Was Tafeln leisten können – und was nicht

01HK206_Titel.inddTafelarbeit allein ist keine Armutsbekämpfung, kritisiert der Soziologe Stefan Selke. In Hinz&Kunzt erklärt er, warum die Tafeln aufpassen müssen, dass ihre Zuverlässigkeit nicht vom Staat ausgenutzt wird.

In Zeiten steigender Armut und sinkender sozialstaatlicher Leistungen kommt der Verdacht auf, dass das „System Tafel“ nur ein Symptom sozialer Versäumnisse ist und das Engagement der Tafelhelfer die Einschnitte lediglich abfedert, ohne die Armut nachhaltig zu bekämpfen. Der eigentliche Skandal aber ist die Tatsache, dass durch die Verlässlichkeit der Tafeln immer weniger über Alternativen der Armutsbekämpfung nachgedacht wird. Wie kam es dazu?
Die ursprüngliche Idee der Umverteilung von Überfluss wandelte sich bei den Tafeln zur Prämisse, das Fehlende zu ersetzen. Jetzt etablieren sich Tafeln als Regelangebot in der Armutsversorgung. Sie erschaffen eigene Märkte und parallele gesellschaftliche Strukturen. Die Tafelbewegung ist Ausdruck privater Mildtätigkeit und ersetzt schleichend lang erkämpfte Bürgerrechte. Ihre Entwicklung zeigt beispielhaft, wie Leistungen der Existenzsicherung zunehmend durch Privatpersonen statt vom Staat übernommen werden.
Was Tafeln leisten können, ist erfolgreiche Armutsbewältigung, nicht aber nachhaltige Armutsbekämpfung. Tafeln sind ein Freiwilligensystem, das jederzeit wieder verschwinden kann. Das ist der Unterschied zwischen einem privaten Almosensystem und rechtsstaatlicher Absicherung. Dem Sozialstaatsgedanken liegt die Überzeugung und die Garantie zugrunde, dass jedem Bürger die Teilhabe an materiellen und geistigen Gütern ermöglicht werden soll, damit alle ein selbstbestimmtes Leben in Würde und Selbstachtung führen können. Das kann von den Tafeln nicht garantiert werden.
Die Hilfe, die bei Tafeln geleistet wird, kann deshalb im engeren Sinne niemals solidarisch sein. Solidarität ist eine Haltung der gegenseitigen Verbundenheit und Unterstützung zwischen gleichgestellten oder gleichgesinnten Personen. Bei Tafeln begegnen sich aber meist Personen mit unterschiedlicher sozialer Stellung. Die Begegnungen sind nicht symmetrisch: Die unterschiedlichen Gesten des Gebens und des Nehmens sind verbunden mit Macht- und Demutserfahrungen. Als pragmatische Hilfseinrichtungen greifen Tafeln erkennbar vor Ort ein. Das ist wichtig und für viele Bedürftige unverzichtbar. Immer aber besteht die Gefahr, dass die Hilfe zum Selbstzweck für die Helfenden wird und die eigentlichen Adressaten aus dem Blick verliert. Die Hilfe bei Tafeln wird dann eine Art „Solidarität mit Pay-back-Funktion“ für die Helfenden.

Prof. Dr. Stefan Selke lehrt Soziologie an der Hochschule Furtwangen University und ist als Autor und Publizist tätig. Er hat das Onlineportal www.tafelforum.de initiiert.

Literatur-Quickie

Kurz und gut: Im neu gegründeten Literatur-Quickie-Verlag erscheinen Minibücher mit Kurzgeschichten für die Hosentasche

(Hinz&Kunzt 203/Januar 2010)

Freunde

(aus Hinz&Kunzt 203/Januar 2010)

„Geld machen kann jeder, etwas bewegen nicht!“

Uwe Wichmann war obdachlos und verkaufte zehn Jahre lang Hinz&Kunzt, dann machte er sich mit einer Film-Service-Firma selbstständig. Jetzt sind er und seine Angestellten ein unverzichtbarer Teil der ZDF-Erfolgsserie „Notruf Hafenkante“

(aus Hinz&Kunzt 203/Januar 2010)

Gute-Laune-Alarm

Mit ihren Reggae-Rock-Pop-Swing-Songs sind sie schon im Nachtasyl, im Thalia in der Gaußstraße, in der Motte und bei der Altonale aufgetreten. Fürs nächste halbe  Jahr sind sie so gut wie ausgebucht. Bitte Lächeln! heißt die Band. Ihre Musik groovt, weil, obwohl oder egal dass sechs der acht Musiker gehandicapt sind.

(aus Hinz&Kunzt 203/Januar 2010)

Argentinische Obdachlose als Künstler

Überlebenskunst: Hecho, das Straßenmagazin aus Buenos Aires, betreibt eine Kunstwerkstatt, in der argentinische Obdachlose malen und dichten. In Läden und Cafés der Stadt werden die Bilder und Skulpturen jetzt ausgestellt.

(aus Hinz&Kunzt 203/Januar 2010)

Meldungen: Politik und Soziales

(aus Hinz&Kunzt 203/Januar 2010)

Caritas fordert mehr Rechte für alle Kinder
Nicht alle Kinder in Deutschland haben Anspruch auf elementare Rechte. Darauf hat der Caritasverband anlässlich des 20. Jahrestages der UN-Kinderrechtskonvention hingewiesen. Für Minderjährige im Asylverfahren oder mit Duldung sowie für sogenannte Illegale habe Deutschland einen Vorbehalt geltend gemacht. Deshalb sei es möglich, dass die betroffenen Kinder und Jugendlichen nur eingeschränkten Zugang zu medizinischer Versorgung, Bildung, Kultur und sozialer Hilfe haben. Der Caritasverband forderte CDU/CSU und FDP auf, wie in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, die Vorbehaltsregelung zurückzunehmen. UJO

Jobcenter: Hamburger Alleingang?
Hamburg will die Betreuung von Langzeitarbeitslosen künftig alleine in die Hand nehmen. Das erklärte Wirtschaftssenator Axel Gedaschko (CDU). Weil aber nicht klar sei, ob das sogenannte Optionsmodell politisch durchsetzbar ist, müsse die Hansestadt sich auch auf die Umsetzung der getrennten Trägerschaft vorbereiten. Dabei würden Stadt und Arbeitsagentur weiterhin gemeinsam Hartz-IV-Empfänger betreuen, anders als bisher aber mit getrennten Aufgaben und nicht in einer Arbeitsgemeinschaft (Arge). Nötig wird die Veränderung durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVG), das die Jobcenter als grundgesetzwidrige „Mischverwaltung“ beanstandet hatte. Die neue Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) hat den Bundesländern derweil einen Vorschlag unterbreitet. Danach würden Sozialämter und Arbeitsagenturen organisatorisch getrennt, doch unter einem Dach verbleiben. Der Widerstand gegen dieses Modell ist erheblich: Mitte Dezember stellten sich Personalräte aus 51 Kommunen gegen die „Zerschlagung der Argen“ und forderten, die Betreuung von Langzeitarbeitslosen in die Hände der Kommunen zu geben. Nach dem Willen des BVG muss die Umgestaltung Ende 2010 abgeschlossen sein. UJO

Hilfe für Langzeitarbeitslose
In Harburg will ein neues Pilotprojekt Arbeitslosengeld-II-Empfängern helfen, die richtigen Ansprechpartner zu finden. Viele Langzeitarbeitslose würden ein Bündel an Problemen mit sich herumtragen und wüssten nicht, wohin damit. Hier wolle „Eingang“ beraten, so der Betreiber Hamburger Arbeit, und die Betroffenen zu den richtigen Beratungsstellen vermitteln. Besonderheit: Zweimal die Woche bieten die Projektmitarbeiter ihre Hilfe direkt in Behördenräumen an. UJO
Öffnungszeiten: Mo und Mi 10–14 Uhr, Di und Do 14–17 Uhr,
Beckerberg 12. Beratung in der Arge Harburg: Do 9–12 Uhr,
Beratung im Sozialen Dienstleistungszentrum: Di 10–12.30 Uhr

Hartz-IV-Ansprüche sichern
Der Erwerbslosenverein Tacheles empfiehlt Arbeitslosengeld-II-Empfängern, alle bislang erhaltenen Bescheide vom Jobcenter überprüfen zu lassen. Sollte das Bundesverfassungsgericht in seinem bevorstehenden Urteil die derzeitigen Hilfesätze für zu niedrig halten, könnten Betroffene sich so mögliche Ansprüche auf eine rückwirkende Nachzahlung sichern. UJO
Musterschreiben unter www.tacheles-sozialhilfe.de

Bleiberecht verlängert
Tausende geduldeter Ausländer erhalten ein neues Bleiberecht bis Ende 2011, wenn sie eine Halbtagsbeschäftigung nachweisen können oder sich wenigstens um einen Job bemüht haben. Das beschlossen die Innenminister von Bund und Ländern. Betroffen sind etwa 30.000 langjährig geduldete Ausländer  – meist abgelehnte Asylbewerber, die nicht abgeschoben werden können. Die Flüchtlingshilfeorganisation Pro Asyl nannte die Entscheidung eine „Minimallösung“, die Betroffenen eine Atempause verschaffe, ihren Status aber nicht kläre. UJO

Vermögenssteuer statt Rotstiftpolitik
Weil die Steuereinnahmen eingebrochen sind, will der Senat in den kommenden vier Jahren 1,15 Milliarden Euro einsparen. Bei Polizei, Feuerwehr und Justiz werden Stellen gestrichen. Die Kita-Gebühren steigen, Hortbetreuung gibt es künftig nur noch für Kinder bis zwölf Jahren (bisher 14). Bei den Hilfen zur Erziehung will Sozialsenator Dietrich Wersich (CDU) ebenso sparen wie bei der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen.
Die Initiative „Es ist genug für alle da!“ hat deshalb den Hamburger Senat aufgefordert, statt seines Sparprogramms mehr Steuerprüfer einzustellen und im Bundesrat für die Wiedereinführung der Vermögensteuer zu kämpfen. Allein Letztere würde Hamburg rund eine Milliarde Euro jährlich bescheren, jede Steuerprüfung bei einem Hamburger Millionär bringe durchschnittlich 115.000 Euro zusätzlich in die Stadtkasse, so das Bündnis aus Gewerkschaftern und Betriebsräten.
Die Bezirke sollen 2010 gemeinsam 7,2 Millionen Euro einsparen, bis 2014 sollen es schrittweise 18 Millionen Euro werden. Dafür wollen sie unter anderem 240 ihrer 7000 Stellen streichen und Gebühren erhöhen. „Es gibt keinen Schonbereich, auch nicht die sozialen Dienste“, so Markus Schreiber (SPD), Chef des Bezirksamts Mitte, gegenüber Hinz&Kunzt. Geplant sei vor allem, Stellen nicht wieder zu besetzen, die frei würden, weil Mitarbeiter in Rente gingen. „90 Prozent unserer Ausgaben sind Personalkosten.“
Die Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege warnte: „Wer in Krisenzeiten vor allem im Sozialbereich kürzt, schürt soziale Konflikte und spaltet die Stadt.“ Bereits das Einfrieren des Sozialhaushalts bedeute faktisch eine Absenkung der Standards. UJO

Suchtklinik sucht Standort
Um eine Suchtklinik einrichten zu können, sucht der Verein Jugendhilfe nun nach einem Standort in einem anderen Hamburger Bezirk. Zuvor war der gemeinnützige Träger mit seinem Vorhaben im Bezirk Wandsbek gescheitert.
Jugendhilfe wollte mit Unterstützung der Sozialbehörde und vier Millionen Euro aus dem Konjunkturprogramm ein ehemaliges Polizeikrankenhaus in eine Suchtklinik umbauen. Dagegen hatte sich eine Bürgerinitiative formiert. Nach langen Debatten und einem Runden Tisch hatte sich auch das Bezirksamt gegen das Vorhaben gestellt. Zuletzt hatte das Oberverwaltungsgericht eine Beschwerde des Vereins zurückgewiesen. UJO

Niederlage für „Christengewerkschaften“
Die sogenannten christlichen Gewerkschaften sind erneut vor Gericht unterlegen. Das Landesarbeitsgericht (LAG) Berlin-Brandenburg entschied, dass die Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personalserviceagenturen (CGZP) keine Tarifverträge abschließen darf (AZ: 23 TaBV 1016/09). Folgt das Bundesarbeitsgericht der Argumentation des LAG, würden sämtliche Tarifverträge rückwirkend ungültig, die die CGZP vereinbart hat. Bis zu 280.000 Leiharbeiter hätten dann Anspruch auf mehr Lohn und könnten diesen einklagen. Die Gewerkschaft Verdi und der Berliner Senat waren gemeinsam vor Gericht gezogen, nachdem Leiharbeiter unter fünf Euro die Stunde verdient hatten. Ihre Arbeitgeber hatten sich auf mit der CGZP ausgehandelte Tarifverträge berufen. Weder Hinz&Kunzt noch die Diakonie stehen den „Christengewerkschaften“ nahe. UJO

Gewerkschaften unerwünscht

Der Dessous-Hersteller Triumph International hat in Thailand und auf den Philippinen Tausende Näherinnen entlassen. Betroffene Gewerkschafterinnen meinen, sie seien wohl zu unbequem gewesen. Aus Protest reisten sie im Dezember durch Europa – und reichten in der Schweiz Beschwerde gegen das dort ansässige Unternehmen ein.

(aus Hinz&Kunzt 203/Januar 2010)