„Legen Sie die Akte nach unten!“

Ralph Bornhöft, Chef der Ausländerbehörde, über Abschiebungen und den schlechten Ruf seines Hauses

(aus Hinz&Kunzt 148/Juni 2005)

Erst will Hamburg erster sein beim Abschieben von Afghanen, und nichts klappt. Zum Beispiel werden Afghanen zur Ausreise aufgefordert, die eigentlich bleiben dürfen. Dann ein Dokumentarfilm, der Mitarbeiter der Ausländerbehörde beim miesen Umgang mit Ausländern zeigt. Und schließlich wird Behördenleiter Ralph Bornhöft unterstellt, er mache das Ganze absichtlich, um dem parteilosen Innensenator Udo Nagel zu schaden. Weil Bornhöft Sozialdemokrat ist. Die Hamburger Ausländerbehörde und ihr Chef haben derzeit nur negative Schlagzeilen.

Der Gipsy-Swing lebt!

Musik in der vierten Generation: Wolkly Rosenberg tritt mit Fami-lie und Freunden beim Hamburger Festival der Roma und Sinti auf

(aus Hinz&Kunzt 148/Juni 2005)

Ein Festival der Sinti und Roma war schon immer sein Traum. Vom 24. bis 26. Juni geht er für den Musiker Wolkly Rosenberg in Erfüllung. Zusammen mit seiner Band „Swing Gipsy Rose“ und alten Freunden wie Haens’che Weiss tritt er im Golkbekhaus auf und erzählt aus seinem Leben – einem Leben, in dem die Musik die Hauptrolle spielt.

Wohnen auf dem Pulverfass

Wo früher eine Munitionsfabrik war, ist heute eine friedliche Siedlung: Ortstermin in Schenefeld

(aus Hinz&Kunzt 148/Juni 2005)

Vielleicht doch aus der Stadt rausziehen? Nicht gleich aufs Land, aber an den Rand, wo es gemächlicher zugeht? Nach Schenefeld etwa, Rückzugsgebiet für Hamburger, die sich ein eigenes Häuschen gönnen und doch nicht zu fern der Großstadt sein wollen. Ein Schild weist den Weg zur Siedlung Schenefeld. Altonaer Chaussee, Gorch-Fock-Straße, Friedrich-Ebert-Allee, sofort wird es beschaulich. Es summt in der Luft. Und wo ist hier die Siedlung?

Zum Weinen schön

Durch Zufall zum Ballett, jetzt Erster Solist: Carsten Jung tanzt in der Hamburger Compagnie von John Neumeier

(aus Hinz&Kunzt 148/Juni 2005)

„Tanzen ist kein Job für mich, sondern eine Erfüllung. Etwas auszudrücken, was ich in mir finde, ist mir noch viel wichtiger, als eine Technik in Perfektion vorzuführen“, sagt der 30-Jährige. Jung, der seit 1994 zum Ensemble gehört und 1998 zum Solisten avancierte, ist eine Ausnahme: Unter den 56 Tänzern der Hamburger Compagnie ist er der einzige Deutsche. „Für einen Jungen hierzulande ist der Tänzerberuf offensichtlich kein Wunschziel“, sagt er. „Fußballer oder Tennis-Profi zu werden ist bestimmt verlockender. Viel Geld verdient man als Tänzer auch nicht.“

„Es ist ein Riesenkampf, ein normales Leben anzupeilen“

Warum Resozialisierung für die öffentliche Sicherheit so wichtig ist – zwei ehemalige Gefangene erzählen

(aus Hinz&Kunzt 148/Juni 2005)

Bessere Entlassungsvorbereitung, Erhalt des offenen Vollzuges und der Sozialtherapeutischen Anstalten – das sind die Hauptforderungen des Hamburger Appells an Justizsenator Roger Kusch. Dass Resozialisierung nicht Verhätschelung von Häftlingen ist, sondern auch der Sicher-heit der Bevölkerung dient, bestätigen die ehemaligen Gefangenen Faruk S. und Volkert Ruhe.

Der Traum von der „Ballinstadt“

Die Stadt hat fünf Millionen Euro für ein Auswanderer-Museum auf der Veddel zugesagt. Doch die Konkurrenz in Bremerhaven ist schneller

(aus Hinz&Kunzt 148/Juni 2005)

Mannshohes Gestrüpp verdeckt den Blick auf die verrammelte Baracke. Irgendwann muss sie ihr Obergeschoss eingebüßt haben. Jemand hat den Backstein weiß übergetüncht, aber auch das ist schon verdammt lang her. Nichts deutet darauf hin, dass hier am Veddeler Bogen einmal das Zentrum der europäischen Auswanderung nach Amerika gewesen ist.

Auch Nikolaj weiß davon nichts. Er verdient auf dem Gelände sein Geld – gewissermaßen auch mit „Auswanderern“, allerdings aus Blech und Plastik. Fast alle seiner Gebrauchtwagen gehen nach Polen, spätere Weiterreise gen Osten nicht ausgeschlossen. Nikolaj ist selbst ein Stück lebende Migrationsgeschichte: Seine Vorfahren trieb die Suche nach einem besseren Leben einst von Deutschland bis nach Sibirien. Für ihn ging es als Spätaussiedler retour.

Rund fünf Millionen Menschen aus Europa wanderten zwischen 1850 und 1934 über den Hamburger Hafen aus, meist in die USA. Mehr als die Hälfte von ihnen waren osteuropäische Juden, häufig auf der Flucht vor Pogromen in ihrer Heimat. Für die „Hanseatische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft“ (HAPAG) wurde die Auswanderung zum zentralen Geschäftsfeld. Doch 1892 schloss Preußen die Grenze, weil in Hamburg die Cholera wütete, und das Millionengeschäft kam zum Erliegen. Die Wiederaufnahme erwirkte HAPAG-Generaldirektor Albert Ballin nur gegen strikte Auflagen – zum Beispiel die Schaffung von Unterkünften direkt im Hafen, in denen sich die armen Zwischendeckspassagiere bis zur Abreise zwangsweise aufzuhalten hatten.

Die erste Baracke entstand direkt am Amerikakai, ab 1898 ließ die HAPAG im großen Stil auf der Veddel bauen: 18 Schlafsäle sowie zwei Hotels für die betuchtere Kundschaft, eine ökumenische Kirche und eine Synagoge, getrennte Speisesäle für koscheres und nichtkoscheres Essen, Bäder und eine Desinfektionsanstalt – eine „Auswandererstadt“ sogar mit eigenem Bahnanschluss.

1963 war der Komplex fast völlig abgerissen, bis auf die schmutzigweiße Baracke am Veddeler Bogen. Nun soll sie das Herzstück eines Auswanderermuseums werden. Unter dem griffigen Titel „Ballinstadt“ hat die Stiftung Hamburg Maritim das Projekt angeschoben. Die Baracke soll wieder in den Originalzu-stand versetzt werden. Zwei Neubauten sol-len eine historische Ausstellung und ein Café aufnehmen, außerdem die Forschungsstelle Link to your roots mit tausenden Original-Passagierlisten der HAPAG. Außerdem soll ein Aussichtsturm für den symbolischen „Blick nach Westen“ entstehen, sowie eine schneckenhausförmige Großplastik, auf der Spender die Namen ihrer ausgewanderten Vor-fahren eingravieren lassen können.

Die Hansestadt stellte das Grundstück und einen Zuschuss von 300.000 Euro in Aussicht. Die übrigen Baukosten sollten Sponsoren aufbringen, was sich aber schwierig gestaltete. Da die Stiftung die Ballinstadt erfolgreich als Tourismus-Magneten für ahnenforschende US-Amerikaner darstellte, erhöhte der Senat 2003 den städtischen Zuschuss auf 3,75 Millionen Euro – die Hälfte der damals geplanten Kosten. Hapag Lloyd, die Norddeutsche Affinerie, die Hamburger Feuerkasse und der halb-staatliche Hamburger Flughafen sagten zusammen 2,45 Millionen Euro zu. Weniger erfolgreich verlief die Akquise in den USA. „Die Leute da sind sehr interessiert“, sagt Ursula Wöst von der Stiftung Hamburg Maritim, „aber wenn wir um Spenden bitten, fragen sie: Warum sammelt ihr nicht bei euch?“

Immerhin brachte der Ausflug in die USA Klarheit über die Gestaltung. „Wir haben hier in Amerika so viel Neues, da wollen wir in Europa etwas Altes sehen“, das ist in der Stiftung zum geflügelten Wort geworden. Also verschwand der bisherige Architekten-Entwurf in der Schublade. Stattdessen zog die Stiftung neue Präsentationstafeln aus dem Hut, auf denen statt der modernen Neubauten aus Stahl und Glas zwei Klone des alten Gebäudes zu sehen sind. „Es gibt ein großes Bedürfnis nach Authentizität“, heißt es dazu. Authentizität oder Disneyland? Eine Frage, über die sich trefflich streiten ließe. Aber die Entscheidung scheint längst gefallen. Derzeit wird fieberhaft nach einem Schlupfloch gesucht, um einen Architektenwettbewerb zu umgehen. Der wäre bei öffentlichen Investitionen dieser Größenordnung Pflicht, würde aber den Baubeginn in diesem Jahr gefährden.

Vor einigen Monaten legte der Senat noch einmal nach: Von den inzwischen 8,1 Millionen Euro, die Bau und Ausstattung des Museums kosten sollen, wird Hamburg nun 5,1 Millionen aus öffentlichen Mitteln beisteuern. Zusätzlich lässt die Stadt für 900.000 Euro eine Ausstellung im Museum für Hamburgische Geschichte über all jene Aspekte von Ein- und Auswanderung einrichten, die das neue Museum auf der Veddel nicht thematisiert – darunter die erzwungene Auswanderung von Juden im Nationalsozialismus.

Als Betreiber für die Ballinstadt steht die Firma LeisureWorkGroup bereit. Sie managt Edutainment-Center (von education und entertainment: Bildung und Unterhaltung) in Potsdam und Westerland, begibt sich mit einem historischen Museum aber auf Neu-land. Dem Vernehmen nach soll die LWG als einzige von zwölf Interessenten erklärt haben, das Museum ohne städtische Zuschüsse zu betreiben – Bedingung für den Zu-schlag. Dafür müssen jährlich 150.000 Besucher kommen. Und wenn es weniger werden? Daran mag im Moment niemand den-ken. Die öffentliche Hand müsste im Notfall einspringen – oder ihre Fünf-Millionen-Investition abschreiben.

Die Ballinstadt wird nicht vor 2007 fertig sein. Schon diesen Sommer aber eröffnet in Bremerhaven ein Konkurrenzunternehmen, gepäppelt mit 20 Millionen Euro aus Steuermitteln. Planziel: 170.000 Besucher im Jahr. Auch wenn man an der Außenweser die Kooperationsmöglichkeiten mit Hamburg betont, gibt Sprecherin Elisabeth von Hagenow zu: „Wir sind natürlich zwei Jahre eher auf dem Markt. In den USA haben wir Kontakte, die von Hamburg noch gar nichts gehört haben.“

Der Autohändler Nikolaj nimmt die Dinge ebenfalls gelassen. Er hat noch nicht mal eine Kündigung gesehen. Und wenn er gehen muss, wird er eben gehen, hinter die Bahngleise irgendwo. Er ist schließlich schon so weit gegangen in seinem Leben.

Jan Kahlcke

Die letzte Station

Schwerer Abschied: der Umzug vom eigenen Zuhause ins Altersheim. SPIEGEL-Reporter Bruno Schrep und Fotograf Jörg Modrow begleiteten zwei Hamburger auf ihrem Weg

(aus Hinz&Kunzt 148/Juni 2005)

Die 30 Meter vom Haus bis zum Sanitätsauto möchte Herr Lipowschek unbedingt allein bewältigen. Gestützt auf seinen Gehwagen schlurft er langsam, ganz langsam vorwärts, den Rücken tief nach vorn gebeugt, den Kopf fast auf der Brust. Schritt für Schritt für Schritt. Während der endlos scheinenden fünf Minuten, die er für den kurzen Weg braucht, dreht er sich nicht einmal um. Blickt nicht zurück auf die Gründerzeitvilla, in der er 37 Jahre gewohnt hat, will nichts mehr sehen von der Vergangenheit.

Als er im April 1967 hier einzog, blühte vor dem Fenster seiner kleinen Parterrewohnung ein alter Kastanienbaum, inzwischen längst gefällt. Jetzt ist es Winter, Herr Lipowschek muss sich enorm konzentrieren, um nicht auf dem feuchten Laub auszurutschen.

„Nun beginnt ein neuer Lebensabschnitt“, prophezeit munter der Zivil-dienstleistende, der Herrn Lipowschek in den Krankenwagen hievt. „Davor habe ich Angst“, entgegnet der 86-jährige Mann.

Nein, in ein Altersheim hat er nie gewollt, der Doktor jur. Anton Lipow-schek, Experte für osteuropäisches Recht, Herausgeber wissenschaft-licher Publikationen und Bücher, ehemaliger Dozent an der Hamburger Universität. Doch seit er sich nach einem komplizierten Oberschenkel-halsbruch kaum noch rühren kann, weiß er keine Alternative mehr.

„Freiheit ist die Einsicht in das Notwendige“, zitiert er frei den Philo-sophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Eine Freiheit, die wehtut. Lipowschek muss sich von fast allem trennen, was ihm wichtig und wertvoll ist: von der abgewetzten Ledergarnitur, nicht mehr sehr an-sehnlich, aber doch so vertraut, von den alten Regalen, für die im Heim kein Platz mehr ist, vom Großteil der Bilder an den Wänden. Drei Tage vor dem Umzug ins Heim stehen auf dem Fußboden blaue Müllsäcke, gefüllt mit Haushaltsutensilien, mit alten Kissen und Teppichen. Auf dem Couchtisch türmen sich zum Wegwerfen bestimmte Akten und Fachbücher, darunter vergilbte Gutachten über komplizierte Rechtsfra-gen und die kompletten Jahrgänge einer wissenschaftlichen Zeitung. „Das war mal mein Leben“, sagt Lipowschek, deutet auf den Tisch: „Jetzt ist es nur noch Ballast.“

„Das war einmal mein Leben“, sagt Herr Lipowschek. Die paar Dinge, die er unbedingt mitnehmen will, passen in einen Karton: ein kleines Album mit Fotos von der Verabschiedung als Uni-Dozent; ein gezeichnetes Porträt von ihm aus den sechziger Jahren; sein Doktordiplom; das Faksimile einer slowenischen Bibel von 1581; ein paar Wörterbücher; vier dicke Bände mit dem Titel: „Die Ehre des Herzogthums Crain“. Noch heute spricht der Hamburger Jurist, geboren in der Steiermark, der in Rom promoviert hat, fließend Slowenisch, Ita­lienisch und Englisch. „Mein Geist hat nicht gelitten“, versichert er mit lauter, noch immer vom österreichischen Tonfall geprägter Stimme. Wenn da nur nicht dieser verdammte alte Körper wäre.

Zusammengesunken sitzt der 86-Jährige auf seinem Bett, dem ein-zigen Möbel, auf dem keine Umzugskiste steht, sortiert die Medika-mente auf seinem Nachttisch: Novalgin, Cosmopor, Bepanthen-Salbe, Sinupret. Langsam zählt er seine Krankheiten auf: Bluthochdruck, Diabetes, durch Bechterew hervorgerufene Verkrümmung der Wirbelsäule, die seinen Kopf schief nach unten drückt. Fast totale Versteifung der Hüfte. Sehen und hören kann Lipowschek nur noch ganz schlecht, die kleinste Bewegung kostet ihn größte Anstrengung. „Jeder Tag ist eine Last, die man ertragen muss“, klagt er.

Seine alte Putzfrau hat ihm beim Aussortieren geholfen, assistiert von der Ehefrau des einzig verbliebenen Freundes. Die wenigen anderen Freunde sind entweder tot oder lassen sich, seit der alte Wissenschaftler so hinfällig ist, nicht mehr blicken. Zu ein paar entfernten Verwand-ten besteht kein Kontakt. Als die Heimleitung bei seiner Anmeldung wissen wollte, wer im Fall seines Todes erben soll, hat er lange gegrübelt.

Anton Lipowschek war immer ein Einzelgänger. Nie verheiratet, nie liiert. Am liebsten auch am Wochenende in seine Fachbücher vergraben; ungestört in den eigenen vier Wänden. Und so wollte er es eigentlich halten bis zum Schluss. Unabhängig, selbstständig, ohne fremde Hilfe.

Schon dass ihm zuletzt morgens und abends ein Zivi von der Diakonie beim An- und Ausziehen helfen musste, fand er schwer erträglich. Und „Essen auf Rädern“ hat er bis zuletzt abgelehnt, sich lieber täglich eine warme Mahlzeit vom Italiener um die Ecke bringen lassen. Aber das ist nun auch vorbei.

Jetzt, so kurz vor dem Umzug, hat die Furcht vor dem Neuen die Trauer um den Verlust des Gewohnten fast verdrängt. Herr Lipowschek kann vor Aufregung kaum noch schlafen, selbst Tabletten helfen nicht. Immer wieder denkt er an die vielen Menschen, die er kennen lernen muss, und an die fremde Umgebung. Ihm graut vor beidem. „Die Nerven liegen blank“, gesteht er.

Verblüfft schaut sich Marianne Lierow bei ihrer Ankunft in Zimmer 14 um. An den Wän-den hängen ihre alten Bilder von Königsberg und der Marienburg, in der Ecke steht ihr alter Schreibtisch mit der elektrischen Schreib-maschine obendrauf. Ihr Lieblingssessel ist auch schon da, nebst Kissen. Und auf dem Nachttisch steht das Telefon, bereits umge-meldet, liegen die neueste Tageszeitung und die Fernbedienung für den Fernseher.

Es klopft. Eine Schwester bringt einen Blu-mentopf, begrüßt die neue Bewohnerin von Haus G im Namen der Direktion. Willkommen im Hospital zum Heiligen Geist, dem größten Altenheim der Stadt Hamburg. Willkommen auf der Endstation.

Die beiden Söhne von Frau Lierow haben den reibungslosen Übergang bewerkstelligt, haben Möbel geschleppt, Behördengänge erledigt, das neue Zimmer eingerichtet. Hauptsache, Mutter übersteht den Umzug gut.

„Ohne meine Kinder wäre ich aufgeschmissen“, sagt die 84-Jährige, die weißen Haare sorgsam gebürstet, über dem weinroten Pullover eine silberne Perlenkette. Mit ihren lebhaften braunen Augen prüft sie jeden Winkel, scheint zufrieden. „Geschafft“, seufzt sie erleichtert.

Und doch. Das nette kleine Zimmer im netten großen Heim ist nur die zweitbeste Lösung. Aber das weiß außer Marianne Lierow niemand. Als sie zusehends schwächer wurde, ihr Kochen, Waschen, Saubermachen immer schwerer fielen, liebäugelte sie mit einer Idee. Will der jüngste Sohn nicht bauen? Und wäre es nicht schön, wenn er dabei eine kleine Einliegerwohnung für sie einplanen würde?

Gesagt hat sie jedoch kein Wort. Und der Sohn, ein sehr besorgter und hilfsbereiter Sohn, hat sein Haus ohne Einliegerwohnung fertig gestellt. „Wenn er die gleiche Idee gehabt hätte, dann hätte er anders gebaut“, glaubt Marianne Lierow.

Zum Bitten ist die 1920 geborene Preußin zu stolz, selbst dem Sohn gegenüber. Auf dem langen Weg vom westpreußischen Marienwerder bis zum Zimmer 14 im Haus G wurde ihr wenig geschenkt.

„Niemand hat mich gezwungen“, sagt Frau Lierow. Nach der Flucht vor den Russen 1945 schlägt sie sich jahrelang als Hilfskraft auf einem niedersächsischen Bauernhof durch. Sie zieht nach Hamburg, einge-fädelt haben das Verwandte, lernt Stenografie und Schreibmaschine, sitzt plötzlich im Büro. Da ist sie fast 30. Sie heiratet einen pensionierten Wehrmachtsoffizier aus ihrer alten Heimat, der nirgends mehr Fuß fassen kann, zieht mit ihm in eine riesige Parterrewohnung im Stadtteil Harvestehude, die sie mit ihrem Gehalt als Kontoristin und mehreren Untermietern finanziert. Zwölf Tage nachdem das jüngste ihrer drei Kinder geboren ist, eine Tochter, stirbt der Ehemann an einem Herzinfarkt.

Marianne Lierow schafft es trotz eines angeborenen Hüftleidens, ihre Kinder ohne fremde Hilfe großzuziehen und die Wohnung zu halten. Zwar braucht sie bereits mit Mitte 40 einen Stock, kann sich kurz darauf, nach mehreren Operationen, auf der Straße nur noch mit zwei Krücken vorwärtsbewegen. Sie hält jedoch eisern durch, kauft täglich ein, hilft mittags bei den Hausaufgaben, entlässt sich selbst nie aus der Pflicht.

Erst spät, im hohen Alter, lässt die Spannung nach. Die alte Dame packt es nicht mehr, allein die Wohnung zu verlassen, selbst mit Gehhilfe nicht. Sie spürt, wie die Kraft nachlässt, sie will sich nicht mehr quälen. Ist es leid, sich an neue Untermieter zu gewöhnen, hat es satt, wegen der kleinsten Besorgung um Hilfe zu bitten.

Wenige Tage vor dem Umzug, die meisten Möbel sind schon verkauft, im Schlafzimmer steht ein halb gepackter Koffer mit Bettzeug, trifft sich die Familie noch einmal in der alten Wohnung. Die Söhne, eine Schwiegertochter und drei Enkel sind da, Tochter Irene ist sogar aus Kanada gekommen.

Abschied von 175 Quadratmetern, sieben Zimmern und tausend Erinnerungen. Ein bisschen Wehmut kommt auf, ein paar Fotos werden geknipst, ein paar Anekdoten erzählt. Zum Beispiel von dem Untermieter, der häufig mitten in der Nacht klingelte, polternd und randalierend in sein Zimmer wollte, obwohl er längst rausgeschmissen worden war.

Marianne Lierow, die wegen ihrer Schwerhörigkeit wenig versteht, lacht nicht mit. Sie sorgt sich um den Verbleib von liebgewordenen Gegenständen. „Diesen Teppich nimmst du doch“, bedrängt sie ihren älteren Sohn. „Und die Tischdecke da ist für die Nachbarin oben.“ Das Teeservice mit Zuckerdose soll die Schwiegertochter mitnehmen, den Topf mit der Amaryllis doch bitte auch. „Sie ist schon fast aufgeblüht. Wäre doch zu schade drum.“

53 Jahre hat Marianne Lierow hier gewohnt, die Trennung macht sie nicht unglücklich. „Weil es meine eigene Entscheidung war“, sagt sie. „Niemand hat mich dazu gezwungen.“

„Viele hier wissen nicht, wo sie sind“, sagt die Krankengymnastin Christiane Korfant. „Und die es wissen, sind nicht freiwillig hier.“

Das Heim, in dem die 50-Jährige an diesem Nachmittag mehrere Patienten besucht, liegt auf einem Hügel mitten in Hamburg. Doch die meisten Bewohner der Pflegestation leben längst in einer anderen Welt. Im Gegensatz zu Frau Lierow und Herrn Lipowschek können sie so gut wie nichts mehr selbst entscheiden. Herr S., seit über eineinhalb Jahren bettlägerig, öffnet kaum noch die Augen, spricht schon lange nicht mehr. Er wird über eine Sonde ernährt, hängt am Tropf. Manchmal, wenn er im Bett umgedreht wird, stöhnt er leise. Ob er noch mitkriegt, wenn Schwestern ihm beruhigend zureden, weiß niemand.

Frau F., die nach einem Schlaganfall direkt von der Klinik auf die Pflegestation kam, will in ihren wenigen wachen Augenblicken sofort zurück in ihre Wohnung, die längst aufgelöst ist. Damit sie nicht wieder schwer stürzt, wie kürzlich, wird die allein stehende Frau mit Einwilligung ihres behördlichen Betreuers zeitweise in ihrem Bett festgebunden.

„Besuche von Angehörigen sind selten“, hat Korfant festgestellt. „Verdrängung“, vermutet sie. Der Anblick so vieler Hilfloser löse Ängste vor einem ähnlichen Schicksal aus. Nicht von ungefähr: So desorientiert und hinfällig wie auf dieser Pflegestation dämmern schon jetzt Zehntausende Deutsche ihrem Ende entgegen.

Die Krankengymnastin kennt fast alle Patienten der Station. Einigen hat sie geholfen, wieder eine Tasse oder einen Löffel zu halten, anderen geduldig beigebracht, wieder langsam die Schultern zu bewegen oder den Kopf zu drehen. Sie weiß jedoch auch, dass viel mehr getan werden könnte. Frau T. zum Beispiel, die nach mehreren Stürzen von ihrem Sohn gedrängt wurde, doch endlich ins Heim umzuziehen, war anfangs noch geistig rege, löste Kreuzworträtsel, erzählte von ihrer früheren Betriebsratstätigkeit. Seit sie fast nur im Bett liegt, von dort oft stundenlang aufs Klo in ihrem Badezimmer starrt, baut sie rapide ab. Um sie mehrmals täglich vom Bett in den Rollstuhl, vom Rollstuhl in den Sessel und wieder zurückzuheben, was eigentlich nötig wäre, fehlt es an Personal.

„Besuche von Angehörigen sind selten“, sagt Frau Korfant. Frau M. dagegen braucht keine körperliche Pflege, die 70-Jährige ist verwirrt. „Eigentlich ist sie hier an der falschen Stelle“, glaubt Christiane Korfant. Aber wo soll sie sonst hin? Auf die Frage, wie sie im Heim zurechtkomme, reagiert die schlanke, mit Schlafanzughose und grünem Pullover bekleidete Frau verständnislos. „Das ist hier kein Heim“, versichert Frau M. überzeugt. Im Übrigen komme sie gerade vom Ballettunterricht und suche ihr lilafarbenes Cape. Wo das denn sei, sie friere nämlich. „Vielleicht in Ihrem Zimmer“, vermutet die Krankengymnastin. „Welchem Zimmer?“

Über den langen Flur kommt Herr P. mit seinem Rollstuhl gefahren, den er mit den Füßen bewegt, tap-tap, tap-tap, tap-tap. Der 69-Jährige, seit drei Jahren auf der Station, lebt hauptsächlich in der Vergangenheit. „Ich bin so traurig“, schluchzt der frühere Bürobote. Warum? Antwort: „Meine Eltern haben mich nie Fußball spielen lassen. Immer haben sie mir alles verboten.“ Auch jetzt seien alle viel zu streng mit ihm. Ob nicht der Pfarrer mal vorbeikommen könne? Und ins Bett, das sage er gleich, lasse er sich heute nur von Schwester Verena bringen. Von sonst niemandem.


„Wer hat Lust, mit mir Schach zu spielen?“
„Biete meine Gesellschaft an für Spaziergänge, Spiele, Vorlesungen, Gespräch. 12 Euro die Stunde.“ Die Aushänge am schwarzen Brett interessieren Herrn Lipowschek noch wenig. Der Neue im Altenheim am Mittelweg hat fürs Erste weder Sinn für eine Schachpartie noch für Zerstreuung gegen Stundenlohn. Er hat genug mit sich selbst zu tun.

Die ersten Tage igelt sich der 86-Jährige ein, spricht kaum, isst fast nichts, wird zeitweise bettlägerig. Hält den Verlust der alten Umgebung kaum aus. „Ich habe die Veränderung unterschätzt“, gesteht er nach einer Woche. „Es ist viel schlimmer, als ich befürchtet habe.“

Objektiv ist alles viel besser. Das Zimmer, hoch oben im fünften Stock, wirkt heller und freundlicher als die alte Parterrewohnung, die Aussicht vom kleinen Wintergarten aus ist phantastisch. Die Ehefrau des Freundes hat ein paar neue Möbel gekauft, zwei Sessel, ein kleines Bücherbord, einen Schreibtisch. Auf dem steht ein großer, neuer Apparat, eine von der Krankenkasse finanzierte Lesehilfe.

Alles wunderbar. Aber alles schrecklich unvertraut. Dazu die vielen fremden Gesichter: ein neuer Arzt, neue Schwestern, neue Zivis. Und neue Regeln: feste Essenszeiten, feste Schlafenszeiten – für den alten Wissenschaftler, der früher oft bis spät nachts arbeitete, erst mittags frühstückte, ist das ein Gräuel, zu ertragen nur im Tausch gegen die größere Sicherheit: Wenn er auf die Alarmtaste drückt, die an einem Band um seinen Hals hängt, kommt innerhalb kürzester Zeit Hilfe. Und die kann ganz schnell nötig sein. Wäre es klüger gewesen, früher ins Heim umzuziehen? „Vielleicht“, sinniert der Neuankömmling. Andererseits: „Dann hätte ich meine Selbstständigkeit noch eher verloren.“ Immerhin: Weil er stets bescheiden lebte, fürs Alter sparte, ist er finanziell unabhängig. Solange er nicht auf die teure Pflegestation muss, bleiben ihm monatlich 200 Euro übrig.

Von den anderen Bewohnern bekommt Lipowschek zunächst nichts mit: Während der ersten 14 Tage verlässt er nicht einmal sein Zimmer. „Ich bin menschenscheu geworden“, sagt er. Als er sich nach drei Wochen erstmals in den Speisesaal traut, es gibt wahlweise gefüllte Paprikaschoten oder Hühnerfrikassee, wird er von allen Tischen aus neugierig beäugt: Männer sind, wie in den meisten Heimen, in der Minderzahl, am Mittelweg sind es – bei 70 Bewohnern – gerade mal acht.

Nach dem gemeinsamen Gebet – die Heimleiterin persönlich liest über Mikrofon den Psalm 23 – macht Lipowscheck an seinem Vierertisch erste Bekanntschaften. „Ich bin schon 80“, enthüllt ihm seine Nachbarin zur Linken. „Stimmt nicht, du bist schon 90“, verbessert die Nachbarin zur Rechten. Der Neue ist mit seinen 86 Jahren der Jüngste am Tisch.

Während die Heimbewohner nach dem Essen zum Ausgang drängen, wo Dutzende Gehwagen geparkt stehen wie Motorräder vor der Provinzdisco, bleibt Lipowschek noch sitzen, erleichtert. „Schwerhörig wie ich sind hier alle“, stellt er fest. „Und die meisten haben auch ähnliche Gebrechen.“ Die Teilnahme am bunten Nachmittag mit Musik und Basar sagt er jedoch ab – keine Zeit. Erstmals nach drei Wochen besucht ihn jemand im Heim: Die alte Putzfrau hat sich angesagt.

Manchmal, gegen Morgen, bekommt Marianne Lierow im Schlaf rasendes Herzklopfen. Sie träumt, sie wohnte wieder in ihrer alten, riesigen Wohnung und habe schrecklich viel zu erledigen. Müsste die Waschmaschine in Gang setzen, Einkäufe organisieren, das Mittagessen kochen. „Dann wache ich auf, und das Frühstück steht auf dem Tisch“, erzählt sie: „Und dann bin ich so unendlich erleichtert.“

„Ich bin so unendlich erleichtert“, sagt Frau Lierow. Drei Wochen nach ihrem Einzug ins Hospital zum Heiligen Geist kennt die 84-Jährige die meisten ihrer Flurnachbarn, von manchen sogar die Lebensgeschichte. Sie weiß auch längst, dass im Haus G noch 56 Mitbewohner leben, eine Frau über 100 ist. Und dass ihre Vorgängerin in Zimmer 14, alleinstehend, 92 Jahre alt, vor sechs Wochen an Herzversagen gestorben ist.

Gestern, zur Kaffeezeit, guckten zwei Enkel vorbei, die in der Nähe zur Schule gehen, vorgestern kamen Bekannte aus dem alten Stadtteil zu Besuch und fragten sie, wie sie sich eingewöhnt habe. Marianne Lierow hat einen Moment zur niedrigen Zimmerdecke geschaut, an die hohen Wände ihrer früheren Wohnung gedacht und einen kleinen Stich verspürt. Aber das ging ganz schnell vorbei.

Heute soll sie eine Großstadt mit F raten. „Frankfurt?“ Richtig. An welchem Fluss die liege? „Am Main, das ist ja kinderleicht.“ Das Gedächtnistraining, bei dem zehn Bewohner mitraten, gehört zum Freizeitangebot wie der Sitztanz und der Skatnachmittag. Wer fit ist, kann sogar Kegeln gehen. Frau Lierow hat sich zum Basteln, zum Singen und, vor allem, zum Englisch-Unterricht angemeldet. Sie will den Enkeln bei den Englisch-Hausaufgaben helfen. Und ärgert sich, dass die dazu keine Lust haben. Nach dem Abendessen zögert sie, wie geplant die Tochter in Kanada anzurufen. Die letzte Telefonrechnung war hoch, die Frau, die allein drei Kinder großzog, muss sparen.

Die Heimkosten, monatlich rund 2500 Euro, fressen trotz Zuschuss der Pflegekasse die Rente auf, für persönliche Extras wie Friseur oder Telefon bleibt so gut wie nichts übrig. Die beiden Söhne haben versprochen, zusammenzulegen und ein Taschengeld zu spendieren.

Beim Personal ist die Neue von Zimmer 14, Pflegestufe 1, sehr beliebt. Sie habe sich angepasst, sei immer so freundlich und bescheiden, lobt die Hausleiterin. Solches Verhalten erleichtere den harten, oft schwer auszuhaltenden Alltag gerade in Zeiten wie jetzt, wo doch gleich mehrere Heiminsassinnen kurz nacheinander verstorben seien. Auch im letzten Stadium sei jedoch niemand auf eine andere Station oder gar ins Krankenhaus verlegt worden. Im Haus G wird Wert darauf gelegt, dass die Bewohner in ihrem Zimmer sterben können.

Heimbewohner Lipowschek war es nicht vergönnt, in seinem Zimmer zu sterben. Er wurde eines Abends mit Magenschmerzen ins Krankenhaus eingeliefert, wo er tags darauf verstarb – ein halbes Jahr nach seinem Umzug.

Bruno Schrep ist SPIEGEL-Autor. Sein Buch „Jenseits der Norm – Reportagen über Grenzgänger und Außenseiter“ erschien im Hirzel-Verlag. Teile dieses Artikels sind im SPIEGEL spezial 4/2005 und im SPIEGEL Nr. 19 veröffentlicht worden. Mehr unter www.spiegel.de

Fernweh

Im Ausland ist das Gras nicht grüner

(aus Hinz&Kunzt 148/Juni 2005)

Rund 20.000 Deutsche wandern jährlich aus? Warum? Und wann sollte man den Traum vom Leben in der Fremde lieber begraben? Ein Gespräch mit Helga Kunkel-Müller von der Evangelischen Auslandsberatung

Fernweh im Stehcafé

Auf der Spur der unbekannten „Tschibofreunde“: das ungewöhnliche Reise- und Fotoprojekt der Hamburgerin Kerstin Schomburg

(aus Hinz&Kunzt 148/Juni 2005)

Die Hamburger Fotografin Kerstin Schomburg fand 17 Postkarten, die ein Mann an seinen „Tschibofreund“ geschrieben hat – und fuhr los, um sich die Urlaubsorte heute anzusehen. Mit ihren Fotos haben wir unseren Schwerpunkt „Fernweh“ bebildert.

Die letzte Station

Schwerer Abschied: der Umzug vom eigenen Zuhause ins Altersheim. SPIEGEL-Reporter Bruno Schrep und Fotograf Jörg Modrow begleiteten zwei Hamburger auf ihrem Weg

(aus Hinz&Kunzt 148/Juni 2005)

Die 30 Meter vom Haus bis zum Sanitätsauto möchte Herr Lipowschek unbedingt allein bewältigen. Gestützt auf seinen Gehwagen schlurft er langsam, ganz langsam vorwärts, den Rücken tief nach vorn gebeugt, den Kopf fast auf der Brust. Schritt für Schritt für Schritt. Während der endlos scheinenden fünf Minuten, die er für den kurzen Weg braucht, dreht er sich nicht einmal um. Blickt nicht zurück auf die Gründerzeitvilla, in der er 37 Jahre gewohnt hat, will nichts mehr sehen von der Vergangenheit.

Als er im April 1967 hier einzog, blühte vor dem Fenster seiner kleinen Parterrewohnung ein alter Kastanienbaum, inzwischen längst gefällt. Jetzt ist es Winter, Herr Lipowschek muss sich enorm konzentrieren, um nicht auf dem feuchten Laub auszurutschen.
„Nun beginnt ein neuer Lebensabschnitt“, prophezeit munter der Zivildienstleistende, der Herrn Lipowschek in den Krankenwagen hievt. „Davor habe ich Angst“, entgegnet der 86-jährige Mann.
Nein, in ein Altersheim hat er nie gewollt, der Doktor jur. Anton Lipowschek, Experte für osteuropäisches Recht, Herausgeber wissenschaftlicher Publikationen und Bücher, ehemaliger Dozent an der Hamburger Universität. Doch seit er sich nach einem komplizierten Oberschenkelhalsbruch kaum noch rühren kann, weiß er keine Alternative mehr.
„Freiheit ist die Einsicht in das Notwendige“, zitiert er frei den Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Eine Freiheit, die wehtut. Lipowschek muss sich von fast allem trennen, was ihm wichtig und wertvoll ist: von der abgewetzten Ledergarnitur, nicht mehr sehr ansehnlich, aber doch so vertraut, von den alten Regalen, für die im Heim kein Platz mehr ist, vom Großteil der Bilder an den Wänden. Drei Tage vor dem Umzug ins Heim stehen auf dem Fußboden blaue Müllsäcke, gefüllt mit Haushaltsutensilien, mit alten Kissen und Teppichen. Auf dem Couchtisch türmen sich zum Wegwerfen bestimmte Akten und Fachbücher, darunter vergilbte Gutachten über komplizierte Rechtsfragen und die kompletten Jahrgänge einer wissenschaftlichen Zeitung. „Das war mal mein Leben“, sagt Lipowschek, deutet auf den Tisch: „Jetzt ist es nur noch Ballast.“

„Das war einmal mein Leben“, sagt Herr Lipowschek

Die paar Dinge, die er unbedingt mitnehmen will, passen in einen Karton: ein kleines Album mit Fotos von der Verabschiedung als Uni-Dozent; ein gezeichnetes Porträt von ihm aus den sechziger Jahren; sein Doktordiplom; das Faksimile einer slowenischen Bibel von 1581; ein paar Wörterbücher; vier dicke Bände mit dem Titel: „Die Ehre des Herzogthums Crain“. Noch heute spricht der Hamburger Jurist, geboren in der Steiermark, der in Rom promoviert hat, fließend Slowenisch, Ita­lienisch und Englisch. „Mein Geist hat nicht gelitten“, versichert er mit lauter, noch immer vom österreichischen Tonfall geprägter Stimme. Wenn da nur nicht dieser verdammte alte Körper wäre.
Zusammengesunken sitzt der 86-Jährige auf seinem Bett, dem einzigen Möbel, auf dem keine Umzugskiste steht, sortiert die Medikamente auf seinem Nachttisch: Novalgin, Cosmopor, Bepanthen-Salbe, Sinupret. Langsam zählt er seine Krankheiten auf: Bluthochdruck, Diabetes, durch Bechterew hervorgerufene Verkrümmung der Wirbelsäule, die seinen Kopf schief nach unten drückt. Fast totale Versteifung der Hüfte. Sehen und hören kann Lipowschek nur noch ganz schlecht, die kleinste Bewegung kostet ihn größte Anstrengung. „Jeder Tag ist eine Last, die man ertragen muss“, klagt er.
Seine alte Putzfrau hat ihm beim Aussortieren geholfen, assistiert von der Ehefrau des einzig verbliebenen Freundes. Die wenigen anderen Freunde sind entweder tot oder lassen sich, seit der alte Wissenschaftler so hinfällig ist, nicht mehr blicken. Zu ein paar entfernten Verwandten besteht kein Kontakt. Als die Heimleitung bei seiner Anmeldung wissen wollte, wer im Fall seines Todes erben soll, hat er lange gegrübelt.

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Anton Lipowschek war immer ein Einzelgänger. Nie verheiratet, nie liiert. Am liebsten auch am Wochenende in seine Fachbücher vergraben; ungestört in den eigenen vier Wänden. Und so wollte er es eigentlich halten bis zum Schluss. Unabhängig, selbstständig, ohne fremde Hilfe.
Schon dass ihm zuletzt morgens und abends ein Zivi von der Diakonie beim An- und Ausziehen helfen musste, fand er schwer erträglich. Und „Essen auf Rädern“ hat er bis zuletzt abgelehnt, sich lieber täglich eine warme Mahlzeit vom Italiener um die Ecke bringen lassen. Aber das ist nun auch vorbei.
Jetzt, so kurz vor dem Umzug, hat die Furcht vor dem Neuen die Trauer um den Verlust des Gewohnten fast verdrängt. Herr Lipowschek kann vor Aufregung kaum noch schlafen, selbst Tabletten helfen nicht. Immer wieder denkt er an die vielen Menschen, die er kennen lernen muss, und an die fremde Umgebung. Ihm graut vor beidem. „Die Nerven liegen blank“, gesteht er.

Verblüfft schaut sich Marianne Lierow bei ihrer Ankunft in Zimmer 14 um. An den Wänden hängen ihre alten Bilder von Königsberg und der Marienburg, in der Ecke steht ihr alter Schreibtisch mit der elektrischen Schreibmaschine obendrauf. Ihr Lieblingssessel ist auch schon da, nebst Kissen. Und auf dem Nachttisch steht das Telefon, bereits umgemeldet, liegen die neueste Tageszeitung und die Fernbedienung für den Fernseher.
Es klopft. Eine Schwester bringt einen Blumentopf, begrüßt die neue Bewohnerin von Haus G im Namen der Direktion. Willkommen im Hospital zum Heiligen Geist, dem größten Altenheim der Stadt Hamburg. Willkommen auf der Endstation.
Die beiden Söhne von Frau Lierow haben den reibungslosen Übergang bewerkstelligt, haben Möbel geschleppt, Behördengänge erledigt, das neue Zimmer eingerichtet. Hauptsache, Mutter übersteht den Umzug gut.

„Ohne meine Kinder wäre ich aufgeschmissen“, sagt die 84-Jährige, die weißen Haare sorgsam gebürstet, über dem weinroten Pullover eine silberne Perlenkette. Mit ihren lebhaften braunen Augen prüft sie jeden Winkel, scheint zufrieden. „Geschafft“, seufzt sie erleichtert.
Und doch. Das nette kleine Zimmer im netten großen Heim ist nur die zweitbeste Lösung. Aber das weiß außer Marianne Lierow niemand. Als sie zusehends schwächer wurde, ihr Kochen, Waschen, Saubermachen immer schwerer fielen, liebäugelte sie mit einer Idee. Will der jüngste Sohn nicht bauen? Und wäre es nicht schön, wenn er dabei eine kleine Einliegerwohnung für sie einplanen würde?
Gesagt hat sie jedoch kein Wort. Und der Sohn, ein sehr besorgter und hilfsbereiter Sohn, hat sein Haus ohne Einliegerwohnung fertig gestellt. „Wenn er die gleiche Idee gehabt hätte, dann hätte er anders gebaut“, glaubt Marianne Lierow.
Zum Bitten ist die 1920 geborene Preußin zu stolz, selbst dem Sohn gegenüber. Auf dem langen Weg vom westpreußischen Marienwerder bis zum Zimmer 14 im Haus G wurde ihr wenig geschenkt.

„Niemand hat mich gezwungen“, sagt Frau Lierow

Nach der Flucht vor den Russen 1945 schlägt sie sich jahrelang als Hilfskraft auf einem niedersächsischen Bauernhof durch. Sie zieht nach Hamburg, eingefädelt haben das Verwandte, lernt Stenografie und Schreibmaschine, sitzt plötzlich im Büro. Da ist sie fast 30. Sie heiratet einen pensionierten Wehrmachtsoffizier aus ihrer alten Heimat, der nirgends mehr Fuß fassen kann, zieht mit ihm in eine riesige Parterrewohnung im Stadtteil Harvestehude, die sie mit ihrem Gehalt als Kontoristin und mehreren Untermietern finanziert. Zwölf Tage nachdem das jüngste ihrer drei Kinder geboren ist, eine Tochter, stirbt der Ehemann an einem Herzinfarkt.

Marianne Lierow schafft es trotz eines angeborenen Hüftleidens, ihre Kinder ohne fremde Hilfe großzuziehen und die Wohnung zu halten. Zwar braucht sie bereits mit Mitte 40 einen Stock, kann sich kurz darauf, nach mehreren Operationen, auf der Straße nur noch mit zwei Krücken vorwärtsbewegen. Sie hält jedoch eisern durch, kauft täglich ein, hilft mittags bei den Hausaufgaben, entlässt sich selbst nie aus der Pflicht.
Erst spät, im hohen Alter, lässt die Spannung nach. Die alte Dame packt es nicht mehr, allein die Wohnung zu verlassen, selbst mit Gehhilfe nicht. Sie spürt, wie die Kraft nachlässt, sie will sich nicht mehr quälen. Ist es leid, sich an neue Untermieter zu gewöhnen, hat es satt, wegen der kleinsten Besorgung um Hilfe zu bitten.
Wenige Tage vor dem Umzug, die meisten Möbel sind schon verkauft, im Schlafzimmer steht ein halb gepackter Koffer mit Bettzeug, trifft sich die Familie noch einmal in der alten Wohnung. Die Söhne, eine Schwiegertochter und drei Enkel sind da, Tochter Irene ist sogar aus Kanada gekommen.
Abschied von 175 Quadratmetern, sieben Zimmern und tausend Erinnerungen. Ein bisschen Wehmut kommt auf, ein paar Fotos werden geknipst, ein paar Anekdoten erzählt. Zum Beispiel von dem Untermieter, der häufig mitten in der Nacht klingelte, polternd und randalierend in sein Zimmer wollte, obwohl er längst rausgeschmissen worden war.

Marianne Lierow, die wegen ihrer Schwerhörigkeit wenig versteht, lacht nicht mit. Sie sorgt sich um den Verbleib von liebgewordenen Gegenständen. „Diesen Teppich nimmst du doch“, bedrängt sie ihren älteren Sohn. „Und die Tischdecke da ist für die Nachbarin oben.“ Das Teeservice mit Zuckerdose soll die Schwiegertochter mitnehmen, den Topf mit der Amaryllis doch bitte auch. „Sie ist schon fast aufgeblüht. Wäre doch zu schade drum.“
53 Jahre hat Marianne Lierow hier gewohnt, die Trennung macht sie nicht unglücklich. „Weil es meine eigene Entscheidung war“, sagt sie. „Niemand hat mich dazu gezwungen.“
„Viele hier wissen nicht, wo sie sind“, sagt die Krankengymnastin Christiane Korfant. „Und die es wissen, sind nicht freiwillig hier.“
Das Heim, in dem die 50-Jährige an diesem Nachmittag mehrere Patienten besucht, liegt auf einem Hügel mitten in Hamburg. Doch die meisten Bewohner der Pflegestation leben längst in einer anderen Welt. Im Gegensatz zu Frau Lierow und Herrn Lipowschek können sie so gut wie nichts mehr selbst entscheiden. Herr S., seit über eineinhalb Jahren bettlägerig, öffnet kaum noch die Augen, spricht schon lange nicht mehr. Er wird über eine Sonde ernährt, hängt am Tropf. Manchmal, wenn er im Bett umgedreht wird, stöhnt er leise. Ob er noch mitkriegt, wenn Schwestern ihm beruhigend zureden, weiß niemand.

Frau F., die nach einem Schlaganfall direkt von der Klinik auf die Pflegestation kam, will in ihren wenigen wachen Augenblicken sofort zurück in ihre Wohnung, die längst aufgelöst ist. Damit sie nicht wieder schwer stürzt, wie kürzlich, wird die allein stehende Frau mit Einwilligung ihres behördlichen Betreuers zeitweise in ihrem Bett festgebunden.
„Besuche von Angehörigen sind selten“, hat Korfant festgestellt. „Verdrängung“, vermutet sie. Der Anblick so vieler Hilfloser löse Ängste vor einem ähnlichen Schicksal aus. Nicht von ungefähr: So desorientiert und hinfällig wie auf dieser Pflegestation dämmern schon jetzt Zehntausende Deutsche ihrem Ende entgegen.
Die Krankengymnastin kennt fast alle Patienten der Station. Einigen hat sie geholfen, wieder eine Tasse oder einen Löffel zu halten, anderen geduldig beigebracht, wieder langsam die Schultern zu bewegen oder den Kopf zu drehen. Sie weiß jedoch auch, dass viel mehr getan werden könnte. Frau T. zum Beispiel, die nach mehreren Stürzen von ihrem Sohn gedrängt wurde, doch endlich ins Heim umzuziehen, war anfangs noch geistig rege, löste Kreuzworträtsel, erzählte von ihrer früheren Betriebsratstätigkeit. Seit sie fast nur im Bett liegt, von dort oft stundenlang aufs Klo in ihrem Badezimmer starrt, baut sie rapide ab. Um sie mehrmals täglich vom Bett in den Rollstuhl, vom Rollstuhl in den Sessel und wieder zurückzuheben, was eigentlich nötig wäre, fehlt es an Personal.

„Besuche von Angehörigen sind selten“, sagt Frau Korfant

Frau M. dagegen braucht keine körperliche Pflege, die 70-Jährige ist verwirrt. „Eigentlich ist sie hier an der falschen Stelle“, glaubt Christiane Korfant. Aber wo soll sie sonst hin? Auf die Frage, wie sie im Heim zurechtkomme, reagiert die schlanke, mit Schlafanzughose und grünem Pullover bekleidete Frau verständnislos. „Das ist hier kein Heim“, versichert Frau M. überzeugt. Im Übrigen komme sie gerade vom Ballettunterricht und suche ihr lilafarbenes Cape. Wo das denn sei, sie friere nämlich. „Vielleicht in Ihrem Zimmer“, vermutet die Krankengymnastin. „Welchem Zimmer?“
Über den langen Flur kommt Herr P. mit seinem Rollstuhl gefahren, den er mit den Füßen bewegt, tap-tap, tap-tap, tap-tap. Der 69-Jährige, seit drei Jahren auf der Station, lebt hauptsächlich in der Vergangenheit. „Ich bin so traurig“, schluchzt der frühere Bürobote. Warum? Antwort: „Meine Eltern haben mich nie Fußball spielen lassen. Immer haben sie mir alles verboten.“ Auch jetzt seien alle viel zu streng mit ihm. Ob nicht der Pfarrer mal vorbeikommen könne? Und ins Bett, das sage er gleich, lasse er sich heute nur von Schwester Verena bringen. Von sonst niemandem.

„Wer hat Lust, mit mir Schach zu spielen?“ „Biete meine Gesellschaft an für Spaziergänge, Spiele, Vorlesungen, Gespräch. 12 Euro die Stunde.“ Die Aushänge am schwarzen Brett interessieren Herrn Lipowschek noch wenig. Der Neue im Altenheim am Mittelweg hat fürs Erste weder Sinn für eine Schachpartie noch für Zerstreuung gegen Stundenlohn. Er hat genug mit sich selbst zu tun.
Die ersten Tage igelt sich der 86-Jährige ein, spricht kaum, isst fast nichts, wird zeitweise bettlägerig. Hält den Verlust der alten Umgebung kaum aus. „Ich habe die Veränderung unterschätzt“, gesteht er nach einer Woche. „Es ist viel schlimmer, als ich befürchtet habe.“
Objektiv ist alles viel besser. Das Zimmer, hoch oben im fünften Stock, wirkt heller und freundlicher als die alte Parterrewohnung, die Aussicht vom kleinen Wintergarten aus ist phantastisch. Die Ehefrau des Freundes hat ein paar neue Möbel gekauft, zwei Sessel, ein kleines Bücherbord, einen Schreibtisch. Auf dem steht ein großer, neuer Apparat, eine von der Krankenkasse finanzierte Lesehilfe.

Alles wunderbar. Aber alles schrecklich unvertraut. Dazu die vielen fremden Gesichter: ein neuer Arzt, neue Schwestern, neue Zivis. Und neue Regeln: feste Essenszeiten, feste Schlafenszeiten – für den alten Wissenschaftler, der früher oft bis spät nachts arbeitete, erst mittags frühstückte, ist das ein Gräuel, zu ertragen nur im Tausch gegen die größere Sicherheit: Wenn er auf die Alarmtaste drückt, die an einem Band um seinen Hals hängt, kommt innerhalb kürzester Zeit Hilfe. Und die kann ganz schnell nötig sein. Wäre es klüger gewesen, früher ins Heim umzuziehen? „Vielleicht“, sinniert der Neuankömmling. Andererseits: „Dann hätte ich meine Selbstständigkeit noch eher verloren.“ Immerhin: Weil er stets bescheiden lebte, fürs Alter sparte, ist er finanziell unabhängig. Solange er nicht auf die teure Pflegestation muss, bleiben ihm monatlich 200 Euro übrig.

Von den anderen Bewohnern bekommt Lipowschek zunächst nichts mit: Während der ersten 14 Tage verlässt er nicht einmal sein Zimmer. „Ich bin menschenscheu geworden“, sagt er. Als er sich nach drei Wochen erstmals in den Speisesaal traut, es gibt wahlweise gefüllte Paprikaschoten oder Hühnerfrikassee, wird er von allen Tischen aus neugierig beäugt: Männer sind, wie in den meisten Heimen, in der Minderzahl, am Mittelweg sind es – bei 70 Bewohnern – gerade mal acht.
Nach dem gemeinsamen Gebet – die Heimleiterin persönlich liest über Mikrofon den Psalm 23 – macht Lipowscheck an seinem Vierertisch erste Bekanntschaften. „Ich bin schon 80“, enthüllt ihm seine Nachbarin zur Linken. „Stimmt nicht, du bist schon 90“, verbessert die Nachbarin zur Rechten. Der Neue ist mit seinen 86 Jahren der Jüngste am Tisch.

Während die Heimbewohner nach dem Essen zum Ausgang drängen, wo Dutzende Gehwagen geparkt stehen wie Motorräder vor der Provinzdisco, bleibt Lipowschek noch sitzen, erleichtert. „Schwerhörig wie ich sind hier alle“, stellt er fest. „Und die meisten haben auch ähnliche Gebrechen.“ Die Teilnahme am bunten Nachmittag mit Musik und Basar sagt er jedoch ab – keine Zeit. Erstmals nach drei Wochen besucht ihn jemand im Heim: Die alte Putzfrau hat sich angesagt.
Manchmal, gegen Morgen, bekommt Ma­rianne Lierow im Schlaf rasendes Herzklopfen. Sie träumt, sie wohnte wieder in ihrer alten, riesigen Wohnung und habe schrecklich viel zu erledigen. Müsste die Waschmaschine in Gang setzen, Einkäufe organisieren, das Mittagessen kochen. „Dann wache ich auf, und das Frühstück steht auf dem Tisch“, erzählt sie: „Und dann bin ich so unendlich erleichtert.“

„Ich bin so unendlich erleichtert“, sagt Frau Lierow

Drei Wochen nach ihrem Einzug ins Hospital zum Heiligen Geist kennt die 84-Jährige die meisten ihrer Flurnachbarn, von manchen sogar die Lebensgeschichte. Sie weiß auch längst, dass im Haus G noch 56 Mitbewohner leben, eine Frau über 100 ist. Und dass ihre Vorgängerin in Zimmer 14, alleinstehend, 92 Jahre alt, vor sechs Wochen an Herzversagen gestorben ist.
Gestern, zur Kaffeezeit, guckten zwei Enkel vorbei, die in der Nähe zur Schule gehen, vorgestern kamen Bekannte aus dem alten Stadtteil zu Besuch und fragten sie, wie sie sich eingewöhnt habe. Marianne Lierow hat einen Moment zur niedrigen Zimmerdecke geschaut, an die hohen Wände ihrer früheren Wohnung gedacht und einen kleinen Stich verspürt. Aber das ging ganz schnell vorbei.
Heute soll sie eine Großstadt mit F raten. „Frankfurt?“ Richtig. An welchem Fluss die liege? „Am Main, das ist ja kinderleicht.“ Das Gedächtnistraining, bei dem zehn Bewohner mitraten, gehört zum Freizeitangebot wie der Sitztanz und der Skatnachmittag. Wer fit ist, kann sogar Kegeln gehen. Frau Lierow hat sich zum Basteln, zum Singen und, vor allem, zum Englisch-Unterricht angemeldet. Sie will den Enkeln bei den Englisch-Hausaufgaben helfen. Und ärgert sich, dass die dazu keine Lust haben. Nach dem Abendessen zögert sie, wie geplant die Tochter in Kanada anzurufen. Die letzte Telefonrechnung war hoch, die Frau, die allein drei Kinder großzog, muss sparen.

Die Heimkosten, monatlich rund 2500 Euro, fressen trotz Zuschuss der Pflegekasse die Rente auf, für persönliche Extras wie Friseur oder Telefon bleibt so gut wie nichts übrig. Die beiden Söhne haben versprochen, zusammenzulegen und ein Taschengeld zu spendieren.
Beim Personal ist die Neue von Zimmer 14, Pflegestufe 1, sehr beliebt. Sie habe sich angepasst, sei immer so freundlich und bescheiden, lobt die Hausleiterin. Solches Verhalten erleichtere den harten, oft schwer auszuhaltenden Alltag gerade in Zeiten wie jetzt, wo doch gleich mehrere Heiminsassinnen kurz nacheinander verstorben seien. Auch im letzten Stadium sei jedoch niemand auf eine andere Station oder gar ins Krankenhaus verlegt worden. Im Haus G wird Wert darauf gelegt, dass die Bewohner in ihrem Zimmer sterben können.

Heimbewohner Lipowschek war es nicht vergönnt, in seinem Zimmer zu sterben. Er wurde eines Abends mit Magenschmerzen ins Krankenhaus eingeliefert, wo er tags darauf verstarb – ein halbes Jahr nach seinem Umzug.