Hamburgs heiße Kühlschränke

Import aus München: Die „Freezers“ bieten Eishockey als Event

(aus Hinz&Kunzt 132/Februar 2004)

Olaf Sausners Märchen vom Eisplaneten beginnt am 12. November 2002. An diesem Tag spielten die Hamburg Freezers das erste Mal in ihrer neuen Heimat, besiegten die Kölner Haie mit 5:4, und der 45-Jährige, Systemadministrator in einer behördlichen Datenzentrale, kam nach Hause und konnte nicht mehr sprechen. So sehr hatte er seine Stimme verausgabt beim Anfeuern der Eishockey-Cracks. „Da habe ich mich verliebt“, sagt der kräftige Mann mit dem wilden Bart und den auf die Schulter fallenden Haaren, um dessen Hals gleich sieben Fan-Schals hängen. Sausner besuchte fortan jedes Heimspiel der Hamburg Freeezers, und was sich seit jenem Tag entwickelt hat, betont er, das ist kein Hobby, „das ist eine Leidenschaft.“

Die Scheinwerfer erlöschen, gedämpftes Licht fällt auf die verwaiste Eisfläche. Eine tiefe Männerstimme füllt die riesige Halle: „Welcome on Planet Ice. Nirgends ist es eiskälter, nirgends sind die Spieler härter, nirgends ist die Stimmung besser… als in der Color Line Arena“, schallt es aus den Lautsprechern. Und dann, nach dem „Hier sind die Hamburg…“, rufen viele tausend Stimmen: „Freezers!“, die Cracks gleiten einer nach dem anderen elegant auf die Eisfläche, und blaue Leuchtstäbe und Wunderkerzen verwandeln die Zuschauerränge in ein Lichtermeer, während die Trommler im Fan-Block den Takt für die Anfeuerungsrufe vorgeben.

Rund 10.800 Menschen strömen durchschnittlich zu den Spielen der Freezers, nur Köln hat noch stärkeren Rückhalt in der Deutschen Eishockey-Liga (DEL). Und die „Eisschränke“ danken es ihren Fans: Nach einer Durststrecke haben sie zu alter Stärke gefunden und mit Hilfe einer Siegesserie den dritten Tabellenplatz erobert. Die Teilnahme an der Endrunde ist ihnen kaum mehr zu nehmen, sogar der Meistertitel scheint möglich…

Die zweite Saison erst spielen die Freezers in Hamburg – und sind kaum mehr wegzudenken. Dabei hätte es auch der Ruhrpott werden können. „Wenn die sagen, wir ziehen nach Wuppertal, dann fahre ich halt Schwebebahn“, sagte der sportliche Leiter Max Fedra im Sommer 2002 mit einem Galgenhumor, der die Umstände der Vereinsgründung durchaus trifft. Damals hießen die Hamburg Freezers noch München Barons und jagten dem Puck in der bayerischen Metropole hinterher – sehr erfolgreich, aber vor meist leeren Rängen. „Wenn du vor 1000 Leuten in einer 6000-Zuschauer-Halle spielst, ist das sehr frustrierend“, erinnert sich Torhüter Christian Künast an traurige Tage. Der Fußball-Gigant Bayern schien einfach übermächtig – mehrere Millionen Euro Verlust machten die Barons in den drei Jahren in München.

Da fügte es sich gut, dass der finnische Bau-Unternehmer Harry Harkimo in Hamburg gerade die neue Arena am Volkspark errichten ließ und noch einen Eishockey-Club suchte, der darin heimisch werden könnte. Harkimo kaufte sich bei den Barons ein, und die zogen um und verwandelten sich in die Freezers. „Unter dem Strich geht’s darum, dass die Zahlen stimmen“, erklärte kürzlich Detlef Kornett, Europa-Chef der „Anschutz Entertainment Group“, eines US-Firmenimperiums, dem neben den „Eisschränken“ und diversen amerikanischen Eishockey-Clubs auch die Berliner „Eisbären“ gehören.

Glaubt man den Machern des deutschen Eishockey, lässt sich in der Color Line Arena die Zukunft dieses Sports besichtigen: das „Event“ in der modernen Mulitfunktionshalle. Über dem Eis schwebt ein großer Videowürfel, der die Zuschauer zum Mitmachen animieren soll. Spielt der Gegner wegen eines Fouls in Unterzahl, leuchtet dort „Attacke!“ auf, und Film-Star Godzilla schlägt die Trommel auf den vier Bildschirmen, um die Stimmung anzuheizen. Drohen die Fans in ihren Schlachtgesängen zu erlahmen, lautet die Anweisung schlicht und einfach: „Steht auf!“ Und immer wenn die Schiedsrichter das Spiel unterbrechen, dudelt laute Pop-Musik aus den Lautsprechern, um die Pause zu füllen.

Freezers-Fan Richard Seher stört das nicht, im Gegenteil. Der 55-Jährige ist froh, „dass in Hamburg endlich wieder professionell Eishockey gespielt wird“. Viel früher hätte die Arena gebaut müssen, meint der technische Angestellte, der sich seinen Fan-Schal locker übers Jackett geworfen hat. Ihm ist „das Drumherum sehr wichtig“, etwa der Service der vier Restaurants und 16 Fast-Food-Outlets oder auch die Qualität der Halle. „Das funktioniert seit dem ersten Tag reibungslos.“ Und dass die Freezers eine zusammengekaufte Mannschaft ohne Einheimische sind, sieht der Fan ganz modern: „Beim HSV spielt auch kein Hamburger mehr, oder?“ Als Siebenjähriger hat Seher seine Liebe zum Eishockey entdeckt und selbst lange gespielt. Zwar sehe der Sport „extrem hart“ aus, meint der Kenner – „aber nur für Leute, die keine Ahnung haben.“ Aber anders als beim Fußball habe er in all den Jahren „noch keine einzige Prügelei“ zwischen Fans gesehen. „Vielleicht können die Zuschauer ihre Aggressionen beim Eishockey besser abbauen?“

Auch Olaf Sausner schätzt die familiäre Stimmung unter den Liebhabern des schnellsten Mannschaftssports der Welt. „Man singt oder schreit gegeneinander an, und in der Pause werden Freundschaften geschlossen“, erzählt er. Sausner hat mit 100 Gleichgesinnten die „Freezers Supporters“ ins Leben gerufen, eine Fan-Gemeinschaft „ohne Verpflichtungen und just for fun“. Dort hat er „Menschen kennen gelernt, die ich nicht mehr missen möchte“. Ralf Pellowski zum Beispiel, ein 45-Jähriger mit akkuratem Kurzhaarschnitt und freundlichem Lächeln, der bei den Spielen die Trommel schlägt und seine Brötchen als Abteilungsleiter in der Glas- und Gebäudereinigung verdient.

Pellowski geht manchmal auch zu den „Crocodiles“, die derzeit um den Aufstieg in die Regionalliga Nord kämpfen. Dass die schlechter Eishockey spielen als die Freezers, ist ihm egal. Doch die Atmosphäre ist einfach nicht vergleichbar: Ein paar Hundert Hartgesottene finden Platz in der kleinen Farmsener Eissporthalle, und wenn Ralf Pellowski dort steht, dann weiß er, warum er den Eisplaneten der Freezers so liebt: „Das ist einfach eine andere Welt.“

Ulrich Jonas

Besuch beim Volk

SPD-Spitzenkandidat Thomas Mirow stellt sich den Fragen von Hinz & Künztlern

(aus Hinz&Kunzt 132/Februar 2004)

Der Verkaufsraum von Hinz&Kunzt: Hier holen Verkäufer ihre Zeitungen ab, trinken Kaffee, rauchen, dösen oder diskutieren. Letzte Unklarheiten über die Hamburger Politik sind gerade ausgeräumt („Wie, ist nicht die SPD an der Regierung?“), als plötzlich ein Mann im Raum steht. Kaum jemand hat ihn eintreten sehen. Er sagt eine Spur zu entschieden „Guten Tag“, dann legt er den eleganten Mantel und seinen Schal ab.

„Herr Mirow, warum sollen Obdachlose SPD wählen?“ Thomas Mirow, 51, sozialdemokratischer Spitzenkandidat für die Bürgerschaftswahl, hat anders als Ole von Beust nicht gekniffen (siehe Seite 5). Jetzt steht er vor den Hinz & Kunzt-Verkäufern und sagt bedächtig: „Es tut weh, diese Frage zu beantworten, denn vieles, was für uns wichtig ist, ist für Sie nur begrenzt relevant.“ Dann holt er doch aus: „Die Richtung in der Sozialpolitik stimmt nicht mehr.“

Straßensozialarbeit, Winternotprogramm für Obdachlose, HVV-Sozialticket – überall sei gestrichen worden. Und der jetzige Senat suche das Gespräch mit den sozialen Einrichtungen nicht mehr. Warum heißt es dann im SPD-Wahlprogramm „Fördern und fordern“ – nicht anders als bei der CDU? „Das ist richtig, aber ein Unterschied bleibt: Wir nehmen das Fördern ernst.“

[BILD=#mirow2][/BILD]Wie geht es in der Innenstadt weiter? Haben Bettler und Obdachlose dort auch weiterhin Platz? Ja, sagt Mirow, er sei gegen eine Innenstadtverordnung, die in anderen Städten zum Beispiel das Übernachten im Freien verbietet. Aber ein Alkoholverbot für öffentliche Plätze will die SPD doch, oder? Mirow: „Ich habe mir über dieses Instrument noch keine abschließende Meinung gebildet.“ Streng setzt er nach: „Stark alkoholisierte Menschen in der Innenstadt sind ein Ärgernis.“ Die Bemerkung, dann sei es mit dem Stuttgarter Weinfest vor dem Rathaus wohl vorbei, quittiert er ohne Lächeln.

Wenn jemand nüchtern wirkt, dann Mirow. Der promovierte Politikwissenschaftler blickt auf eine glänzende Karriere im Hintergrund der Macht zurück. Er zog Fäden, ohne dafür ganz vorn zu stehen: als Büroleiter von Willy Brandt, Chef der Hamburger Senatskanzlei, Senator für Stadtentwicklung und Wirtschaft, als selbstständiger Politikberater. Doch jetzt muss Mirow selbst als Spitzenkandidat von allen Plakaten lächeln. Was hat ihn dazu gebracht? Berechnung? Parteidisziplin? Wenn es Leidenschaft ist, verbirgt er sie gut.

„Waren Sie schon mal im Landessozialamt?“, will Hinz&Kunzt-Verkäufer Peter Reinhardt vom Kandidaten wissen. „Nein, mein Weg hat mich bisher nicht dorthin geführt“, sagt Mirow. Reinhardt schildert die Zustände: stundenlange Wartezeiten, überlastetes Personal. Mirow nickt und sagt knapp: „Gut, dann hat Christian Bernzen was zu tun.“

Christian Bernzen steht neben ihm. Er ist in Mirows „Kompetenzteam“ für Soziales zuständig. Der 41-Jährige führt eine Anwaltskanzlei, die zahlreiche soziale Institutionen vertritt. Über die Wurzeln seines Engagements sagt er schlicht: „Ich bin ein Mann der katholischen Soziallehre. Das war familiär unausweichlich.“ Sein sozialpolitisches Credo: Hilfeempfänger ernst nehmen, sie nicht als Objekt staatlicher Zuwendung sehen, ihnen mehr Verantwortung geben, die Sozialpolitik entstaatlichen. „Viele Menschen leisten wichtige Beiträge, die gar nicht erkannt werden.“

In einer aktuellen Frage zeigt sich Bernzen gut informiert: Sozialhilfeempfänger, die viele Medikamente brauchen, müssen die Jahres-summe für Zuzahlungen manchmal schon im Januar aufbringen. Könnte da nicht das Sozialamt das Geld vorstrecken, fragt H&K-Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer. Ja, sagt Bernzen, das Bundesgesetz sehe diese Möglichkeit vor, Hamburg habe sie aber nicht umgesetzt. In der Deputation wolle er demnächst darauf hinweisen. „Schön, wenn wir ein Thema für den Wahlkampf haben. Aber noch schöner, wenn wir den Menschen schnell helfen könnten.“

Mirow erntet unterdessen Applaus für seine Ankündigung, die SPD wolle jährlich 2400 neue Sozialwohnungen fördern. Als Verkäufer Reinhardt sagt, er suche schon seit einem Jahr eine Wohnung, und das mit Dringlichkeitsschein, antwortet Mirow unerschütterlich korrekt: „Wo es Ansprüche gibt, ist die Stadt verpflichtet, ihnen zur Durchsetzung zu verhelfen.“

Nach 30 Minuten muss der Spitzenkandidat weiter. Beim Schlusswort wird es still im Raum. „Ich würde Ihnen gern den Eindruck vermitteln, dass ich nicht die Absicht habe, Ihnen das Blaue vom Himmel zu versprechen. Dazu ist Ihre Lage zu ernst.“ Die Sprache ist akademisch, die Botschaft kommt an. Die Verkäufer danken es mit Beifall.

Detlev Brockes

Und alles ohne Ole!

Geschichte eines nicht zustande gekommenen Interviews

Unser Draht ins Rathaus ist momentan so heiß wie nie. So oft, wie wir in den vergangenen Wochen mit der Senatskanzlei telefoniert haben, telefoniert man sonst nicht mal mit seinen besten Freunden. Natürlich gings um Ole – seit dem Start des Wahlkampfs („Ole wählen!“) darf man ihn auch offiziell so nennen. Schließlich wollten wir nicht nur den Herausforderer Thomas Mirow zum Hausbesuch einladen, sondern auch den Spitzenkandidaten der CDU.

Am Stehtisch im Vertrieb sollten sich die Spitzenkandidaten an unterschiedlichen Tagen den Fragen der Hinz & Künztler stellen. Reaktion von Senatssprecher Christian Schnee: „Das ist eine Gruppendiskussion“, beschied er. „Und das machen wir nicht.“ Auch terminlich sahs schlecht aus. „Schließlich muss Ole von Beust nebenbei regieren. Das ist bei Thomas Mirow ja nicht der Fall“, sagte Schnee spitz. Angebot zur Güte: Zwei Vertreter von Hinz & Kunzt dürfen den Bürgermeister besuchen. Verkäufer Peter Reinhardt bereitete sich intensiv vor. Akribisch schrieb er Fragen auf: Um die Abschaffung des Sozialtickets sollte es gehen, die Praxisgebühren – und die Frage: Sind Sie ein Bürgermeister der Armen?

Weils so speziell war, bat die Senatskanzlei um die Vorabsendung der Fragen – und verschob den Termin. Wir vereinbarten allgemeine Fragen – dachten aber nicht, selbst die vorab schicken zu müssen. Wieder wurde der Termin verschoben. Tja, und dann war Redaktionsschluss. Irgendwas ist immer.

Birgit Müller

Der Prinz von Barmbek

Ladeninhaber, Spediteur, Nachbar: Prince Shaaibu aus der Rümkerstraße

(aus Hinz&Kunzt 132/Februar 2004)

Eon | Hanse präsentiert Die Dart-Reportage: Hamburg hat viele unbekannte Ecken. Mit Häusern voller Geschichte und Menschen mit besonderen Lebensläufen. Um sie zu finden, werfen die Reporter einen Dartpfeil auf den Stadtplan. Die Geschichten erzählen von viel menschlicher Wärme oder dem Mangel daran. Diesmal: die Rümkerstraße in Barmbek.

Ajua Jibua, eine füllige Afrikanerin, betritt das kleine Geschäft. Sie entknotet das bunte Tuch vor ihrer Brust, zieht es über die Schulter nach vorn, und in dem Moment schlüpft aus dem Tuch ein kleines Mädchen, das gleich ganz mutig von der Mama wegläuft. Zusammen mit dem Ladenbesitzer Prince Shaaibu geht die Frau zu den Regalen. Die Okra-Schoten hat Prince nicht, aber er verspricht ihr, dass er sie besorgen wird. Nach einem kurzen Gespräch nimmt die Frau ein Glas Erdnuss-Creme, setzt sich auf einen der Stühle an der Kasse und holt das Geld heraus. Zeit für einen kleinen Schwatz.

Prince Shaaibu, in blauer Jeans, einem schwarzen T-Shirt und einer schwarzen Baseballmütze auf dem Kopf, ist kein richtiger afrikanischer Prinz. Den würde man wohl kaum hier treffen, in der Rümkerstraße in Barmbek-Nord, die eng von dunkelroten Backsteinhäusern umrahmt ist. Prince ist zwar sein richtiger Vorname, aber die meisten nennen ihn Babs.

Eine Tür weiter ist ein Döner-Laden, aber da sind Fremde unerwünscht. Ein Stehtisch draußen ist von den Stammgästen umlagert. Alle trinken Bier. Alle sind schon länger da. Dieser Stadtteil hat viele Arbeitslose. „Bevor ich hier eingezogen bin, standen noch mehr Tische da. Das war ein großer Treff für die, denen zu Hause langweilig ist, weil sie keinen Job haben“, sagt Prince. „Weil es meine Kunden gestört hat, habe ich sie gebeten auf die andere Straßenseite in den Park zu gehen. Sie haben es eingesehen.“

Eigentlich hat Prince ein Büro, von dem aus er Autos, Lastwagen und Container nach Westafrika und Dubai verschiffen lässt. „Die Autos sind Schrott“, sagt er. „Aber in Afrika ist nur wichtig, dass ein Auto Motor und Bremse hat.“ Die Fahrzeuge findet er in ganz Deutschland, viele kommen auch aus England. „Es ist viel kostengünstiger, die englischen Autos über Deutschland zu verschiffen als auf dem direkten Weg.“ Die Wagen aus England kommen nicht leer, sondern mit Produkten für den Laden. Prince denkt an alle Möglichkeiten, Geschäfte zu machen, auch an seine Kunden, die besondere Wünsche haben, wie Ajua Jibua.

Die Käufer aus Afrika finden zu dem Hamburger Spediteur „durch meinen guten Ruf. Es spricht sich schnell herum, wenn jemand zuverlässig und ehrlich ist“, sagt der 44-Jährige. Wenn ein passendes Fahrzeug gefunden ist, füllt Prince die Frachtpapiere aus und bringt sie zur Spedition und später zum Zoll. Die Autos, meist noch voll beladen mit alten, teilweise kaputten technischen Geräten, bringt er aufs Schiff. Die Autopapiere schickt er per Post zu den Kunden nach Afrika. Der Afro-Laden läuft erst seit etwa einem Jahr nebenbei. „Es war für mich einfach langweilig, den ganzen Tag am Telefon und PC zu sitzen“, sagt Prince. „Jetzt kommen Menschen zu mir, manche kaufen etwas, in dieser Gegend leben viele Afrikaner.“

Der Laden ist nicht groß. Vier Regale insgesamt. Eins ist besonders attraktiv: bunte Frauenbilder auf den Verpackungen von Haarglättern, daneben künstliche Zöpfe und Haare, Kakaobutter für die Haut und andere afrikanische Pflegekosmetik. Unten liegen riesengroße Säcke mit Reis, nicht nur afrikanische Sorten, sondern auch asiatische. Auf dem Fußboden ein Korb mit Zwiebeln, ein anderer mit Kochbananen. Gleich daneben, wie ein Eisberg, eine Tiefkühltruhe mit Fisch. Modische Sportschuhe stehen auf der Fensterbank.

Auf der Ladentheke steht rechts die Waage, links die Kasse, dazwischen liegt die ganze Welt in Form einer Karte. An der Wand hängen Preislisten für Telefonkarten, mit denen man günstig in der ganzen Welt telefonieren kann. Vor dem Tisch stehen zwei Stühle: Beim Einkaufen werden Neuigkeiten ausgetauscht, man lässt sich Zeit für ein Gespräch. Aus der Küche dringt afrikanische Musik. Prince kann sich wie in seiner Heimat fühlen. Die meisten afrikanischen Spezialitäten kommen aus England und nur wenige direkt aus Afrika. Prince selbst kommt aus Ghana. Was ihn nach Hamburg geführt hat? „Mein Onkel war hier. Ich wollte studieren, und er versprach mir, zu helfen. Als ich nach Hamburg kam, war er längst in Amerika.“

Prince war damals 25 und wäre auch nach Amerika gegangen, wenn er nicht Anke kennen gelernt hätte. Die junge Hamburgerin sah Prince in einer Disco, und sie wusste gleich, dass sie nur ihn und keinen anderen will. Nach einem Jahr heirateten sie. Prince machte eine Ausbildung als Schlosser, arbeitete als Treppenbauer in Blankenese. Nach zwei Jahren schwerer körperlicher Arbeit machte er sich selbstständig.

An das Leben in der Hansestadt konnte er sich lange Zeit nicht gewöhnen. Die deutsche Mentalität war ihm fremd. Aus diesem Grund weigerte er sich zunächst, Deutsch zu lernen. „Wer mich verstehen will, soll mit mir Englisch reden“, war damals seine Einstellung. Nach nunmehr 18 Jahren ist sein Deutsch fast perfekt. An die deutsche Mentalität hat er sich gewöhnt, auch wenn sie ihm nicht gefällt. „Wenn mir in Afrika eine Zwiebel im Haushalt fehlt, dann gehe ich zur Nachbarin aber hier…“ Prince schüttelt resigniert den Kopf.

Jeden Monat schickt er seinen Eltern und Geschwistern in Ghana 50 Euro. So viel reicht dort für alle. Sein Traum ist es, irgendwann zurück nach Ghana zu gehen, aber er weiß, dass es wahrscheinlich nur ein Traum bleibt. „Zu Hause ist alles anders geworden, alle meine Freunde sind weggegangen, ich bin dort ein Fremder.“ Einmal im Jahr fährt der dreifache Vater mit seiner Familie in seine alte Heimat. Aber bevor traurige Gedanken aufkommen können, kommt der nächste Besucher.

„Hi, Chef!“, sagt der Mann und grinst. „Mister Brown!“, grüßt Prince zurück. Die beiden lachen sich an. Mister Brown lässt sich auf den Stuhl fallen und wirft den Schlüsselbund auf den Tisch. Er hat einen anstrengenden Tag hinter sich. „Babs ist mein Chef“, sagt Mister Brown, „ich bringe für ihn Lastwagen in den Hafen, weil Babs keinen Lkw-Führerschein hat. Babs erledigt die Formalitäten, aber ich habe mit den Zollbeamten zu tun. Was sind das bloß für Bürokraten?“ Der Mann aus Ghana im Jeansanzug, obligatorischer Baseballmütze und goldenem Kopf eines Indianer-Häuptlings um den Hals, spricht mit seinem Landsmann Englisch.

Zum Abschied zeigt Prince auf der Weltkarte sein Heimatland Ghana. „Fahren Sie mal hin“, sagt er und lächelt. „Sie werden nicht zurückkommen wollen, so schön ist es!“

Luba Dmitrieva

Gerhards Mission

In Salzburg verkauft er Straßenmagazine – in Indien hilft er armen Familien

(aus Hinz&Kunzt 132/Februar 2004)

Der Container ist angekommen. Jetzt muss er nur noch durch den Zoll. Gerhard Entfellner, Verkäufer des Salzburger Straßenmagazins „Apropos“, hat ihn von Österreich nach Indien geschickt – beladen mit Werkzeug, alten Nähmaschinen, Decken und Kinderpielzeug. Vor Ort verteilt der 39-Jährige die Hilfsgüter an arme Familien. Einige von ihnen kennt er seit Jahren, sie sind seine Freunde. Andere trifft er jetzt zum ersten Mal.

„Im Dorf haben sie einen Hahn für mich geschlachtet“, sagt Gerhard Entfellner laut und übertönt für einen Augenblick die Hindi-Popmusik, die aus den Lautsprechern des Jeeps scheppert. Stolz erzählt er mit ruhiger, angenehmer Stimme von den abenteuerlichen Erlebnissen mit seinem Hilfsprojekt in Karnataka, einer Provinz in Südindien. Er schmunzelt über Ramesh, der vorne auf dem Beifahrersitz ganz in der Musik aufgeht und mitsingt. Den 25-Jährigen kennt Gerhard schon lange. Er begleitet ihn. Ramesh spricht Hindi, Karnatak, die lokale Sprache, und ein bisschen Englisch. Er dolmetscht, und Gerhard zählt auf seinen Rat.

In der Mittagshitze klettert die kleine Delegation, angeführt vom ortsansässigen Sägewerksbesitzer, aus den Autos und besichtigt ein Dorf in trockener weiter Landschaft.

„Es fing mit einer Wirbelsäulenoperation an, als ich 18 war“, eröffnet Entfellner seine Geschichte. Zu 70 Prozent ist er invalid. Seine seltsam aufrechte und starre Haltung rührt von einer versteiften Wirbelsäule. Durch seine Krankheit habe er erfahren, was es bedeute, immer kämpfen zu müssen, schwach und ausgegrenzt zu sein. Er fühle sich den Armen der Gesellschaft verbunden, sagt er. In Österreich ist er mit einer Invalidenrente von 620 Euro im Monat selbst arm. Das Salzburger Straßenmagazin verkauft er schon seit Jahren.

Hier in Indien empfängt er kein Geld auf der Straße, sondern verteilt es. Rollenwechsel. Jedem Kind, jedem Bettler drückt er ein paar Rupienmünzen oder einen Schein in die Hand. Als er vor sechs Jahren das erste Mal in Indien war, lag Gerhard wie Tausende anderer Touristen unter Palmen am Strand. Er sprach mit den Kindern, die Stoffe und Kleidung anpriesen. Sie freundeten sich an. Er lernte ihre Familien und ihre Armut kennen. Sie baten ihn um Hilfe, und Gerhard wollte helfen. Die Kinder sollten zur Schule gehen, statt für den Lebensunterhalt der Familie zu arbeiten.

Der entscheidende Moment war, als eine der jungen Frauen hinter ihm herlief, ihn kurz vor seiner Abreise aufhielt. „Bitte bleib’ – und bring mir Lesen und Schreiben bei“, habe die damals 16-jährige Renuka zu ihm gesagt. Er blieb und unterrichtete sie. Er fühlt sich als Freund der Familien. Der auffällige eckige Goldring, den er trägt, ist ein Geschenk von ihnen und Symbol ihrer Verbundenheit. Renuka hat ihn ausgesucht.

Inzwischen hat Gerhard Entfellner das Hilfsprojekt „Karnataka“ gegründet. Viele Gespräche hat er mit den Familien geführt, um mit ihnen gemeinsam herauszufinden, was genau helfen würde. Schließlich haben sie zusammen einen Brunnen gebaut, mit dem ein Feld bewässert werden kann, dessen Erträge den Brotbedarf einer Großfamilie für ein Jahr decken. Sie haben Häuser renoviert und neue Grundstücke erworben. Er selbst unterstützt die Ausbildung eines jungen Mannes an einer weiterführenden Ingenieursschule. Von Anfang an sei für ihn klar gewesen: „Wenn man den Kindern helfen will, dass sie in die Schule gehen, muss man zuerst den Eltern helfen.“

Gerhard nimmt seine Mission ernst. Persönliche Bereicherung liege ihm fern, sagt er und greift zu seiner Mappe, um die Kostenaufstellungen zu präsentieren. Sein Profit liegt auf einer anderen Ebene. Er sagt, er würde geistige Geschenke empfangen. Sichtbar genießt er das Interesse, den Respekt und die Anerkennung, die ihm für sein Engagement entgegengebracht werden. „In Österreich zählst du nichts als Straßenzeitungsverkäufer. Das ist hier anders, hier respektiert man mich.“ Jetzt wird sogar ein Film über ihn gedreht: In Karnataka begleitet ihn Wolfgang Haberl, ein ebenfalls aus Salzburg stammender Dokumentarfilmer.

Die Spenden für sein Hilfsprojekt kommen bisher vor allem von seinen Kunden, den Käufern und Lesern der Salzburger Straßenzeitung. Nicht alle seien reich, aber einige, sagt Gerhard. Wie Robin Hood bringt er das Geld von den Reichen zu den Armen. Doch er hat den Spendern nicht die Waffe vorgehalten, sondern den Menschen von seinem Projekt erzählt und darüber geschrieben. Jetzt ist bereits der zweite Container in Indien angekommen. Wie im vergangenen Jahr organisiert Gerhard vor Ort die Verteilung der Sachspenden, die er mit Freunden und Unterstützern in Salzburg gesammelt hat.

Die kleine Delegation um Gerhard ist mittlerweile im dritten Dorf angekommen. Die Situation ist hier besonders prekär, die Armut groß: Die Dorfbewohner haben kein eigenes Land. Wenn sie Arbeit haben, dann als Tagelöhner in der Landwirtschaft, wo sie etwa 50 Rupien (entspricht einem Euro) am Tag verdienen. Es gibt keinen Brunnen im Dorf. Die Dorfbewohner versammeln sich stumm, keiner von ihnen trägt Schuhe.

Der fast zahnlose Dorfälteste tritt vor und schildert die Situation. Der sonst so gelassene Gerhard Entfellner ist unruhig, sichtlich berührt von der Situation. Wolfgang Haberl, der Filmer, beobachtet durch den Sucher seiner Kamera die Kinder und raunt einen schlimmen Verdacht: „Ich könnte mir vorstellen, dass das alles Show ist, gestellte Traurigkeit.“ Gerhard sucht Blickkontakt mit seinem Vertrauten Ramesh. Der nickt: „very poor“. Dem Dorfältesten drückt Gerhard einen 50-Rupien-Schein in die Hand und entscheidet, einen Teil der Hilfsgüter hierher zu bringen. Im Zweifel für den Angeklagten.

Später, im Jeep, sagt er, dass er die Menschen kennen lernen wolle. Es sei gewiss nicht sein letzter Besuch gewesen. „Ich nehme immer erst mal das Gute an und prüfe dann.“

Annette Scheld

Männer an ihren Grenzen

Das „Herz As“ hat seine eigene Fußballmannschaft

(aus Hinz&Kunzt 132/Februar 2004)

Die Stimmung in der Kabine ist so kämpferisch, wie sie nach einer anstrengenden Halbzeit in eisiger Kälte eben sein kann. „Sie sind zu schnell!“, stöhnt Rolf über die Gegner. Mit 52 Jahren ist der Träger eines extravaganten Schnurr- und Backenbarts der Älteste auf dem Platz. Und als Torwart hatte er in der ersten Halbzeit viel zu tun. Auch der Rest der Mannschaft ist ziemlich fertig, vor Anstrengung, aber auch, weil der Ball nicht im gegnerischen Tor gelandet ist. Andreas Bischke schwört sein Team auf eine neue Strategie ein: „Wir spielen jetzt mit zwei Spitzen, Jens kommt mit nach hinten.“ – „Den Spieler mit der Nummer fünf manndecken.“ – „Und sich mehr anbieten.“ – „Kämpfen.“ Normalerweise ist Bischke Sozialarbeiter in der Tagesaufenthaltsstätte „Herz As“ und hat immer ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte der Wohnungslosen. Jetzt ist er Coach – da ist zu viel Nachsicht nicht angebracht. Halbzeitpause vorbei, raus in die Kälte, raus aufs Feld.

Sie nennen sich „Herz-As-Chaoten“. Und bezeichnen sich auf ihrer Homepage augenzwinkernd als „dritte Macht an der Elbe“, nach dem HSV und dem FC St. Pauli. Zusammengewürfelt aus fußballbegeisterten Besuchern und Mitarbeitern des Herz As tritt die Mannschaft gegen Hamburgs Freizeitvereine an. Gegner ist heute St. Pauli, zwar nicht die erste Mannschaft, aber „Trainer und Verbündete“, eine Truppe Pauli-Mitarbeiter um Jugendtrainer Andreas Bergmann.

Schauplatz ist das St.-Pauli-Jugendleistungszentrum am Brummerskamp. Grün strahlt der Kunstrasen unter dem gleißenden Flutlicht. Dass es bitterkalt ist, merken die Spieler weniger als das Grüppchen treuer Fans, die trotz der Minusgrade zum Spiel gepilgert sind. Alle vom Herz As, manche, wie Tanja, lassen sich sogar kein Training ihres Vereins entgehen. Weil ihr Verlobter René auf dem Platz steht. Ihr Tipp für den Spielausgang: „Gewinnen wird wahrscheinlich leider St. Pauli. Aber es geht ja nicht ums Gewinnen.“

Worum es eigentlich geht, erklärt Traudel Schönsee. Die Herz As-Mitarbeiterin regte die Bildung der Freizeitmannschaft an und lässt jetzt kein Spiel aus. „Die Leute sind plötzlich für Beratungsgespräche zugänglicher“, sagt Schönsee, „durch gemeinsames Erleben kommt man besser an die Wohnungslosen ran.“ Außerdem tut Sport gut: „Ich finde die Chaoten schon allein wegen der Kondition klasse, schau dir an, wie die wetzen. Wenn ich den einen oder anderen dann im Herz As sehe, kann ich nur den Kopf darüber schütteln, wie lahmarschig die sonst sind.“ Und die Disziplin der Freizeitkicker erstaunt sie: „Alle fügen sich in die Gruppe ein, keiner sagt: ,Es ist zu kalt und ich bleibe zu Hause.‘“

Auch Herz-Asler Raimund ist als Schlachtenbummler bei allen Spielen dabei. Beeindruckt hat ihn vor allem das Match gegen die Altherren-Mannschaft des HSV: „Da waren 50 Zuschauer, und sogar der Schiedsrichter war auf unserer Seite.“ Hinter vorgehaltener Hand habe er am Ende des Spiels gesagt, dass er Elfmeter gepfiffen hätte, wenn die Chaoten kein Tor gemacht hätten. War aber nicht nötig, das Spiel ging 2 zu 9 aus. „Wenn ich bei Günther Jauch gewinne, spendiere ich den Chaoten eine eigene Arena“, sagt Raimund und lacht: „In Herzform.“

Und plötzlich: „Tor!“ Für die Chaoten. Der Befreiungsschlag. Raimund reißt die Arme hoch. Zwar ist es schwer, beim 1 zu 10 schon von einem Anschlusstreffer zu sprechen, aber vielleicht platzt jetzt der Knoten. „Einer geht noch, einer geht noch rein!“, skandiert Raimund. Auch wenn es nicht ums Gewinnen geht. Das Tor war wichtig. Es beflügelt die Mannschaft. Vor allem René, der Rolf im Tor abgelöst hat, wirft sich jetzt nach jedem Ball. Auch die anderen geben keinen Zweikampf verloren. Weil es so kalt ist, scheinen die Körper durch den Schweiß zu dampfen. „Nach dem ersten gemeinsamen Training“, erzählt Andreas Bischke, der an der Seitenline auf und ab geht und seinen Spielern Kommandos zuschreit, „hatte ich bei manchen Angst, dass ich sie hinterher reanimieren muss.“ Heute rennen die Spieler ohne größere Schwierigkeiten über die ganze Zeit. Wenn die Gelenke mitmachen. „Es schmerzt schon, dass ich jetzt nicht mitspielen kann“, sagt Uwe, der neben dem Trainer steht, „aber mein Knie tut schon seit ein paar Monaten weh, da darf ich nichts riskieren.“

Das Spiel gegen Pauli geht 3 zu 13 aus. Zurück in der Kabine zollt Andreas Bergmann von St. Pauli dem Gegner Anerkennung: „Dafür, dass die nur einmal die Woche trainieren, war das schon richtig gut.“ Dann wird gemeinsam gefeiert und über das Spiel gefachsimpelt. St. Pauli spendiert zwei Kästen Bier. „Prost Jungs!“, sagt Andreas Bergmann, und die Bierflaschen werden begeistert in die Höhe gereckt. Ein kühles Bier bei minus zwei Grad Außentemperatur – das tut wohl nur gut, wenn Männer an ihre Grenzen gegangen sind.

Marc-André Rüssau

Profis in der verkehrten Welt

Hinz & Kunzt hat bei den Proben zur Kinderoper „Der 35. Mai“ zugesehen

(aus Hinz&Kunzt 132/Februar 2004)

Noa ist unzufrieden: „In dem anderen Probenraum hat das alles viel besser geklappt. Hier muss man sich jetzt völlig neue Wege merken.“ Ein Problem, das Theaterleuten vertraut ist. Doch der Achtjährige, der jetzt ein unglückliches Gesicht macht, ist noch nicht so lange im Geschäft. Während sich Adam, Fabian, Liza, Frédéric und die meisten anderen Darsteller schon von „Cinderella“ kennen, ist „Der 35. Mai – oder Konrad reitet in die Südsee“ für den blonden Jungen die erste Opernproduktion.

Verbrechen der Wehrmacht

Einführung

(aus Hinz&Kunzt 132/Februar 2004)

„Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944“ – so lautet der Titel der neu konzipierten Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung (HIS). Auf Grundlage des damals geltenden Kriegs- und Völkerrechts dokumentiert sie die teils aktive, teils passive Beteiligung der Wehrmacht an den im Zweiten Weltkrieg verübten Verbrechen. Am Beispiel der Kriegsschauplätze in Ost- und Südosteuropa zeigt sie auf 1000 Quadratmetern sechs Dimensionen des Vernichtungskrieges: Völkermord an den sowjetischen Juden, Massensterben der sowjetischen Kriegsgefangenen, Ernährungskrieg, Deportation von Zwangsarbeitern, Partisanenkrieg, Repressalien und Geiselerschießungen. Darüber hinaus verdeutlicht sie, dass jeder Wehrmachtsangehörige Handlungsspielräume bei der Befolgung verbrecherischer Befehle hatte.

„Preußische Offiziere meutern nicht!“

Erich von Manstein – ein Kriegsverbrecher und Ehrenmann

(aus Hinz&Kunzt 132/Februar 2004)

Er galt als brillanter Kopf, als Ehrenmann, sowohl die Nazis als auch die Widerstandskämpfer vom 20. Juli wünschten sich ihn als Oberbefehlshaber des Militärs. Er beriet Adenauer und wurde von Churchill unterstützt – und trotzdem war Erich von Manstein ein Kriegsverbrecher, der für den Tod ungezählter Kriegsgefangener und Zivilisten in seinem Bereich verantwortlich war. 1949 stellten die Briten ihn in Hamburg vor Gericht.

Parteien-Check zur Wahl

(aus Hinz&Kunzt 132/Februar 2004)

Zum zehnjährigen Bestehen von Hinz&Kunzt haben wir zehn Wünsche für Hamburg für Hamburg veröffentlicht. Einige Forderungen finden parteiübergreifend Zuspruch. Hier die Antwort der Bürgerschaftsfraktionen.

Nr. 1: Die Krankenstube für Obdachlose ist hoffnungslos überfüllt.

H&K fordert: Mehr Betten für kranke Obdachlose.

Letzte Ausfahrt Freihafen

Auf einem Abstellplatz warten osteuropäische Kraftfahrer auf die Reparatur ihrer maroden Fahrzeuge

(aus Hinz&Kunzt 132/Februar 2004)

Sie sind lebensgefährlich für ihre Fahrer und andere Verkehrsteilnehmer: schrottreife Lastwagen osteuropäischer Speditionen. Für viele ist im Freihafen Endstation, seit die Wasserschutzpolizei verstärkt kontrolliert. Leidtragende sind die Fahrer, die manchmal monatelang in Hamburg bleiben müssen, bis die Speditionen Geld für die Reparatur überweisen.

Die rechte Hand, schwarz von Öl, greift zum Küchenmesser. „Klar, das Auto ist nicht ganz in Ordnung“, sagt Sergej und fischt mit dem Messer Schmierfett aus einer Büchse, „aber es fahren 1000 deutsche Autos rum, bei denen es genauso ist.“ Der 33-Jährige kauert unter seinem Lastwagen und verteilt das Fett an der Hinterachse. Seit drei Tagen schraubt er an seinem Fahrzeug. Morgens um neun Uhr kriecht er unter den Wagen. Dort arbeitet er bis halb elf abends und schläft dann auf der Pritsche im Führerhaus. In spätestens vier Tagen will er wieder weg sein aus Hamburg. Bis dahin hat er eine lange Mängelliste abzuarbeiten.

„Ein Reifen war nicht in Ordnung“, sagt er. Und etwas mit der Bremse. Und noch ein paar Kleinigkeiten. „Aber alles kein Grund, um nicht weiterfahren zu können“, findet Sergej – dabei ist allein die defekte Bremse lebensgefährlich. Sergej ist wütend, obwohl er es noch am besten getroffen hat von den Fahrern, die im Freihafen bei ihren Fahrzeugen ausharren, die der TÜV als verkehrsuntauglich eingestuft hat: Er kann Deutsch – als einziger hier – und kennt sich mit seinem Wagen so gut aus, dass er ihn selbst reparieren kann. Vor allem aber ist er Single, keine Familie wartet zu Hause auf sein Gehalt.

Richtig los ging es im Juli vergangenen Jahres. Unter dem Eindruck mehrerer Unfälle mit schrottreifen Bussen begann die Wasserschutzpolizei, auch auf die Lastwagen ein strengeres Auge zu werfen, die im Freihafen Ladung abholen. Immer, wenn ein Lkw auffällt, wird er zum TÜV geschickt. „Bisher wurden dann auch bei fast jedem kontrollierten Auto erhebliche Mängel festgestellt“, sagt Kai Bernsdorf. Er ist Prokurist der Firma „BaLü Nutzfahrzeuge“. Ein großer Betonplatz dieser Firma ist Endstation der beanstandeten Fahrzeuge. Hier bleiben sie, bis sie entweder repariert oder mit einem Schlepper abgeholt werden. Beides ist nicht billig. Die osteuropäischen Speditionen, für die die meisten Wagen hier fahren, können dieses Geld nicht aufbringen, oder zumindest nicht sofort. Deswegen ist das „BaLü“-Gelände gut gefüllt.

Auf den ersten Blick könnte man es auch für einen ganz normalen Lkw-Stellplatz halten. Unwirtlich, von einem hohen Zaun umschlossen. Aber einiges verrät, dass die Männer, die in Gruppen bei ihren Wagen stehen, hier leben. Über abgeklappten Scheibenwischern hängen Pullover und Hosen zum Trocknen. Manchmal taucht in einem Führerhäuschen ein Kopf auf, der verschlafen guckt und dann wieder abtaucht. Zwei Fahrer verlassen gerade mit einem weißen Kanister das Gelände – Wasser holen. Sozialer Mittelpunkt des Lkw-Platzes ist die „Küche“: ein abgekoppelter leerer Anhänger. Durch seine gelbe Plane fällt warmes Licht ins Innere. Hier stehen Emailletöpfe mit Blumenmuster, Plastikschüsseln, um in ihnen abzuspülen, allerlei Dosen mit Vorräten, Wasserkanister und Geschirr. Fast ein bisschen wohnlich wird das ganze durch die Kabeltrommel, die vor dem Anhänger als Tischchen dient, samt Gartenstuhl. Hinter dem Wagen ist eine Chemie-Toilette aufgebaut. „Die Toilette für alle Fälle“ steht quer über der Tür. Und zwei Piktogramme: männlich und weiblich, eine Unisextoilette. Unnötig, hier leben nur Männer.

Vor dem „Versorgungswagen“ erzählen zwei Fahrer davon, wie hoffnungslos die Lage für sie ist. Valeri und Victor aus Weißrussland. Sie sind schon drei Wochen hier. Und rechnen damit, auch noch einige Zeit zu bleiben. Valeri hat Glück, seine Frau arbeitet, deswegen kommt sie auch ohne ihn über die Runden. Bei Victor sieht das anders aus. Seine Frau arbeitet nicht, außerdem hat er zwei Kinder. Die Familie lebt vom Ersparten. Danach werden sie sich etwas von Nachbarn oder Freunden leihen müssen. Das Geld, das er für die Fahrt nach Deutschland bekommt, hat er in den vergangenen Wochen längst in Hamburg ausgegeben. Wie lange er noch bleiben muss, weiß er nicht: „Die Chefs entscheiden alles. Wir spielen keine Rolle.“ Manche Fahrer sind sofort weg, weil sie die Erlaubnis erhalten, ihren Lkw zurückzulassen. Andere – dazu gehören Valeri und Victor – müssen eben abwarten. Wer will schon seinen Job riskieren?

Also versuchen sich die Fahrer mit ihrem Alltag im Freihafen zu arrangieren. Hilfe kam zunächst von der Hamburger Tafel, die den Fahrern Nahrung brachten. Mittlerweile liefert die Tafel allerdings nicht mehr. „Das war eine Entscheidung, die uns sehr weh getan hat“, erklärt Tafel-Chefin Annemarie Dose, „doch sie war nötig. Sonst ist die Stadt nie gezwungen, Druck auf die Speditionen auszuüben.“ Die Sozialbehörde wiederum lobt zwar ausdrücklich das Engagement der Tafel, führte auch Gespräche mit BaLü, um den Fahrern die Möglichkeit zu geben, Duschen der Firma zu benutzen. Zu mehr fühlt sich die Behörde nicht in der Lage. „Die Stadt hält sich aus der ganzen Sache fein raus“, meint Prokurist Kai Bernsdorf.

Den Fahrern bleibt nur: abwarten. In quälender Ungewissheit. Darüber, wann sie abfahren können. Und darüber, wie es zu Hause ist. Denn wie die Familie daheim zurechtkommt, wissen die Fahrer oft nicht genau. Zwar sind sie mit Handys ausgestattet, die aber gehören meist der Spedition – die Privatgespräche verbietet. Auch die Kälte macht den Männern zu schaffen. Weil teurer Sprit fehlt, können sie die Heizungen in ihren Wagen nur selten laufen lassen. „Hier wurden auch schon Partys gefeiert“, sagt Bernsdorf, was wohl eher den Umstand beschönigt, dass Alkohol für einige die einzige Möglichkeit ist, ihre Situation auszuhalten. „Was bleibt denn, außer trinken?“, kommentiert ein Fahrer.

Einige haben das Gefühl, dass auch in Deutschland mit ihrer Situation ein Geschäft gemacht wird. Valeri zeigt eine Visitenkarte mit kyrillischen Schriftzeichen und einer Adresse in Hamburg. Diese Werkstatt würde die Reparatur viel günstiger machen als „BaLü“. Nur die paar Kilometer vom Freihafen bis zur Werkstatt sind für die Fahrer, die mehrere hundert Kilometer aus Weißrussland zurückgelegt haben, unüberwindbar. Die Wagen müssten dorthin geschleppt werden – und dazu fehlt das Geld.

Heute kann ein Fahrer samt Lkw den BaLü-Betonplatz verlassen. Einer, für den die Reparatur sowieso zu teuer war. Er wird nach Kiel geschleppt und dort auf ein Schiff verladen. Ziel ist Litauen. „Da bekommt man schon fix Mitleid mit den Leuten, vor allem, weil man selbst Familie hat“, sagt Reiner Grimm. Die Firma, für die er arbeitet, übernimmt den Abtransport. Zwar sieht der Techniker auch die Mängel, die die Wagen haben: „Aber die Fahrer können nichts dafür, die werden ja nur damit losgeschickt und sind froh, wenn sie Arbeit haben.“ Vielleicht wird der Lkw in Litauen repariert. Bernsdorf hält das aber für unwahrscheinlich: „Die kommen da gleich wieder auf die Straße und fahren weiter.“ Vielleicht sogar zurück nach Deutschland.

Marc-André Rüssau