kinderspielzeug für den Zeitvertreib der kleinen Badbesucher. Die Zahl der Badegäste hat sich mehr als verdoppelt, vor allem die gute Auslastung durch Schulen und Vereine macht es möglich, dass Schwimmen gerade mal 3,50 Euro kostet, Kinder zahlen 3 Euro.

Seit einem Jahr versorgt ein Blockheizkraftwerk das Bad mit Wärme und Strom. Es ist eine Investition, die sich schnell rechnet: Den 50.000 Euro für den Bau stehen 15.000 Euro weniger Energiekosten pro Jahr gegenüber. Auch das Chlor kauft die Genossenschaft billiger ein als früher die Gemeinde. Doch scheint nun, was das Sparen angeht, das Ende der Fahnenstange erreicht. „Mit einem Freizeittempel können Sie schwarze Zahlen schreiben – aber nicht mit einem Schwimmbad“, sagt Bürgermeister Priebe.

Am Rand des Schwimmbeckens steht Markus Rittmeyer, der wohl einzige Bademeister Deutschlands, der auch Geschäftsführer ist. Der 38-Jährige war „ein bisschen erschrocken“, als er von der Idee der Schwimmbad-Genossenschaft hörte. Er fürchtete um seinen Arbeitsplatz. Heute ist der gelernte Schwimmmeister „sehr glücklich“. Die Veränderung beschreibt er so: „Die Verantwortung ist immens gestiegen. Ich verdiene nicht nennenswert mehr. Und der Job macht Spaß!“

Text: Ulrich Jonas
Foto: Hannah Schuh

Frisch vom Kutter

(aus Hinz&Kunzt 208/Juni 2010)

Wer auf dem Hamburger Fischmarkt noch richtige Elbfischer sehen will, der ist am Ponton unterhalb der Fischauktionshalle richtig. Abseits vom Touristenrummel stehen sie hier und verkaufen Rotzunge und Hering, Scholle und Dorsch. Alles fangfrisch, direkt aus der Elbe und der Nordsee. „Hier zu stehen hat Tradition“, sagen die Männer stolz.

Wie in Zuckerwatte gehüllt steigt die Sonne vor einem zartrosa Himmel über die Dächer. Ein klarer Frühlingssonntag halb sechs Uhr früh auf dem Hamburger Fischmarkt, perfekt wie auf einer Postkarte. Auf der Elbe lautes Tuten, die Frühaufsteher unter den Touristen zoomen begeistert ein Kreuzfahrtschiff heran, es riecht nach frischem Kaffee und schalem Bier. „Das ist Wahnsinn, warum schickst du mich in die Hölle?“ fragt der Sänger in der Fischauktionshalle. „Hölle, Hölle“, brüllt das Durchfeiervolk, die Ersten tanzen auf den Tischen.

Wenige Meter entfernt sind Trubel und Party weit weg. Am Anleger unterhalb der Halle schaukelt sanft ein rot-weisser Kutter im Wasser, darüber kreisen kreischende Möwen. Fischer Jens Stoef, in blauem Kapuzenpulli und orange-gelber Gummilatzhose, schiebt eine letzte Plastikkiste auf den langen Holztisch, damit ist die Verkaufstheke an Bord seiner „Elvstint“ komplett. „Moin moin, Jens“, ruft ein Mann vom Steg runter. „Haste schon Krabben?“ – „Nee, nächste Woche vielleicht“, antwortet Stoef und stapelt Kistendeckel aufeinander. „Is alles büschen spät dies Jahr.“


In den grünen, blauen und gelben Boxen voller Eis liegen Rotzungen, Dorsche, Steinbutt, Heringe, Forellen und Schollen. Gefangen und frisch geschlachtet während der vergangenen 48 Stunden, aus der Nordsee, aus der Elbe, aus Stoefs eigener Zucht. In Winsen an der Luhe führt der 29-Jährige mit seiner Familie einen Fischereibetrieb. Was die Fischer aus dem Meer und aus dem Fluss holen, verkaufen sie frisch und geräuchert direkt ab Hof oder bewirten damit Gäste im hofeigenen Restaurant. „Ein Familienunternehmen, wir arbeiten jetzt in der vierten Generation“, erzählt Stoef, ein ausgebildeter Fischwirt.

Vor sechs Jahren beschloss er, die Ware auch sonntagsmorgens in St. Pauli anzubieten. „Wenn man auf der Elbe fischt, dann ist der Fischmarkt nicht nur eine weitere Verkaufsoption“, sagt Stoef. „Hier zu stehen gehört auch der Tradition wegen dazu.“

Einst lagen mehr als hundert Fischkutter am Anleger, in den 1980ern verkauften dort noch zehn Fischer direkt vom Boot, heute sind sie höchstens zu dritt. Olaf Jensen ist einer au dem Trio, von Mai bis Oktober steht er hinter seinem kleinen Stand auf dem Ponton. Jensens Spezialität sind Aale, selbst gefangen in Elbe und Schlei, selbst geräuchert über Buchen- und Erlenholz. „Meine Preise sind höher als bei denen da oben an Land, und durch die Luft schwenken und ’ne Show abziehen, das tu ich auch nich“, sagt Jensen, nickt mit dem Kopf zu den Fischbuden auf dem Fischmarkt hoch und rollt zwei Aale in Zeitungspapier. „Dafür gibt’s bei mir immer was zum Lesen dazu, heute die Sport-Seiten, Wirtschaft is viel zu traurig.“

Mit lauten, derben Sprüchen wirbt auf den Kuttern am Anleger keiner, zwei Pärchen mit Obstkörben in der Hand gucken kurz über Stoefs Kisten, dann gehen sie wieder. „Touristen machen Fotos, kaufen aber nichts“, sagt Stoef. „Is aber völlig verständlich, Fisch stinkt im Reisebus auch nur.“ Stoef und Jensen verkaufen an Stammkunden, viele haben einen Einkaufstrolley dabei und holen ihre Bestellungen ab. „Tolle Rotzungen haben wir heute“, sagt Stoef zu einem Paar aus Finkenwerder. Wenn vom Frühling bis in den Spätherbst die Elbfischer am Anleger stehen, erzählen die beiden, kommen sie jeden Sonntag mit der Fähre herüber.

Rotzungen aber kaufen nur wenige Fischfans, im Mai und Juni ist Hochsaison für die Scholle. „Zwei schöne große hätten wir gern und zwei mittlere für die Kinder.“ Der nächste nimmt gleich ein Dutzend der platten Fische, „heut’ Abend sitzt die ganze Großfamilie am Tisch“, die silberhaarige Dame mit Dackel will „eine möglichst kleine“. Stoefs Mitarbeiter Hinnerk Groth zieht das gewünschte Exemplar aus der Kiste und wiegt den Kauf ab, während seine Schwester Tina Norman kassiert.

Auf dem Ponton stoppen viele Kunden an einem weißen Pavillon, dort schneidet Hans Schnoor den Fischen Kopf und Flossen ab, macht sie pfannenfertig und gibt Tipps zum richtigen Zubereiten. „Wir ergänzen uns gut hier unten am Anleger“, sagt Stoef und legt eine Plastiktüte beiseite. „Schnoors wollen heute auch die erste Maischolle essen.“
Bald wird die Elvstint noch mehr Süßwasserfische mit zum Markt bringen, Zander etwa und Brassen. Im August startet Stoef die Saison für Aale und Taschenkrebse, im Oktober dreht sich alles um den Karpfen. Eine gute Auswahl sei zwar wichtig, sagt er, allerdings gelte auch: „Nicht jeder Fisch zu jeder Zeit, sondern je nach Jahreszeit.“ Importe seien ohnehin kein Thema, auch wenn manche Marktbesucher immer mal danach fragen. „Dann wollen sie Thunfisch“, erzählt Stoef amüsiert, „oder irgendwelche Exotenfische.“
Kurz nach sieben Uhr, die Schlange vor den Schollen wächst. Aber auch ein sieben Kilo schwerer Steinbutt und der armlange Marmorkarpfen finden einen Käufer. Hinnerk und Tina schnacken mit den Kunden, Stoef unterhält zwei Jungs mit glasigen Augen und halbvollen Bierbechern in der Hand. „Komm, nimm den großen Karpfen hier, dann haste was für die ganze Familie.“ – „Aber ich hab doch gar keine Familie.“ – „Dann bind ’ne Schleife drum und nimm ihn ­deiner Muddi mit, ich werf ihn dir zu, dann kannste ihr sagen, du hättest ihn sogar selbst gefangen.“ Die Jungs grölen. „Mensch“, sagt der eine. „Du könntest eigentlich auch da oben verkaufen.“

Text: Daniela Schröder
Fotos: Mauricio Bustamante

„Helfen kann man nie genug“

(aus Hinz&Kunzt 208/Juni 2010)

Das Hamburger Spendenparlament hilft dort, wo Obdachlosigkeit, Armut und Einsamkeit den Hansestädtern zu schaffen machen. Nun hat es einen neuen Vorsitzenden.

Hier wird Demokratie gelebt: Mit einer Spende von fünf Euro im Monat kann man beim Hamburger Spendenparlament volles Stimmrecht erwerben. Dreimal im Jahr stimmen die Parlamentarier dann über die Vergabe von Fördermitteln an soziale Einrichtungen in Hamburg ab – kritisches Nachfragen ausdrücklich erwünscht. „Das Spenden-
parlament ist eine echte Bürgerbewegung“, sagt Jobst Böhning (71), seit April neuer Vorstandsvorsitzender der gemeinnützigen Organisation. „Nachhaltig mit kleinen Beträgen Gutes zu tun, diese Idee hat mich überzeugt.“ Schon seit 2005 ist der ehemalige Projektleiter der Hamburger Gesellschaft für Wirtschaftsförderung deshalb beim Spendenparlament dabei, bis dato als Mitglied der Finanzkommission.

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Dirk Bleese (links) übergibt seinen Posten an Jobst Böhning

Zwölf Jahre lang hatte Dirk Bleese (72) vor ihm den Vorsitz inne. Sein Resümee nach dieser Zeit: „Das Bild der Not hat sich gewandelt, vor allem Kinder und Jugendliche sind heute stärker betroffen.“ Und die Nöte der Institutionen seien größer geworden. „Umso wichtiger ist es, die Projekte, die wir fördern, sorgfältig zu prüfen“, sagt der ehemalige IBM-Manager. Schließlich sei das Spendenparlament nicht dazu da, in Zeiten klammer öffentlicher Kassen einzuspringen, wenn tatsächlich die Stadt zuständig ist: „Das tun wir nicht.“
Aber überall da, wo Hamburger Projekte zusätzlich Unterstützung in ihrem Kampf gegen Obdachlosigkeit, Armut und Einsamkeit brauchen, kann das Spendenparlament helfen – mit beträchtlichen Summen, denn nicht nur die Beiträge der rund 3400 Parlamentarier, sondern auch große Sonderspenden finanzierten die Arbeit des Spendenparlaments seit seiner Gründung 1996. So konnten seither mehr als 750 Projekte mit rund 6 Millionen Euro bezuschusst werden. Auch Hinz&Kunzt wurde immer wieder vom Spendenparlament unterstützt, in den vergangenen zehn Jahren mit mehr als 82.000 Euro für notwendige Umbauten, die Anschaffung eines Transporters oder die Sanierung der sanitären Anlagen für die Verkäufer.
Die in Hamburg besonders ausgeprägte Art des Bürgersinns mache eine solche Einrichtung wie das Spendenparlament erst möglich, findet der Hanseat Dirk Bleese. „In München hat man es auch mal versucht, ist aber gescheitert. Dort fehlt die Infrastruktur. In Hamburg ist seit Jahrhunderten alles von Bürgern für Bürger gemacht worden, zum Beispiel die Bürgeroper (die heutige Staatsoper) oder die Musikhalle! In München haben stattdessen die Fürsten gebaut.“
So ganz loslassen kann Bleese das Spendenparlament nicht. Die Feier zum 15-jährigen Jubiläum im nächsten Jahr wird er jedenfalls mitorganisieren: „Helfen kann man nie genug.“

Text: Misha Leuschen
Foto: Kathrin Brunnhofer

Das Bündnis der Betrogenen

(aus Hinz&Kunzt 208/Juni 2010)

Hilfeempfänger wehren sich gegen Abzock-Vermieter – gemeinsam mit Mieterschützern und der Stadt.

Glaubt man Kinga Dallmer-Zerbe, ist ihre Firma vom Niedergang bedroht. „Die Fortsetzung des Mietverhältnisses ist für uns eine unzumutbare wirtschaftliche Härte …“, schreibt die Geschäftsführerin der Delta Zukunft GmbH & Co. KG Anfang Mai rund 40 Bewohnern eines heruntergekommenen Hauses an der Ifflandstraße. Ihre Konsequenz: die Kündigung. Vom Rausschmiss bedroht: fast ausnahmslos Hartz-IV- oder Sozialhilfeempfänger.
Wenige Tage später kocht in den Räumen des Mietervereins zu Hamburg die Stimmung hoch. 16 Betroffene sind gekommen. Sie fürchten vor allem, obdachlos zu werden. „Der Vermieter kann Sie nicht einfach auf die Straße setzen. Machen Sie sich keine Sorgen!“, beruhigt Mieterschützer Siegmund Chychla. Doch eins können weder er noch die anwesenden Behördenvertreter beantworten. „Wir sind Langhaarige, wir haben eine schlechte Adresse, wir sind zum Teil vorbestraft: Wo sollen wir eine Wohnung bekommen?“, fragt ein Rauschebart stellvertretend für viele. Doch die Versammlung ist ein Erfolg: Bis Redaktionsschluss unterschreiben knapp 30 Bewohner, dass der Mieterverein der Kündigung in ihrem Namen widersprechen soll. Ihre Mitgliedsbeiträge zahlt – wie in allen vergleichbaren Fällen – die Stadt für mindestens ein Jahr. „Wir müssen uns endlich wehren!“, sagt Mieter Michael Lessow kämpferisch. Nicht dass der ehemals Obdachlose traurig wäre, wenn er anderswo wohnen könnte: „Ich habe hier anderthalb Jahre mit einer klitschnassen Wand gelebt, und das verschimmelte Bad hab ich selbst gestrichen, weil nichts passiert ist“, berichtet der 42-Jährige. Doch gibt es ein Problem, das so gut wie alle Mieter der Zimmerchen mit Dusche und Klo betrifft: Es gibt keine Alternativen für sie. „Beim Amt haben sie gesagt: ,Wir haben keine andere Wohnung für Sie!‘“

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Würde lieber heute als morgen aus seinem Zimmerchen ausziehen: Mieter Michael Lessow

Weil Lessow nach vier Jahren des Leidens genug hat von den unerträglichen Zuständen, ist er noch mal zu den Mieterschützern gegangen. Die fordern in seinem Namen „die notwendige Herstellung einer sachgemäßen Stromversorgung“, die Reparatur der Heizung und „die erforderlichen Feuchtigkeits- und Schimmelbeseitigungsmaßnahmen“. Bis Redaktionsschluss reagierten Kinga Dallmer-Zerbe und ihre Firma nicht. Auch die „Bau Service Verwaltung“ ihres Ehemanns René, die die Delta Zukunft GmbH laut Mietverträgen vertritt, ließ nichts von sich hören.
Mindestens acht Jahre lang kassierten die Dallmer-Zerbes die Stadt unbehelligt ab, bekamen Monat für Monat Abzock-Mieten von bis zu 277 Euro kalt für 14-Quadratmeter-Zimmerchen in dem ehemaligen Studentenwohnheim überwiesen – ein kleines Komfort-Appartement in Eppendorf kostet kaum mehr. Doch nachdem sich seit Februar Reporter an der Ifflandstraße die Klinke in die Hand geben, will die Arge der Verschwendung von Steuergeldern offenbar endlich ein Ende machen. Nach eigenem Bekunden will die Hartz-IV-Behörde bis spätestens Juli die Mietzahlungen „substanziell“ mindern, ein Rechtsanwalt bereitet eine Strafanzeige wegen des Verdachts auf Mietwucher vor. Zudem klagt die Hartz-IV-Behörde vor dem Landgericht rund 200.000 Euro Schadenersatz wegen überhöhter Miet- und Betriebskostenzahlungen ein.

Mondpreise für Bruchbuden: Mehrfach berichtete Hinz&Kunzt über Hauseigentümer, die überteuerte Wohnungen und Keller an Hilfeempfänger vermieten – auf Kosten des Steuerzahlers (H&K 200, 201 und 206). Der prominenteste unter den bisher bekannten Abzockern ist das CDU-Mitglied Thorsten Kuhlmann. 360 Wohnungen vermietet seine Kuhlmann Grundstücks GmbH laut Behörde an Hartz-IV-Empfänger. Im Oktober 2009 enthüllte Hinz&Kunzt das „System Kuhlmann“: Wohnungen, die auf dem Papier des Mietvertrags teils doppelt so groß waren wie in Wirklichkeit, mit der Folge weit überhöhter Mieten. Schimmelige Keller, teils von Ratten befallen, die ohne Genehmigung als Wohnraum vermietet wurden. Seit März ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts auf Betrug und Mietwucher gegen Kuhlmanns Firma. Thorsten Kuhlmann kündigte bereits im Februar 2010 gegenüber der Hamburger Morgenpost an: „Wir werden alles nachmessen, zu viel kassierte Miete erstatten.“ Drei Monate später hat der Hobby-Rennfahrer („Team Kuhlmann“) laut Arge noch keinen Cent an die Behörden überwiesen. Die Rechtsanwälte verhandeln, die Behörde hofft auf ein Ergebnis „in zwei Monaten“, und Kuhlmann beantwortet Nachfragen von Hinz&Kunzt nicht – wie alle genannten Vermieter.

Wenn Sigi Andersen (Name geändert, Red.) schlafen geht, kriecht die Angst mit ins Bett. Angst, dass die Ratte wiederkommt. „Eine habe ich schon erlegt. Es gibt aber noch eine“, sagt der 35-Jährige und zeigt auf ein Loch in der Wand, das dem verhassten Mitbewohner als Einfallstor dient. Andersen wohnt in einem bröckelnden Altbau in Ottensen. Rund 18 Quadratmeter misst die Bruchbude des Arbeitslosen, die nicht mal eine Heizung hat – dafür aber feuchte Wände und kaputte Elektrik. 350 Euro kalt kassierte hier die Vermieterin, die Berliner Rauch&Veth GbR, Monat für Monat. Seit Februar berichten Medien über die menschenunwürdigen Zustände in dem Haus. Was ist seitdem geschehen? Die Arge will auch hier die Mieten deutlich senken. Eine Strafanzeige wegen des Verdachts auf Mietwucher werde noch geprüft, so das Amt, eine Schadenersatzklage vorbereitet.
Das Bezirksamt Altona, seit Jahren über die desolaten Verhältnisse informiert, gibt sich hilflos: „Das Thema der Ratten wird auf der privatrechtlichen Ebene zwischen Mieter und Vermieter geklärt“, so eine Sprecherin auf Nachfragen. Sylvia Sonnemann von Mieter helfen Mietern, von einem Bewohner alarmiert: „Hier ist das Amt für Wohnungspflege gefragt!“ Der Senat bestätigt: Verstöße gegen die Verordnung über Rattenbekämpfung „können durch die Bezirksämter geahndet werden“.
Weil das Amt nicht handelt, hat die Mieterschützerin selbst das Hygieneinstitut alarmiert. Sie hat Rauch&Veth aufgefordert, gegen Ratten und Feuchtigkeit vorzugehen und die Elektrik instand zu setzen. Notfalls, sagt sie, „müssen wir auf Instandsetzung klagen“.

Aktuelle Entwicklungen lesen Sie hier im Internet unter www.hinzundkunzt.de

Text: Ulrich Jonas
Foto: Mauricio Bustamante

Herr Sozialsenator, übernehmen Sie!
Ein Kommentar von Ulrich Jonas
Lange, viel zu lange hat es gedauert, bis die Hartz-IV-Behörde den Ernst der Lage erkannt hat. Bis sie begriffen hat: Steuergeld ist unser aller Geld! Und siehe da: Kaum droht die Arge endlich dem ersten Abzocker, den sprudelnden Geldhahn zuzudrehen, schickt der seinen Mietern die Kündigung. Ein Erpressungsversuch. Denn die Abzock-Vermieter wissen: Es gibt so gut wie keine Wohnungen für die Menschen, die in ihren Bruchbuden leben müssen.
Warum also nicht die Stadt unter Druck setzen mit dem Schreckensbild von 40 weiteren Obdachlosen?
Zu hoffen ist, dass diese Rechnung nicht aufgeht. Dass Hartz-IV-Empfänger, Mietervereine und die Behörde nun zumindest in der Ifflandstraße gemeinsame Sache machen, ist vor allem den vielen Medienberichten geschuldet. Doch werden die Betroffenen dem Druck standhalten, den die Auseinandersetzung mit sich bringen wird? Werden die Mietervereine sie schützen und die unwürdigen Zustände in dem Haus verbessern können? Und vor allem: Wird die Stadt dafür Sorge tragen, dass die Menschen aus der Ifflandstraße bald bessere Wohnungen beziehen können?
Das Schicksal der Menschen aus der Ifflandstraße wird zeigen, ob es Sozialsenator Dietrich Wersich (CDU) ernst meint mit seiner Ankündigung von Anfang März, in der er seine Behörde erklären ließ: „Mietwucher oder Betrug werden nicht geduldet.“ Die Hausaufgaben des Senats sind offenkundig. Seit Jahren mahnt Hinz&Kunzt erfolglos neuen, bezahlbaren Wohnraum an für Mieter, die kaum einer haben will. Bis der gebaut ist, könnte sich die Stadt aus ihrem eigenen Bestand bedienen. Noch ist die Saga eine stadteigene Wohnungsgesellschaft. Und leer stehende Häuser, die auf eine sinnvolle Nutzung warten, gibt es in Hamburg reichlich (siehe Seite 14). Das Geld, das die Stadt (noch) den Abzockern in die Taschen stopft, wäre für den Umbau oder die Instandsetzung dieser schönen alten Gebäude allemal sinnvoller investiert

Karriere-Tipps Deluxe

(aus Hinz&Kunzt 208/Juni 2010)

Der Hamburger Hip-Hopper Samy Deluxe spricht mit den Schülern Abdulai Abaker und Jon Looft übers Verse schreiben, Erfolg und warum man auch als Rapper in der Schule gut aufpassen muss.

01HK208_Titel_05.inddIhm bleibt noch etwas Zeit zum Chillen. Samy Deluxe ist überpünktlich zur Preisverleihung in den Hinz&Kunzt-Vertrieb gekommen.
„Wie klingt die Straße?“, haben wir gefragt – und hörbare Antworten von knapp 100 Schülern bekommen. Gleich sollen die Sieger bekannt gegeben werden. Der Laudator wartet breitbeinig sitzend auf einem Barhocker darauf, dass es losgeht. Ein wenig ungeduldig ist er, will so schnell wie möglich ins Studio, wo er momentan sein neues Album aufnimmt. „Wie viele kommen denn da gleich?“, fragt er. „Na ja, die da draußen alle“, bekommt er als Antwort.
Langsam dreht sich der 1,95-Meter-Mann um – und guckt direkt in zwei plattgedrückte Jungengesichter an der Fensterscheibe und in einen Hof voller Kinder. „Ah ja“, kommentiert Samy Deluxe den Trubel und verzieht keine Miene.
Ein paar Minuten später steht er gelassen im Gewühl. Als der Siegerbeitrag – der Rap „Stell dir vor“ von den „Dynamite Brothers“ alias Abdulai Abaker (13) und Jon Looft (14) – eingespielt wird, nickt er im Beat mit. Trotz vollen Terminplans: Für ein Gespräch unter Kollegen mit den beiden Nachwuchs-Hip-Hoppern nimmt Samy Deluxe sich Zeit.

Hinz&Kunzt: Samy, wie gefällt dir „Stell dir vor“?
Samy Deluxe: Find ich gut, auf jeden Fall. Als Rapper wirst du ja danach beurteilt, ob man in der ersten Zeile schon genau weiß, was sich in der zweiten worauf reimt. Also es war nicht so, dass ich sagen würde: perfekt. Man wird auch nie perfekt. Ich bin’s auch nicht …

H&K: Wie habt ihr das gemacht mit eurem Rap?
Jon Looft: Wir haben über den Wettbewerb in der Hinz&Kunzt die Annonce gelesen und dann wollten wir sowieso gerade einen neuen Song machen. (Samy lacht.) Dann haben wir aufgeschrieben, was wir alles erwähnen wollen, und dann haben wir angefangen zu reimen.
Samy: Das war auf jeden Fall richtig so, wie man es als Rapper machen muss. Ihr habt ein Thema genommen und dann richtige Bilder zu dem Thema gemalt, aber trotzdem gute Reime geschrieben. Und das alles echt auch flowmäßig, also dass die Rhythmik in den Worten stimmt.

Abdulai und Jon schauen ziemlich verlegen drein. Immerhin haben sie gerade ein Lob von einem echten Hip-Hop-Star kassiert. Samy De-
luxe, geboren 1977, ist seit gut zehn Jahren einer der erfolgreichsten deutschen Rap-Musiker. Die CDs seiner Hip-Hop-Formation Dynamite Deluxe, seine drei Solo-Alben und Singles sind millionenfach verkauft worden. Er hat unter anderem den MTV Music Award und den Echo gewonnen.
Samy Deluxe ist als Samy Sorge in Eppendorf groß geworden. Seine Herkunft muss er sich mitunter vorwerfen lassen. So hat ein Rap-
Label aus Jenfeld ihn vor einigen Jahren musikalisch angegriffen: Er sei kein richtiger Rapper, schließlich käme er nicht aus dem Getto. Quatsch, meint Samy: „ Ich finde nicht, dass Aufwachsen in einem sozial schwachen Viertel einem die Berechtigung gibt, Rapper zu sein, genauso wenig, wie es einem eine Berechtigung gibt, kriminell zu sein.“ Zudem sei er nicht als Musiker in Eppendorf aufgewachsen, sondern als schwarzer Junge – „der einzige da, gefühlt“.

H&K:Samy, wie würdest du einen Song zum Thema Obdachlosigkeit angehen?
Samy: Ich habe gerade einen geschrieben für mein nächstes Album. Ich versetze mich in die Rolle eines Obdachlosen, der mal Rapper war, auch ein bisschen mit diesem Angeberding. Zum Beispiel habe ich einen Einkaufswagen, aber der hat Chromfelgen. Und ich hab da auch Tüten drin, nur steht da Gucci und Prada drauf. Aber der Inhalt ist natürlich der, den jeder Obdachlose hat.

H&K: Glaubt ihr, dass Musik auch etwas verändern oder Menschen etwas beibringen kann über Themen wie Obdachlosigkeit?
Jon: Ich glaube schon. Aber natürlich nur, wenn man die Möglichkeit hat, dass viele Leute das hören. (Samy brummt bejahend.) Es müssen ja nicht gleich die Charts sein. Aber wenn’s vielleicht mal im Radio gespielt wird oder drüber berichtet wird wie hier jetzt, dann denke ich schon, dass das was bewegen kann. Vielleicht kriegt das nur eine obdachlose Person mit und denkt: Vielleicht stimmt, was die rappen. Vielleicht kann ich es schaffen, aus der Obdachlosigkeit rauszukommen.
Abdulai Abaker: Manche interessiert es ja gar nicht, wie es Obdachlosen geht. Und denen wollen wir halt zeigen, wie so ein Leben ist. Und wir wollen auch Obdachlose motivieren, was zu tun.
Samy: Und was ist euer Ziel mit eurer Musik, weil ich euch jetzt schon über Charts reden höre? Wollt ihr das als Spaßding machen oder wollt ihr unglaublich reich werden oder was ist euer Plan?
Jon: Also „unglaublich reich“ kann man nicht so richtig planen, glaube ich.
Samy: Ganz schön schlau, der Junge.

In seinem 2009 erschienenen Buch „Dis wo ich herkomm – Deutschland Deluxe“ widmet Samy Deluxe ein ganzes Kapitel dem Thema „Erfolg“. Der kam für Samy, wie er schreibt, zwar nicht über Nacht, aber teilweise zu schnell. Bekanntheit, sagt er, heiße vor allem, dass jeder eine Meinung über einen hat. Das muss man aushalten können. Auf der anderen Seite nutzt Samy Deluxe seine Popularität für Projekte, die ihm am Herzen liegen. 2007 gründete er mit anderen „Crossover“. Der Verein veranstaltet Musik- und Sport-Workshops für Schüler aus unterschiedlichen Stadtvierteln oder Schulformen. Sein Ziel ist, Jugendlichen Erfolgserlebnisse und Selbstvertrauen zu vermitteln.

Jon: Wenn wir berühmt werden würden, wäre das natürlich schön. Aber auch wenn’s nicht klappt, kann man das ja immer noch als Hobby machen. Musik ist ja nicht so, dass es eine Pflicht ist, damit Geld zu verdienen. Anders als Bürokaufmann, das macht ja keiner als Hobby, glaube ich.

H&K:Habt ihr schon andere Lieder geschrieben?
Abdulai: In der Schule im Musikunterricht hat unsere Lehrerin uns beide zusammengetan und gesagt, wir sollen für das ­Weihnachtskonzert in unserer Aula einen Weihnachtsrap ­schreiben. Und das haben wir dann gemacht. Da haben wir ­gemerkt, dass uns das Spaß bringt, dass wir gut zusammenarbeiten können.
Samy: Cool.

H&K: Habt ihr schon Pläne für neue Lieder?
Jon: Als nächstes wollen wir einen Aufstiegsrap für St. Pauli schreiben.
Samy: Yeah. Das ist super. Da werdet ihr viele Fans haben, auf jeden Fall. Ihr wisst ja, Lotto King Karl hat nur mit einem Song eine Riesenkarriere gemacht. „Hamburg meine Perle.“ Das werden sie noch spielen, wenn er hundert ist und die Leute werden ihn immer noch lieben.

H&K: Samy, worum ging es in deinem ersten Lied?
Samy: Als ich angefangen habe, waren die deutschen Rap-Lieder sehr referatlastig, so würde ich das nennen. Da war wenig Musikalität im Spiel. Eins meiner ersten Lieder war „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann“. Da habe ich darüber geschrieben, dass Schwarz im Sprachgebrauch immer etwas Negatives ist und Weiß ist immer was Tolles. Weiße Weste haben heißt, du bist ein ganz toller Typ und dagegen dann Schwarzfahren und schwarzes Schaf.
Später hat mich das genervt, immer nur über ernste Sachen zu schreiben und dass es nicht so flüssig geklungen hat. Und da habe ich mich mit Reimen und Wortspielen beschäftigt. Ich find’s langweilig, immer nur mit dem Zeigefinger zu kommen. Man kann nicht nur sagen, die Fakten sind so und gestern war da ein Tsunami und hier geht’s Leuten schlecht und da sind Leute krank.
Jon: Das mit den Nachrichten macht ja schon die Tagesschau, ne?
Samy: Genau. Wenn man den Leuten was zu sagen hat, was sie eh nicht so gerne hören wollen, und Themen nahebringen will, über die sie sich nicht so gerne Gedanken machen, dann muss man das schon auf eine sehr unterhaltsame Weise tun, glaube ich.

Seit seinem 13. Lebensjahr hat Samy sich auch musikalisch immer wieder mit Rassismus beschäftigt. Er könne das gar nicht auslassen, sagt er. Im Gegenteil: „Ich find’s furchtbar, Menschen in Deutschland in der Öffentlichkeit zu sehen, die einen Migrationshintergrund haben und nie mit diesem Thema sich auseinandersetzen. Das sind für mich einfach merkwürdige Menschen. Entweder kriegen sie die Hälfte nicht mit, was auf der Straße und im Leben passiert, oder sie wollen sich nicht damit auseinandersetzen.“

Jon: Samy, wann hast du angefangen mit Rappen?
Samy: Ich hab angefangen auf Englisch zu rappen, da war ich 14. Da gab’s noch nicht so richtig deutschen Rap.
Abdulai: Konntest du flüssig Englisch?
Samy: Ich hab ein halbes Jahr in England gelebt und da sehr schnell Englisch gelernt und angefangen zu verstehen, worum diese ganzen Rap-Lieder gingen, die ich schon die Jahre davor gehört hatte. Wenn ihr Rapper werden wollt, müsst ihr richtig gut Englisch lernen, sonst werdet ihr diese Kunstform nie verstehen. Ihr müsst die Geschichte studieren. Wenn ihr wirklich damit Karriere machen wollt, dann bedeutet das auch viel Arbeit und nicht nur ein paar Reime schreiben.
Jon und Abdulai: Hmmm …

01HK208_Titel_05.indd01HK208_Titel_05.indd„Dis wo ich herkomm – Deutschland Deluxe“, das Buch von Samy Deluxe, ist erschienen im Rowohlt-Taschenbuchverlag, 8,95 Euro. Sein neues Album „Schwarz-Weiß“ soll zu Beginn kommenden
Jahres veröffentlicht werden.

Unter dem Titel „Wie klingt die Straße?“ riefen Hinz&Kunzt und die Internetplattform AUDIYOU im Januar Schüler auf, Hörbeiträge zum Thema Obdachlosigkeit einzureichen. Die Jury, bestehend aus Schulsenatorin Christa Goetsch, H&K-Beirat und EX-NDR-
Programmchef Rüdiger Knott, H&K-Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer und H&K-Verkäufer Peter Konken, wählte im Mai die besten aus. Den ersten Platz belegten die „Dynamite Brothers“ Abdulai und Jon, den zweiten acht Kinder des Radiokurses der Grundschule Ludwigstraße, den dritten Raffaela und Chris Bothe. Alle Beiträge des Wettbewerbs sind im Internet unter www.audiyou.de zu hören.

Interview: Beatrice Blank
Fotos: Roderick Aichinger

„Leben könnte ich in Deutschland nicht“

(aus Hinz&Kunzt 208/Juni 2010)

Lucille Eichengreen verlor während des Holocaust ihre Familie und kämpfte um ihr Leben. Immer wieder kehrt sie in ihre Geburtsstadt Hamburg zurück, um davon zu berichten.

Die Frage kommt jedes Mal: Ob sie den Deutschen eigentlich vergeben kann? Ob sie ihnen verziehen habe? Lucille Eichengreen schaut dann stets geradeaus, bevor sie antwortet. Lucille Eichengreen hat Deutschland im März 1946 verlassen und ist in die USA ausgewandert, lebt in Kalifornien. Sie ist heute in Hamburg, um einer Schulklasse der Max-Brauer-Gesamtschule von ihrem Leben zu erzählen. Ein Leben, das in Hamburg begann, am 1. Februar 1925.
Sie wächst als Kind jüdischer Eltern in gutbürgerlichen Verhältnissen auf, in einer großen Wohnung in der Straße Hohe Weide in Eimsbüttel. Ihr Vater hat ganz in der Nähe in der Lindenallee einen Weinhandel, Import-Export. Regelmäßig fährt die Familie im Sommer in die Sommerfrische an die See. Ein Hausmädchen kümmert sich um die Kinder, die reiten lernen und Tennis- und Musikunterricht erhalten.
Doch als die Nazis im Januar 1933 an die Macht kommen, spürt die Familie schnell, dass sich ihr Leben ändern wird: Lucille, das Mädchen, das noch eben unbeschwert im Hinterhof spielen konnte, wird nun als „Drecksjüdin“ beschimpft – auch von den Kindern, die im selben Haus wohnen: „Wir waren ganz gut befreundet und plötzlich wurde mit uns nicht mehr gesprochen. Und wenn ich ‚Guten Morgen‘ gesagt habe, war ‚Heil Hitler‘ die Antwort.“

Zur Schule geht sie in der Karolinenstraße; in die private Israelitische Töchterschule. Bald darf sie als Jüdin kein Freibad mehr besuchen, nicht mehr ins Kino gehen. Die Lehrer ermahnen ihre Schülerinnen, sich unauffällig zu benehmen: „Wir sollten eigentlich unsichtbar sein.“ Das bleibt nicht ohne Folgen: „Meine Noten wurden schlechter, ich konnte mich nicht mehr konzentrieren. Ich begann häufig ohne Anlass zu weinen.“ Das ist erst der Anfang.

Es ist der 10. November 1938, sie biegt in die Rentzelstraße ein, will über die Eisenbahnbrücke ins Karolinenviertel zu ihrer Schule gehen, da bemerkt sie den Brandgeruch. Sieht, wie vor der niedergebrannten Synagoge am Bornplatz Leute stehen, sich unterhalten und laut lachen. Hört daheim, wie die Erwachsenen voller Panik durcheinander reden; sich erzählen, wohin man die verhafteten Männer verschleppt hat.

Verzweifelt versucht der Vater Ausreisepapiere zu bekommen: „Unser Leben war ein Albtraum. Wir lebten in ständiger Angst“, erzählt Lucille Eichengreen. Sie müssen in immer kleinere Wohnungen umziehen und sich den weniger werdenden Platz mit immer mehr Menschen teilen. Konten und Sparbücher sind gesperrt, nur gelegentlich dürfen sie Geld abheben. Der Betrieb des Vaters ist längst beschlagnahmt.

Am ersten Tag des Krieges wird ihr Vater von der Gestapo verhaftet und ins Gefängnis Fuhlsbüttel gesteckt. Nur einmal dürfen sie und ihre Mutter ihn im Stadthaus in der Innenstadt besuchen. Sie dürfen ihn nicht umarmen, sie dürfen ihm nicht einmal die Hand reichen. Er kommt ins KZ Oranienburg, dann nach Dachau. In unregelmäßigen Abständen erreichen sie Briefe mit dem immer gleichen Inhalt: „Mir geht es gut. Ich liebe euch sehr.“ Im Februar 1941 kommen zwei Männer von der Gestapo und überreichen ihrer Mutter einen Pappkarton mit der Asche ihres Mannes.

Im Oktober sind sie an der Reihe: Die Familie muss sich am Dammtor-Bahnhof einfinden, zusammen mit Juden aus ganz Hamburg. Die Menschen werden auf Lastwagen geladen, es geht zum Hannoverschen Bahnhof, ein Güterbahnhof im Schatten des Hauptbahnhofes. Von hier aus werden bis zum Februar 1945 mehr als 7600 Menschen in die Lager in Polen und im Baltikum deportiert: Juden und Roma und Sinti; alles Hamburger Bürger. Nach Fahrplan, ordentlich mit Kelle und Pfeife von Hamburger Bahnbeamten abgefertigt.
Lucille kommt mit ihrer Mutter und ihrer jüngeren Schwester ins Getto nach Lodz, muss dort hart arbeiten. Die Bedingungen sind unmenschlich: „In drei Jahren habe ich keine Milch gesehen. Kein Ei, wenig Zucker. Und wenn man Essen bekam, hat man es meistens in zwei Tagen aufgegessen. Es musste aber für sieben, acht Tage reichen.“ Ihre Mutter und ihre Schwester überleben das nicht.

Es ist jetzt sehr still in der Klasse. Selbst die, die eben noch auf ihr Handy geschaut haben, blicken nun nach vorne, wo Lucille Eichengreen erzählt, wie sie von Lodz nach Auschwitz und von dort zurück nach Hamburg kam, in ein Lager im Hamburger Freihafen. „Für einen Moment dachte ich: Jetzt wird es mir leichter gehen. Aber es war nur ein Traum. Wir haben bei Blohm & Voss gearbeitet, bei der Deutschen Werft.“ Sie müssen die Bombenschäden an den Werftanlagen reparieren, mit bloßen Händen Stahlträger bergen. Sie kommt in noch ein weiteres Lager, nach Sasel, im Nordosten von Hamburg, wird dort auch im Büro eingesetzt: „Denn ich konnte deutsch sprechen, die anderen Häftlinge haben nur polnisch gesprochen. Ich habe mir die 40 SS-Leute, die dort gearbeitet haben, alle Hamburger, gemerkt. Ich habe ihre Namen öfter aufschreiben müssen, es gab keine Schreibmaschine. Wozu ich mir die Namen gemerkt habe, wusste ich nicht.“

Doch sie wird es wieder wissen, als sie nach Kriegsende für die Briten als Übersetzerin arbeitet und sich plötzlich an die Namen erinnert: Die Männer werden verhaftet und in Celle vor Gericht gestellt. Lucille Eichengreen ist als Zeugin geladen. Abends, wenn sie nach dem Prozess in ihr Zimmer zurückkehrt, findet sie unter der Tür kleine Zettel vor: „Wir werden dich finden, wir werden dich umbringen“, steht da­rauf. Und sie beschließt, Deutschland zu verlassen: „Ich kam nach Amerika, wo eine Schulfreundin von mir lebte. Ich habe geheiratet und nach und nach habe ich ein neues Leben begonnen“, beschließt sie ihren Vortrag.

Nun ist es an den Schülern zu fragen. Und sie fragen: Wie schlecht sie in der Schule wurde und wie sie das als Erwachsene nachgeholt hat. Wie sie das alles ausgehalten hat, die ständige Angst um ihr Leben, den Hunger, die Kälte. Auch auf die Frage einer Schülerin geht sie ein, wie das war, als sie im Getto im Totenhaus zwischen all den bis zur Decke gestapelten Toten ihre Mutter entdeckte, und wie sie sie beerdigt hat.

Und wie ist das nun mit dem Verzeihen? „Nein“, kurz und knapp kommt es über ihre Lippen: „Es gibt bei mir weder Versöhnung noch Verzeihen.“ Macht dann eine Pause, um das Thema der Entschädigung anzuschneiden. Abgesehen davon, dass man niemanden für den Tod seiner Eltern und seiner Schwester, für jahrelange Todesangst entschädigen kann, lässt sie eine Zahl sprechen: 2000 Euro hat sie als sogenannte Entschädigung bekommen, für drei Jahre Schuften im Getto, Tag für Tag, 12 bis 14 Stunden.

Wie viele Überlebende hat Lucille Eichengreen lange gezögert, Hamburg wieder zu besuchen. Erst 1991 war es soweit, 50 Jahre, nachdem ihre Odyssee durch die Lager begann. Wie es ihr heute in Hamburg ergehe, will ein Schüler wissen. „Am Anfang war es schlimm“, sagt sie. „Aber seit ich vor Studenten spreche und in Schulen gehe, wird es leichter.“ Jüngst hat sie dafür, dass sie trotz allem Erlittenen immer wieder Schulklassen besucht, die Ehrenmedaille der Stadt Hamburg bekommen. Aber das ändert nichts an ihrer distanzierten Haltung gegenüber den Deutschen, den Hamburgern. Die haben sich schließlich nicht mal große Mühe gegeben, die Verbrechen des Nationalsozialismus aufzuarbeiten. Sie kommt noch mal auf den Prozess gegen ihre letzten Peiniger zurück, die SS-Männer im Saseler Lager: „Die meisten haben nur kurze Gefängnisstrafen bekommen, nur der Kommandant hat 20 Jahre bekommen. Die Wachmannschaften sind dann später zum Zoll und zur Post gegangen. Sie haben weitergearbeitet und später eine gute Pension bekommen, und die Sache war vergessen.“ Zum Abschluss sagt Lucille Eichengreen: „Es ist schwierig, aber ich komme. Doch leben könnte ich in Deutschland nicht.“

Text: Frank Keil

Die Leerprobe

(aus Hinz&Kunzt 208/Juni 2010)

Wer wenig Geld hat, findet in Hamburg nur mit Mühe eine Wohnung. Dabei stehen viele Häuser schon seit Jahren leer und könnten sofort bezogen oder zumindest zu Wohnraum umgebaut werden – wenn die Stadt oder die Privateigentümer  es wollten. Sechs Beispiele, die für viele stehen.

01HK208_Titel_05.inddEhemaliges AK Ochsenzoll: Wer über das Gelände der ehemaligen Klinik geht, entdeckt eine architektonische Perle nach der anderen. Kein Wunder, dass die Gebäude unter Denkmalschutz stehen. Der Versuch der Stadt, das Gelände der ehemaligen psychiatrischen Klinik als Ganzes zu verkaufen, scheiterte. Nun wird laut Finanzbehörde „ein Marketingkonzept erarbeitet“, um „in mehreren Tranchen marktgerechte Baufelder“ anzubieten. Der Verkauf der ersten Fläche stehe bevor.
Das denkmalgeschützte Häuser-Ensemble soll bis Ende 2011 neu erschlossen und dann verkauft werden. Da die ehemaligen Klinikgebäude seit Jahren nicht genutzt und deshalb auch nicht mehr beheizt werden, beklagte die Bezirksversammlung Nord im Dezember: „Die Zeit arbeitet hier im negativen Sinn.“ Sie befürchtet, die Stadt wolle die Häuser so lange verfallen lassen, bis der Denkmalschutz aufgehoben wird – um die Flächen anschließend besser verkaufen zu können. Die Finanzbehörde bestreitet das.
Die GAL Nord fordert, nach dem Vorbild des ehemaligen Krankenhauses Barmbek (Quartier 21) die Häuser einzeln für Wohn- oder andere Zwecke zu verkaufen. Interessenten für eine sofortige Nutzung gibt es. So will der Freundeskreis Ochsenzoll in der alten Kirche eine Ausstellung einrichten, die die Geschichte der deutschen Psychiatrie dokumentiert. Im Bezirk gibt es dafür breite Unterstützung: Ein interfraktioneller Antrag der Bezirksversammlung soll laut GAL noch in diesem Monat an die Stadt gehen.

01HK208_Titel_05.inddElbtreppen-Häuser („Heuburg“): Seit Jahren tobt ein Kampf um das historische Ensemble mit Elbblick. Die Saga will die Mehrzahl der Häuser abreißen, elf Wohnungen würden verloren gehen. An ihrer Stelle sollen „bezahlbare Mietwohnungen“ entstehen. „Die Substanz ist teilweise so schlecht, dass eine Sanierung wirtschaftlich völlig unvernünftig wäre“, so Saga-Sprecher Mario Spitzmüller. Er verspricht „deutlich mehr Wohnfläche und günstige Mieten“, wenn die Pläne der städtischen Wohnungsgesellschaft Wirklichkeit werden.
Die Bewohner der „Heuburg“ bezweifeln, dass sie oder andere Menschen mit geringem Einkommen die neuen Mieten bezahlen könnten. Sie wollen die Gebäude mithilfe einer Mieter-Genossenschaft in eigene Verantwortung übernehmen, um sie anschließend zu sanieren. Ein Kaufangebot mit diesem Ziel lehnte die Saga vor vier Jahren als „preislich nicht akzeptabel“ ab. Nun, so der Vorwurf der Mieter, lasse sie die Häuser verrotten. Heizungen und sanitäre Einrichtungen seien demontiert, Fußböden aufgerissen worden. Mindestens sechs Wohnungen stehen leer, laut Bewohnern teils seit 1996.
Während ein Gutachter, den die „Heuburg“-Bewohner beauftragt haben, das gesamte Ensemble für denkmalschutzwürdig hält, will das Denkmalschutzamt just nur jene Häuser schützen, die die Saga nicht abreißen will.
Wer am Ende die Oberhand behalten wird, ist nicht entschieden. Uwe Szczesny, Fraktionsvorsitzender der CDU
Altona, erklärte auf Anfrage: „Die Saga muss ein neues Konzept vorlegen.“ Dazu Saga-Sprecher Mario Spitzmüller: „Wir haben Planungen vorgelegt und alle Anträge gestellt.“

01HK208_Titel_05.inddEhemaliges Altenheim Alsterberg: In der ehemaligen Kaserne lebten zuletzt Senioren. Die sind vergangenen Oktober in einen schmucken Neubau umgezogen, seitdem steht ein halbes Dutzend weitläufiger Gebäude leer. Das Bezirksamt Nord erklärte, die Häuser seien „in privatem Besitz“, das Gelände werde „als Wohnbaufläche geführt“. Jedoch: „Was damit im Einzelnen geplant wird, ist dem Bezirksamt noch nicht bekannt.“

01HK208_Titel_05.inddNesselstraße und Co: Nahe Santa Fu liegt ein kleines Paradies. In der Nesselstraße hört man die Vögel zwitschern, die schmucken Häuser wurden vor rund 100 Jahren gebaut. Heute stehen hier und in den Nachbarstraßen zahlreiche Wohnungen leer, in denen früher Gefängniswärter lebten. Für 84 Wohnungen hat die Saga die Verwaltung übernommen. Sie lasse die Häuser verrotten, um sie in ein paar Jahren billig von der Stadt abzukaufen, glauben Anwohner. Die Saga bestreitet das. Der Senat erklärte kürzlich, eine Vermietung sei „nur nach grundlegenden Sanierungs- und Modernisierungsmaßnahmen“ möglich. Wer sich wann darum kümmern wird, will die Stadt nicht sagen. „Die Gespräche über die vorzunehmenden weiteren Schritte laufen derzeit noch“, so die Finanzbehörde auf Nachfrage von Hinz&Kunzt.

01HK208_Titel_05.inddGeisterdorf Neuenfelde: Die Hasselwerder Straße erinnert an die Kulisse einer verlassenen Westernstadt: Rund 50 zum Teil prächtige Altbauten stehen hier seit mindestens fünf Jahren leer und verfallen. Die Stadt hat die Häuser einst aufgekauft, um die Verlängerung der Airbus-Startbahn durchzusetzen, „zur Vermeidung von Klagebefugnissen“, wie die Finanzbehörde es ausdrückt. Nun fliegen die Flugzeuge übers Dorf, und schönster Wohnraum verrottet. Die Stadt verweist auf Klagen gegen die Werkserweiterung, über die vor Gericht noch nicht abschließend entschieden wurde, und auf laufende Begutachtungen. Die sollen ausschließen, dass „unzumutbare Wohnbelastungen“ auftreten. Wann Ergebnisse vorliegen werden, konnte die Finanzbehörde auf Nachfrage nicht sagen. Einschätzung der Hinz&Kunzt-Redaktion: An der Stresemannstraße lebt sich’s schlechter.

01HK208_Titel_05.inddEhemaliges Polizeirevier Oberaltenallee: Das 1893 erbaute repräsentative Gebäude steht seit einem Jahr leer. Zuletzt arbeitete hier das Polizeikommissariat 31. Die Hamburgische Immobilien Management Gesellschaft für Polizei und Feuerwehr (IMPF) teilte auf Anfrage mit, das Gebäude sei „keine städtische Immobilie mehr“. Wem der „Backsteinbau mit Sandsteingliederung und Terrakotta-schmuck“ (Schild an der Fassade) heute gehört, und was der Eigentümer damit vorhat, verriet die IMPF nicht.

Text: Ulrich Jonas
Fotos: Benne Ochs

„Ich fühle mich zwischen allen Stühlen am wohlsten“

(aus Hinz&Kunzt 208/Juni 2010)

Den Schauspieler Hannes Hellmann kennt jeder Fernsehzuschauer, auch wenn ihm der Name vielleicht nichts sagt. Dafür kann  dieser in Ruhe seinen Leidenschaften nachgehen.
01HK208_Titel_05.inddStört es ihn, wenn man ihn erst mal als Nebendarsteller beschreibt? „Nein“, sagt Hannes Hellmann mit fester Stimme. Er hat tatsächlich eine lange Liste an Film- und Fernsehauftritten vorzuweisen, war in „Wolffs Revier“ und dem „Großstadtrevier“ unterwegs; war an Filmen, die nur eingefleischten Cineasten etwas sagen, ebenso beteiligt wie an der „Soko Wismar“ oder der „Küstenwache“: Vorabendserien, bei der mancher das Gesicht verzieht. „Da braucht niemand die Nase zu rümpfen“, sagt Hellmann. „Da arbeiten überall Leute, die eine gute Arbeit machen.“

Seine bekannteste Rolle ist vermutlich die des Hauptkommissars Hans Wolfer in der ZDF-Samstagskrimireihe „Einsatz in Hamburg“. Hellmann gibt hier neben Aglaia Szyszkowitz und Reiner Strecker den dritten Ermittler. Immer gut gekleidet, eher bedächtig, der Ruhepol. „Wir machen diese Serie jetzt seit zehn Jahren, wir verstehen uns prima und es ist eine wunderbare Arbeitsatmosphäre“, schwärmt er. Allerdings macht er keinen Hehl daraus, dass er sich 90 Prozent von dem, was er macht, selbst nicht ansehen würde; dass sein Fernseher eingeschlossen im Schrank steht und nur manchmal hervorgeholt wird. „An den Geschichten kannst du nichts ändern, die stehen fest, die sollen Quote bringen“, erklärt er. „Aber die Arbeit selbst, das Spielen vor der Kamera, das macht großen Spaß.“

Mehr wurmt ihn, dass man ihn als Schauspieler nicht so vielseitig einsetzt, wie er selbst sein Potenzial sieht: „Als mich Jürgen Flimm 1993 nach Hamburg ans Thalia Theater holte, hat man mich lange nur als Schläger oder Zuhälter besetzt, dabei hab ich mich in meinem Leben noch nie geprügelt.“ Auch neulich musste er mal wieder erfahren, als wie eng sein Repertoire angesehen wird: „Ich wurde für einen Film für die Rolle des Hausmeisters vorgeschlagen, aber der Redakteur meinte: ‚Nee, dafür ist der Hellmann zu intellektuell.‘ Dabei hab ich mal einen Hausmeister gespielt, einen ganzen Film durch.“

Da hilft Aikido, als Sport, als Philosophie: „Es kommt beim Aikido darauf an, nicht zu verkrampfen und sich zu blockieren. Du musst durchlässig werden; musst die Kraft des Anderen nutzen, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen.“ Das nützt ihm durchaus in seinem Beruf: „Ich würde nie einem Regisseur sagen: ‚So spiele ich das nicht.‘ Ich würde sagen: ‚Interessante Idee – schauen wir mal, was ich daraus mache.‘“ Seit 20 Jahren praktiziert er Aikido. Derzeit trainiert er zwei- bis dreimal die Woche in seiner Übungshalle. Und neben Schauspielerei und Sport unterrichtet er an der Hochschule angehende Regisseure, außerdem spricht er Hörbücher: „Ich fühle mich zwischen allen Stühlen am wohlsten.“ Denn da ist noch seine Liebe zur Musik.

„In meiner frühen Jugend spielte ich die Pauke“, sagt er gespielt salbungsvoll, legt die Hände ineinander. Wird gleich wieder ernst und erzählt von seinem Lehrer aus der Volksmusikschule Steglitz in Berlin, wo er aufwuchs. Der habe seine Schüler wahrhaft gefördert: „Wir konnten uns ausprobieren, konnten stundenlang auf Orffschen Instrumenten herumklöppeln. Unser Lehrer hat großartige Auftritte organisiert, wo die Bude immer voll war, weil ja die ganzen Eltern, Verwandten und Freunde kamen. Ich bin da geblieben, bis ich 20 war.“ Zum Kontrabass, seinem Instrument, kommt er über Umwege: „Ich hab klassische Gitarre gelernt, kam dann zum E-Bass – und von da ist es bis zum Kontrabass ja nicht weit.“

Während seines Germanistikstudiums zieht er mit seinem Kontrabass durch Berliner Kneipen, später hat er ein eigenes Kabarett. „Dabei wurde mir klar, dass ich doch lieber nicht Deutschlehrer werden möchte und fragte unsere Sprechlehrerin, ob ich Schauspieler werden könnte.“ Die will ihn dazu nicht gerade ermuntern, verrät ihm aber, wann die Aufnahmeprüfung ist. Hellmann spricht vor, wird gleich genommen. Sein erstes Engagement führt ihn nach Mühlheim an der Ruhr. Er bleibt zwölf Jahre. „Ich habe zwölf Jahre unter nur einem Regisseur gearbeitet, das war mehr eine Lebensgemeinschaft“, sagt er.

Es ist die Art des freien Arbeitens, des Begegnens auf gleicher Augenhöhe, die ihn immer wieder begeistert. Das gilt auch für ein aktuelles Projekt: die siebenköpfige Band „Little Criminals“ und ihr Programm „Amerikanische Umnachtung“ mit Songs von Randy Newman. „Das sind alles gestandene Schauspieler, die bühnenreif Instrumente spielen.“ Und es gibt keinen Chef: „Jeder von uns hat sich mal das Probenhütchen aufgesetzt und gesagt: ‚Das ist schon ganz ordentlich, aber hieran müssen wir noch arbeiten.‘“

Was dabei Hochwertiges entstanden ist, ist gleich am nächsten Abend im Thalia Theater zu erleben: die Herren im Smoking zum weißen Hemd, die Damen im schwarzen Kleid mit Perlenkette, die Mienen unbewegt. Und dazu ein Mix aus rockigen und jazzigen Nummern. Behände wechseln die Musiker die Instrumente, der Schlagzeuger sitzt auch mal am Klavier, die Pianistin spielt ebenso Geige und die Musikerin, die eben noch am Vibraphon steht, stöpselt zwischendurch den E-Bass ein. Nur Hannes Hellmann bleibt den ganzen Auftritt über seinem Kontrabass treu, zupft und streicht ihn mal stoisch, mal verzückt, wie es überhaupt ein Abend wird, der beständig zwischen absolutem Ernst und ausufernder Komik schwankt. Viel Applaus, zwei Zugaben, bis sie vom Publikum entlassen werden.

Hat er für die nächste Zeit irgendwelche Projekte in Aussicht, gibt es Pläne? Nichts, was spruchreif wäre. „Mir geht es wie den Rentnern, die auch nie Zeit haben, obwohl sie nichts zu tun haben“, sagt Hannes Hellmann: „Ich muss das Zen der Langeweile erst wieder lernen.“ Andererseits: Er muss für zu Hause ein neues Regal zimmern, für die Kassetten, die DVDs. „Man muss auch mal herumdaddeln können“, sagt er: „Und vielleicht wird aus einer Idee was, vielleicht geht sie in die Schublade.“ Er kann nicht wissen, dass ihn noch heute eine E-Mail erreichen wird, mit dem nächsten Angebot: eine Nebenrolle im „Polizeiruf“, in der ARD. Gleich nächste Woche geht es los.

Text: Frank Keil
Foto: Daniel Cramer