Die Nonne von St. Pauli

Im Haus Bethlehem arbeitet Schwester Marie-Claire vom Mutter-Theresa-Orden

(aus Hinz&Kunzt 130/Dezember 2003)

Heiraten wollte sie eigentlich und Kinder haben. „Viele Kinder“, sagt Schwester Marie-Claire enthusiastisch. „Ich liebe Kinder.“ Aber alles kam anders. Heute lebt die 52-Jährige als Schwester im Mutter-Theresa-Orden und leitet bis Ende des Jahres die Übernachtungsstätte Haus Bethlehem auf St. Pauli.

Vom anderen Stern

Warum der Schanzenpark ohne ein Hotel im Wasserturm viel schöner ist

(aus Hinz&Kunzt 130/Dezember 2003)

Für Parks werden ja bislang noch keine Sterne verteilt. Doch wenn es welche gäbe, dann würde der Schanzenpark wahrscheinlich mit fünf Sternen ausgezeichnet – jedenfalls von denen, die ihn nutzen. Zwar gibt es hier keine Springbrunnen, keine raffinierten Rabatten wie in Planten un Blomen und auch keine weitschweifige Wegeführung mit spektakulären Aussichten wie im Jenischpark. Nein, der Schanzenpark besteht aus drei Rasenflächen, die am Ende des Sommers ziemlich abgeschabt sind, Bäumen, die alt genug sind, um Schatten zu werfen, es aber auch nicht übel nehmen, wenn sie mal einen Ball an die Krone kriegen, zwei eingezäunten Spielplätzen und zwei Fußballfeldern. Und natürlich aus dem fast 100 Jahre alten Wasserturm, immerhin der größte Europas. Der soll nun ein Vier-Sterne-Hotel werden.

Bis jetzt thront er als eine Art Wahrzeichen fürs ganze Viertel mitten im Park auf dem Hügel und versucht, sich nicht anmerken zu lassen, dass weder die städtische Denkmalpflege noch sein stolzer Besitzer in letzter Zeit viel für ihn getan haben. An seinem Fuß entsteht in den seltenen schneereichen Wintern eine der längsten Rodelbahnen der Stadt. Im Sommer findet unter seinen Augen all das statt, was den Park zur Fünf-Sterne-Anlage macht: Menschen jeden Alters, meist männlich, rennen Bällen unterschiedlichster Größe hinterher, werfen mit Boule-Kugeln oder Frisbee-Scheiben. Andere rennen sich die Lunge aus dem Leib. Auf dem Hang sitzen Trommler, Jongleure, Biertrinker, Kaffeetrinker, Teetrinker und auch Kiffer. Kinder erproben die Geländetauglichkeit von Bobbycars, Dreirädern und ihrem ersten Fahrrad, Hunde lernen zu apportieren – oder auch nicht. Männer, Frauen und Kinder sammeln sich um Feuerstellen mit riesigen Fleischstücken. Einzelgänger lesen, Pärchen liegen stundenlang bewegungslos auf dem Rasen. Manche, zu wenige eigentlich, küssen sich auch. Dazwischen laufen von Zeit zu Zeit Männer umher, die so unauffällig aussehen, dass sie nur Zivil-Polizis-ten sein können.

All das passiert auf insgesamt knapp acht Hektar, ohne dass es zwischen den unterschiedlichen Nutzern bisher zum offenen Krieg gekommen wäre. Manche glauben deshalb, der Park verfüge über geheimnisvolle Kräfte und dehne sich bei schönem Wetter vielleicht einfach aus. Ein Gutachten von 1996 stellt nüchterner fest, der Park sei gewissermaßen „übernutzt“.

Jürgen Mantell, Leiter des zuständigen Bezirksamts Eimsbüttel, weiß das. Er hat nämlich auch keinen Garten und läuft „des öfteren auch privat durch den Park“. Trotzdem findet er es kein Problem, ausgerechnet hier ein Vier-Sterne-Hotel zu bauen, sondern freut sich, „dass jetzt endlich was passiert mit dem Turm“. Schließlich hatte man den schon 1990 für 39.000 Mark an den Münchner Investor Ernst Joachim Storr verkauft. Der sollte ihn nutzen und dadurch erhalten, ließ ihn aber so lange weiter verrotten, dass einige im Bezirk schon darüber nachdachten, ihm die Baugenehmigung zu entziehen.

Doch bevor es soweit kam, tat Storr sich mit dem Schweizer Hotel- und Gastronomie-Unternehmen Mövenpick und der Augsburger Immobilien-Gruppe Patrizia AG zusammen. Die wollen im nächsten Frühjahr die Bagger anrücken lassen. 16 hundertjährige Bäume werden gefällt, und mindestens eine Saison lang wird der Hügel dann Baustelle sein. Denn im Wasserturm sollen auf 16 Stockwerken 226 Zimmer entstehen, darunter acht Juniorsuiten und zwei Towersuiten. Natürlich wird es ein Fitnesscenter geben, ein Restaurant mit 150 Plätzen und Terrasse, eine Tiefgarage und einen unterirdischen Zugang von der zur Bahn hin gelegenen Seite. Dort, am Rande des Parks, soll sich die Hotellobby befinden, von der aus die Hotelgäste auf 75 Meter langen Rollbändern ins eigentliche Turm-Gebäude gebracht werden.

Wie viele Millionen dieser aufwendige Umbau genau kostet, will die Patrizia AG nicht verraten, aber es sei auf jeden Fall teurer als ein Neubau. Auf schriftliche Nachfrage – denn zum Telefonieren hat er keine Zeit – lässt Projektleiter Jürgen Kolper dann noch wissen, dass kein Zaun, sondern nur ein Sichtschutz die Hotelterrasse vom Park trennen soll. Und dass er den Park natürlich kenne und schätze, und zwar ganz besonders die Spielplätze und die Schanzenspiele.

Nein, natürlich solle die bisherige Nutzung des Parks durch das schicke Hotel nicht beeinträchtigt werden, versichert auch Bezirksamtsleiter Mantell. Das habe er extra in den Vertrag schreiben lassen, „da ist der Trommler sogar als Beispiel wörtlich erwähnt.“ Klingt fortschrittlich. Allerdings nur, wenn man nicht weiß, dass in dem Vertrag auch mal stand, dass der Käufer des Wasserturms verpflichtet ist, mindestens 50 Prozent des Gebäudes für öffentliche Nutzung zur Verfügung zu stellen. Ja, dieser Passus habe leider geändert werden müssen, sagt der Bezirksamtsleiter. „Mitte der 90er-Jahre sagte Herr Storr, wegen der gesunkenen Gewerbemieten könne er den Turm nur noch finanzieren, wenn er ihn zu 100 Prozent als Hotel nutzen dürfe.“ Deshalb habe man den städtebaulichen Vertrag geändert und den Investor verpflichtet, zwei Millionen Mark, also eine Million Euro für den Stadtteil bereitzustellen.

„Was sind solche Verträge denn wert, wenn sie jederzeit geändert werden können“, regt sich Ralf auf. Ralf wohnt seit 20 Jahren im Viertel, und seine Tochter ist quasi im Schanzenpark groß geworden. Zusammen mit anderen hat er sich im vergangenen Sommer erfolgreich darum gekümmert, dass der kleine Park hinter der Flora wieder von den Anwohnern genutzt wird. Jetzt sorgt er sich, dass all die Versprechungen von „Bestandsschutz“ nichts wert sind. „Wenn sich die Hotelbetreiber das erste Mal ernsthaft über Lärm oder sonst was beschweren, dann geben die Politiker doch sofort nach.“ Tatsächlich hat der Bauausschuss erst vor ein paar Wochen schon wieder einer Änderung zugestimmt: Der gläserne Anbau fürs Restaurant soll jetzt nicht vier, sondern acht Meter hoch werden und 25 Meter lang. Eine Kleinigkeit nur, aber symptomatisch dafür, dass dieses Hotel mehr Raum einnehmen wird, als die 3.000 Quadratmeter, die eigentlich dafür vorgesehen sind.

„Mindestens 30 Meter rund um die Anlage wird niemand mehr auf der Wiese liegen,“ meint Winfried Kölsch, der für die GAL im Planungsausschuss sitzt. „Auch wenn meine Kollegen immer betonen, man könne da trotzdem noch spazieren gehen. So ein Bau verändert den Charakter, das ist dann kein Park mehr, sondern eine Grünfläche.“ Trotzdem hat die GAL den Plänen zugestimmt, damit mit dem Wasserturm endlich etwas passiert. Jetzt berät jedenfalls der Kerngebietsausschuss darüber, an welche Projekte die Euro-Million verteilt wird. Doch egal wer sie bekommt, man wird davon weder die Schäferkampsallee zur Liegewiese umbauen, noch andere Freiflächen schaffen können. Hunde, Kinder, Jogger, Faulenzer, Griller, Boulespieler, Bobbycarfahrer und Fußballer werden im Schanzenpark noch enger zusammenrücken müssen. Und ob dessen geheimnisvolle Kräfte dann noch ausreichen, ernsthafte Konflikte zu verhindern, ist fraglich. Es sei denn, alle gemeinsam würden durch offensives Freizeitverhalten ihren Fünf-Sterne-Park vor dem Vier-Sterne-Hotel in Schutz nehmen. Bloße Grünfächen gibt es schließlich schon genug.

Sigrun Matthiesen

Worte wie Sterne

Der Schauspieler Rudolf H. Herget bringt Poesie ins Planetarium

(aus Hinz&Kunzt 130/Dezember 2003)

Der Mann ist ein Besessener. Ein Besessener der Poesie und der Sterne. Selbst im Lift hoch auf die Aussichtsplattform des Planetariums nutzt der Schauspieler Rudolf Heinrich Herget jede Gelegenheit, andere mit seiner Leidenschaft anzustecken. Zum Beispiel die zwei Kinder, die mit ihrer Mama auf dem Weg nach oben sind. „Warum ist die Sonne noch unverheiratet?“, fragt er die beiden unvermittelt. Die zwei Kinder haben sich im Leben noch keine Gedanken über das Liebesleben der Sonne gemacht. Sie drücken sich näher an ihre Mutter und zucken ratlos die Achseln.

Und schon legt Herget los: Dass sich vor vielen, vielen Jahren die Tiere Sorgen um die Sonne gemacht hätten, weil sie keinen Mann habe. Die Tiere seien erst Feuer und Flamme gewesen, ein passendes Ehegespons zu suchen. Dann sei ihnen irgendwann klar geworden, dass die Sonne bei einer Verheiratung ja nicht nur einen Mann, sondern vermutlich auch viele Kinder hätte. Und das wäre eine Katastrophe: „Da würden wir ja alle verbrennen!“ Das sehen auch die Kinder ein. Fasziniert schauen sie den fremden Mann an. Bestimmt kommen sie demnächst ins Kinderprogramm des Planetariums, um noch mehr Geschichten von Sonne, Mond und Sternen zu hören. Und vielleicht hat auch die Mutter wieder Lust bekommen, mal abzuschalten und zumindest literarisch hoch zu den Sternen zu fliegen. „Ich will eine Poesiewolke über den Stadtpark senden“, sagt Rudolf Herget über seine Mission.

Im Hamburger Planetarium gehört der Schauspieler fast schon zum Inventar. Allein im Dezember spricht und spielt er vier Mal den Kleinen Prinzen, an einem Sonntagabend lädt er mit Lyrik zum Innehalten ein, und natürlich erzählt er Kindern im Kuppelsaal Sternenmärchen. Da kann man dann die Geschichte von der Single-Sonne ausführlicher hören… An den übrigen Tagen tourt der Schauspieler durch die Planetarien anderer deutscher Städte.

Seine Liebe zu den Sternen und zur Poesie hatten sein Leben total verändert. Das war Anfang der achtziger Jahre. Damals lebte er zwei Jahre in Buenos Aires und spielte am dortigen Deutschen Theater. Das Ensemble war gerade auf Tournee in San Francisco. Und dort besuchte Herget zum ersten Mal ein Planetarium. „Ich war überwältigt“, sagt er. Vor allem deshalb, weil er gerade den Galileo Galilei gespielt hatte. „In dem Stück spielen die Sterne eine Hauptrolle, aber man steht immer nur auf einer kahlen Bühne.“

Plötzlich wurde ihm klar, dass nicht nur der Galilei unter den Sternenhimmel gehört, sondern auch lyrische Texte und seine Lieblingsgedichte. Kurz zuvor hatte er eine unschöne Erfahrung gemacht: Zusammen mit dem großen Schauspieler Will Quadflieg war er auf Tournee gewesen. Unter anderem gastierten sie in einer Schulaula. „Die Vorhänge wurden notdürftig zugezogen, die lustlosen Schüler wurden in den Raum getrieben.“ Herget glaubt, dass auch der lieblose, kalte Raum daran Schuld war, dass das Ganze für Literaturfreunde zum Horrorerlebnis wurde. „Im Planetarium, im Dunkeln, kann man poetische Texte ganz anders vortragen. Da wirkt es nicht überladen oder kitschig. Man lässt sich als Zuhörer auch ganz anders ein“, sagt er.

So begeistert war er von seiner Idee, Extra-Programme für Planetarien zu entwickeln, dass er nach diesem Schlüsselerlebnis den Schritt wagte, aus seinem Ensemble auszusteigen und als freier Schauspieler zu leben. Er hat es keinen Tag bereut. Grundsätzlich tritt er nur noch an Orten auf, bei denen es den Menschen leicht fällt, sich den Worten hinzugeben. Er liebt es, eine Art Magier zu sein. Wenn im Kuppelsaal das Licht ausgeht, die Zuhörer ihn nicht mehr sehen, sondern nur noch seine Stimme hören können. Er weiß, dass der ein oder andere in dieser Stimmung in einen Kurzschlaf fällt. Er lacht, das macht ihm gar nichts aus: Das ist Entspannung pur.

Diese besinnliche Stunde ist nur noch zu toppen durch die Nächte unter freiem Himmel: In der Rhön und in Bayern sind sie längst Kult. Man trifft sich bei Sonnenuntergang. Jeder bringt sich etwas zu essen, zu trinken und einen Schlafsack mit, und dann erzählt Herget droben auf einer Bergkuppe Liebeslyrik oder „Worte wie Sterne – Weisheiten der Ureinwohner“ oder „Der kleine Prinz“ oder… „Ich spreche fast ununterbrochen bis zum Sonnenaufgang“, sagt Herget. Nur manchmal unterbricht er seinen Vortrag für eine Viertelstunde der Stille. Schade, in Hamburg waren die Erzählnächte bislang noch nicht so magisch. „Es ist wie verhext. Immer hat es geregnet.“

Zehn Programme beherrscht er auswendig. Er arbeitet auch mit Musik und Multimedia-Effekten. „Poetisches Erzähltheater“ nennt er seine One-man-Shows. Auf rund 80 Schallplatten und CDs sind viele seiner Werke verewigt: Old Shatterhand, der kleine Prinz, Ben Hur sind darunter. Aber keine einzige seiner Planetarium-Shows. „Das ist ein Erlebnis, das man live erleben muss“, sagt Herget.

Manchmal lässt er seine Texte – wie ein Getriebener – in einem Affenzahn vor sich abspulen. So schnell geht das, dass man manchmal gar nicht merkt, dass er gerade nicht erzählt, sondern wieder zitiert: Die Erde ist unsere Mutter./Der Mensch schuf nicht das Gewebe,/er ist nur eine Faser. Dabei hält er ein kleines, weinrotes Ringbuch in der Hand, wie eine Art Talisman. Talisman deshalb, weil die Texte dort quasi in Spickzettelgröße eingeschrieben sind. So winzig, dass sie ihm nicht ernsthaft über einen Hänger hinweghelfen können.

Obwohl – stecken bleibt er eigentlich nie. Das liegt vermutlich daran, dass er sich jedes Mal schon lange vor seinem Auftritt intensiv auf seine Texte einstimmt. Ruhe braucht er dann, Besinnlichkeit. Damit nicht nur die Worte wieder das Licht der Welt erblicken. „Es ist wichtig, dass der, der einen Text spricht, auch das verkörpert, was zwischen den Zeilen steht“, sagt Rudolf Herget. „Denn jeder Gedanke, der geäußert wird, wird in diesem Moment neu geboren.“

Birgit Müller

„Wie eine kleine Puppe“

Wenn Minderjährige Kinder bekommen

(aus Hinz&Kunzt 130/Dezember 2003)

Verhütet? Nein, das haben sie nicht, sagt Jennifer Jordan. Keine Ahnung warum, ehrlich gesagt. Wahrscheinlich keine Zeit gehabt, sagt die 19-Jährige und lacht. Sie waren halt total verknallt, sie und ihr Maxim Ladner. Damals. Sie war gerade 15, er 16 Jahre alt. Beide durchlebten eine „null Bock auf gar nichts“-Phase. Hauptsache Fun haben, Schule abbrechen, kiffen, Partys… Tja. Und dann ist es passiert. Jenny wurde schwanger.

Angst hatte ich, sagt Jenny. Vor der Zukunft. Aber eine Abtreibung kam für sie nicht in Frage. Also verdrängte sie das „Problem“ und erzählte zu Hause nichts von der Schwangerschaft. Fünf Monate lang. Dabei wusste sie, dass die Eltern ihr nicht den Kopf abreißen. Und, weißt du noch?, fragt Jennys Mutter, Siegrid Jordan, wie wir beiden uns in den Armen gelegen und geheult haben, als es endlich raus war? Die heute 44-Jährige ahnte ohnehin, was mit ihrer Tochter los war. Für sie stand sofort fest: Die Familie meistert zusammen, was zu meistern ist.

Während Jenny ihren Eltern von der Schwangerschaft erzählte, lag Maxim auf dem Jordanschen Sofa und zog sich eine Decke über den Kopf. Zu viel Gefühl. Er hatte seiner Freundin von Anfang an nicht in die Entscheidung reingeredet. Klar, sagt er, auch er musste erst mal lange nachdenken über sein Leben. Schließlich hatten weder er noch Jenny einen Schulabschluss. Aber jetzt freute er sich richtig darauf, Vater zu werden. Maxim zog bei Familie Jordan ein. Jenny konnte endlich aufatmen.

„Mein Vater hat viel Alkohol getrunken und meine Mutter und uns geschlagen – mit Händen, Füßen und Kabeln. Ich wollte nur weg, heiraten und eine eigene Familie haben. Als ich schwanger war, war ich unbeschreiblich glücklich.“ Svea (Name geändert) ist 17 Jahre alt. Mit 15 brachte sie einen Jungen zur Welt. Seit eineinhalb Jahren leben die beiden in einem Wohnhaus der Alida Schmidt-Stiftung. Die Betreuerinnen dort sind ihr Familienersatz.

Viele minderjährige Mütter stammen aus zerrütteten Familien, sagt Einrichtungsleiterin Martina Feistritzer. Etliche hatten Kontakt zur Jugendhilfe, da sie Missbrauchs- und Gewalterfahrungen haben, ihre Eltern nicht mehr leben oder unter psychischen oder Suchterkrankungen leiden. Der Wunsch nach einem eigenen Kind entspringt der Hoffnung auf Geborgenheit. „Liebe geben können wird verwechselt mit Liebe bekommen“, so Feistritzer. Auch fehlende Zukunftsperspektiven nennt die Diplompädagogin als Grund für eine frühe Schwangerschaft. Vor allem für schlecht Ausgebildete sinken die Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Feistritzer: „Wenn die Mädchen ein Kind bekommen, haben sie plötzlich eine Perspektive: das Muttersein.“

Von 1995 bis 2002 brachten 1115 Hamburgerinnen unter 18 Jahren ein Kind zur Welt. Doch das Familienglück bleibt häufig aus. Svea: „Als ich meinem Freund erzählte, dass ich ein Baby bekomme, wurde er wütend und hat mich geschlagen. Ich sollte das Kind abtreiben.“ Das hat sie nicht gemacht. „Das Kind bleibt immer bei mir. Es ist doch ein Teil von mir. Aber ich wünsche mir so, nicht die ganze Verantwortung alleine tragen zu müssen.“

Sie sei Jenny und Maxim fürchterlich auf die Nerven gegangen, meint Siegrid Jordan. Die jungen Eltern lachen. Es stimmt. Schon während der Schwangerschaft wollte Mutter Jordan partout, dass das junge Paar zur Geburtsvorbereitung geht. Beide hatten keine Lust darauf. Albern fand Jenny das „Geatme“ dort. Und als Minderjährige unter all den älteren Paaren – die Vorstellung war gruselig. Sie sollten wissen, was auf sie zukommt, fand Siegrid Jordan. Heute geben Maxim und Jenny zu, dass der Kurs sehr hilfreich war. Aber Siegrid Jordan, die als Tagesmutter auch beruflich etliche Kinder betreut, nervt die Tochter auch heute noch: Hast du die Schnullis ordentlich gesäubert? Hast du deine Tochter eingecremt? Du willst doch so nicht mit Maya raus – es ist doch viel zu kalt! Jenny sagt: Jaaa, Mama…

Siegrid Jordan fühlte sich verantwortlich, den jungen Leuten das Elternsein beizubringen. Aber auch sie musste lernen. Lernen, Maxim und Jenny nicht alles vorzuschreiben, die jungen Eltern einfach mal machen zu lassen. Jenny und Maxim wissen heute freilich genau, dass Siegrid Jordan meistens Recht hatte. Maxim erinnert sich, wie er erst mal einsehen musste, dass er sich körperlich ruinierte. Morgens früh raus zum Arbeiten, abends auf Piste und nachts weint das Baby – das hält keiner aus. Und auch Jenny kann sich noch an eine Situation erinnern, in der sie sich völlig überfordert fühlte. Die kleine Maya hatte starke Bronchitis, und Mutter und Vater Jordan waren nicht da. Ich hab tierische Angst gehabt, sagt Jenny, ich wusste überhaupt nicht, was ich machen soll. In solchen Momenten war ihr mehr denn je bewusst, wie wichtig der familiäre Rückhalt war. Jenny sagt: Verantwortung zu haben muss man eben auch erst lernen.

Manchmal denkt Jenny, sie sei eine schlechte Mutter. Heute zum Beispiel. Da hatte sie frei und ließ sich trotzdem den ganzen Tag nicht bei der Tochter blicken. Sie ging lieber shoppen. Balsam für die Seele muss auch mal sein, beruhigt Siegrid Jordan. Sie will, dass ihre Tochter sich nicht grämt, eine so junge Mutter zu sein. Deshalb nimmt sie Maya auch dann ab und zu, wenn Jenny mal ausgehen will. Jenny sagt: Meine Mutter ermöglicht es mir, trotz allem jung zu sein.

„Ich habe gedacht, ein Kind ist wie eine kleine Puppe – so einfach. Wenn man Lust hat, kann man schön damit spielen. Wenn man keine Lust hat, ist das Spiel eben zu Ende. Ich wusste nicht, dass es so schwer ist, für ein Kind da zu sein.“ Svea steckt in einem Konflikt: Oft ist sie eifersüchtig auf die Mädchen, die keine Verantwortung tragen. Sie müssen an nichts denken: Hat er genug gegessen? Muss er ins Bett? Ist die Frau, der sie ihr Kind anvertraut, gut zu ihm? Wenn Svea solche Gedanken beschleichen, fühlt sie sich sofort schlecht. Schließlich war es ihre Entscheidung, das Kind zu bekommen.

Minderjährige überblicken oft die Konsequenzen ihres Handelns nicht, sagt Anne Trumm, Leiterin des Bereichs stationäre Hilfen für Mütter und ihre Kinder im Abendroth-Haus. Sie leben eher für den Augenblick. Bekommen sie ein Baby, verpassen die jungen Mädchen die wichtige Entwicklungszeit der Pubertät, so die 50-Jährige.

„Die Mädchen wollen unbedingt gute Mütter sein und überfordern sich dabei maßlos“, so Anne Trumm. Da Kritik und gute Ratschläge ihnen suggerieren, ihrer Aufgabe nicht gerecht zu werden, lassen sie oft niemanden an sich heran. Eigene Entwicklungsverzögerungen bedingen aber, Entwicklungsverzögerungen beim Kind nicht zu erkennen. Besonders bei jungen Frauen, die die Schule abgebrochen haben, hat das zum Teil fatale Folgen: „Die Mädchen können die Anweisungen auf der Babynahrung nicht richtig lesen und pappen irgendeinen Brei zusammen“, erzählt Trumm. „Die Babys sind dann oft solche Wonneproppen, dass sie sich kaum bewegen können.“

Anne Trumm und Martina Feistritzer finden, dass jede Mutter die Chance haben sollte, mit ihrem Kind zu leben. Dazu wollen sie auch die Minderjährigen befähigen. Doch manchmal müssen sie eine schwere Entscheidung treffen und feststellen: Das Kind wäre besser woanders aufgehoben.

Svea liebt ihr Kind. Und sie managt ihre Mutterrolle. Aber wenn sie sich nochmal entscheiden dürfte, würde sie alles anders machen: „Erst Schule, dann eine Ausbildung, viel Geld sparen, ein Haus und ein Auto kaufen, heiraten und dann ein Kind bekommen. Ich habe ja noch nicht mal das Sorgerecht für meinen Kleinen. Ich habe die ganze Verantwortung, aber entscheiden kann ich nichts.“

Inzwischen ist Maya zweieinhalb Jahre alt. Jenny hat ihren Hauptschulabschluss nachgemacht und lernt Zahnarzthelferin. Maxim macht eine Ausbildung zum Zerspaner. Mit der Verantwortung für das Kind wuchs auch die Verantwortung für das eigene Leben. Die große Liebe von damals hat zwar nicht gehalten – trotzdem geht Vater Maxim selbstverständlich bei den Jordans ein und aus. Er ist schließlich eine wichtige Person für Maya, stellt Jenny klar.

Sie selbst wohnt in einer eigenen kleinen Wohnung. Eigentlich plante sie, dort mit ihrer Tochter ständig zusammenzuleben. Aber sie muss auch ihr eigenes Leben noch regeln. Eine Ausbildung schaffen und ein Kind erziehen – das war doch zu viel. Also lebt Maya nur am Wochenende bei Jenny, während der Woche passen Oma und Opa auf die Kleine auf. Jenny kommt nach der Arbeit und bringt ihr Kind ins Bett. Es herrschen klare Regeln. Für Jenny und ihr Kind. Maxim ist sich bewusst, dass Familie Jordan auch viel für ihn getan hat. Dafür, sagt er, bin ich sehr dankbar. So hat er keinen Grund zu bereuen, mit 17 Vater geworden zu sein.

Auf welche Schule Maya mal gehen soll – darüber macht er sich noch keine Gedanken. Bis dahin ist ja noch ein bisschen Zeit. Jenny sieht das anders. Eine Schule soll es sein, auf der die Talente der Kleinen gefördert werden. Denn die hat sie eindeutig, sagt die stolze Mutter. Und was, wenn auch Maya mal eine Null-Bock-Phase durchleben sollte? Jenny atmet tief durch. Dann sagt sie: Also wenn sie 13 ist, schlepp ich sie zum Frauenarzt. Das ist schon mal klar.

Annette Woywode

Bahnfliegen über Barmbek

Aufzeichnungen aus der U-Bahn-Linie 2

(aus Hinz&Kunzt 130/Dezember 2003)

eon | hanse präsentiert die Dart-Reportage: Hamburg hat viele unbekannte Ecken. Mit Häusern voller Geschichte und Menschen mit besonderen Lebensläufen. Um sie zu finden, werfen die Reporter einen Dartpfeil auf den Stadtplan. Die Geschichten erzählen von viel menschlicher Wärme oder dem Mangel daran. Diesmal: eine Fahrt in der U2 nach Barmbek.

Wir fliegen drüber weg. Gleiten durch Zeit und Raum. Lassen alles unter uns. Hinter uns. Die Welt zu unseren Füßen. Die Zukunft vorne. Vor uns. Wir rasen drauf zu, schnurgerade, zielgenau. Die U2 fliegt über das Barmbeker-Markt-Viadukt. Auf 3,20 Metern über parkende Autos und Taubenkot. Für 100 Sekunden sind wir überirdisch, auf unserer Fahrt von Dehnhaide nach Barmbek. Drinnen bilden wir für den Bruchteil eines Menschenlebens ein Zwangskollektiv. Ob wir nun wollen oder nicht, wir nehmen an unseren Bahn-Mitfahrern teil. An der alten Frau, deren Augen traurig schimmern, weil sie gerade ihren Mann verloren hat. An dem kleinen Blondschopf, der voller Lebensfreude die vorbeiziehende Welt bestaunt. An Verzweiflung und Neugier, an Langeweile und Wut, bei jeder Fahrt aufs Neue.

Ian Slupek* ist auf dem Weg zur Arbeit. Mit dem Rücken zur Fahrtrichtung sitzt er auf der Bank. Seinen feingliedrigen Körper hat er gestylt bis in die schwarzen Haarspitzen. Ian ist ein Guter-Laune-Typ, ein Sonnenstrahl im Spätherbst. Ich mag das Bahnviadukt, grinst er vergnügt. Da kann ich rausgucken und viel sehen. Das ist doch schöner, als nur durch einen Tunnel zu fahren. Diese schöne Aussicht kann Ian jeden Tag genießen, bringt ihn die U2 doch täglich in die Hamburger City. Am Gänsemarkt jobbt der Styler in einem „Trendladen“. Natürlich für Bekleidung.

Annelie ist heute kein Sonnenschein. Scheiße, schnauzt sie ins Leere und donnert die Mopo von der ersten auf die letzte Seite. Gerade hat die Lautsprecherstimme verkündet, dass die U2 nicht bis Wandsbek-Gartenstadt weiterfährt. Das passt ihr wohl gar nicht. Beleidigt stiert sie auf die Mopo-Rückseite, rutscht auf ihrem Sitz tiefer und zieht die Schultern Richtung Ohrläppchen. Schlecht drauf ist auch Heiner, Annelies Mitfahrer. Der Mittsechziger sitzt in Fahrt-richtung und reißt energisch das kleine Klappfenster auf. Anschließend lässt er sich griesgrämig auf seine Sitzbank fallen und fixiert angestrengt die Landschaft. Der Blick hält die Bodenhaftung. Wer wird denn gleich in die Luft gehen?

Für den kleinen Blondschopf in Streifenshirt und Daunenjacke ist die Bahnfahrt eine riesige Attraktion. Mit großen, wachen Kulleraugen kommentiert er die vorbeifliegende Welt zu seinen Füßchen. Links hält er ein Reflektorbärchen in der Hand. Mit der Rechten zeigt er auf jeden Baum, jeden Laden, jedes Auto. Hhha, da!, ruft er begeistert. Zeigefinger nach vorne rechts. Und da! Zeigefinger nach vorne links. Und da! Zeigefinger zurück nach vorne rechts. Ist die Aufregung besonders groß, trippelt er im Schoß seines amüsierten Vaters.

Michael erregt eine Bahnfahrt nicht mehr. Denn Michael kommt regelmäßig selber zum Zug. Er ist Bahnfahrer beim Hamburger Verkehrsverbund. Während sich das Abteil kurz hinter Dehnhaide rechts in die Kurve neigt, steht er routiniert gelangweilt neben der Tür und kaut seinen Kaugummi. Denn noch ist Michael Bahn-Mitfahrer, auf dem Weg zu seiner Startposition. Als die U2 in Barmbek einfährt, drückt ein Junge eifrig und viel zu früh auf den Türöffner. Michael, der Fachmann, kann sich ein wissendes Lächeln nicht verkneifen. Dann steigt er aus der Tür mit der idealen Position zur Treppe und ist verschwunden.

Zum Lastenträger wird die Bahn bei Irina. Mit zwei riesigen Plastiktragetaschen links und rechts balanciert sie elegant auf ihren Sieben-Zentimeter-Absätzen zum freien Sitzvierer. Irina wuchtet ihre Tüten vor und neben sich auf die Polster, nimmt Platz und hält die Riemen ihrer Handtasche mit der linken Hand fest umklammert. Anmutig streckt sie Wirbelsäule und Kopf kerzengerade. Eine weiße Kunstpelzmütze schmückt das grazile Haupt, die rote Wolljacke passt perfekt zu den roten hohen Schuhen. Irina fährt rückwärts. So kann sie die Familie neben sich besser genießen. Liebevoll schaut sie die Kinder an, auf dem Viadukt geht der Blick dann nach draußen.

Mohammed ist nicht nach Familienidylle zumute. Er isst jetzt. Mit großem Appetit zerreißt er seinen riesigen Döner. Das Tsatsiki umrandet seine Lippen, die Chili-Soße treibt ihm noch mehr Farbe ins Gesicht. Die machen das gut, schwärmt Mohammed Flo vor. Der isst auch Döner, hat ihn aber nicht im Gesicht. Selbst wenn ich sage Mini, gibt er mir so einen großen, schmatzt Mohammed weiter und versucht, die Soße mit der Serviette loszuwerden. Die Bahn als Döner-Bude. Es ist 12.30 Uhr, Zeit fürs Mittagessen.

Heiß her geht’s zwischen Sabrina und Simon. Sie führt ihrem Liebsten schwierige Fingerkunststücke vor, die er nachmachen soll. Doch trotz großer Anstrengung kann Simon seine Glieder nicht so kunstvoll in-, über- und untereinander falten wie seine Freundin. Da beschließt Simon, die Liebste hochzunehmen. Er fordert Sabrina auf, sein triviales Stillleben zu kopieren: Alle Finger zur Faust, alle Finger gleichzeitig öffnen. Schnell durchschaut Sabrina das Spielchen und zeigt den Stinke-Finger. Was sich liebt, das neckt sich. Die Bahn als Turtelplatz.

Polizist Gerhardts steht breitbeinig mit dem Rücken gegen die Trennwand. Seine Hände hat er hinten verschränkt, aus dem weichen Gesicht geht der Blick fachmännisch nach vorn. Es scheint, als beobachte er die beiden zotteligen Biertrinker, in Fahrtrichtung drei Vierersitze weiter. Die grüne Polizeiwetterjacke leuchtet intensiv durch den Waggon. Die Khakihose sitzt adrett, die Körpersprache verrät Selbstbewusstsein. Gerhardts ist ein junger Freund und Helfer, in der U-Bahn auf Streifenfahrt.

Als wir im Zielbahnhof einfliegen, löst sich unser Zwangskollektiv auf, und ein jeder geht seiner Wege. Vielleicht für einige Zeit mit einem Stück Leben des anderen im Herzen.

Jannika Schulz

* Alle Namen, bis auf Ian Slupek, sind erfunden.

Die Pfandfrauen

Wie Zeitarbeiterinnen sich durchschlagen

(aus Hinz&Kunzt 130/Dezember 2003)

„Pfandfrauen? – 25-Cent-Weiber wär’ besser“, sagt Gabi Heinrich (Name geändert) und lacht das erste Mal. Ein halbes Dutzend weiß bekittelter Frauen lungert in einem schmalen Flur. Sie warten. Auf Arbeit. Für 5,20 Euro pro Stunde sortieren sie Pfandgut am Fließband. Zeitarbeiterinnen.

Die einfache Halle in einem Hamburger Industriegebiet ist kalt und kameraüberwacht. Keine Dose verlässt unbemerkt das Gelände. Diebstahl wird mit sofortiger Entlassung geahndet. Und nicht nur der eigene Arbeitsplatz ist dann futsch, auch die der anderen hätte die Übeltäterin auf dem Gewissen. So zumindest stellt es der Schichtleiter dar, zeigt auf die Kameras. Alle Köpfe folgen seinem Finger wie dem Tennisball beim spannenden Match.

„Der Ton war nicht okay“, sagt Gabi Heinrich. Sie hat das Angebot der Zeitarbeitsfirma, bei der sie angestellt ist, angenommen – aus Angst davor, entlassen zu werden und in der Folge wegen „selbstverschuldeter Kündigung“ vom Arbeitsamt kein Geld zu bekommen. Nur einmal hat sie sich geweigert: als sie bei einer Firma arbeiten sollte, bei der die Arbeiter gerade streikten. „Das mache ich nicht, ich bin keine Streikbrecherin“, sagt sie. Begeistert war sie vom neuen Job von Anfang an nicht – auch wegen der Arbeitszeiten: Sechs-Tage-Woche, Früh- und Spätschicht im Wechsel. Doch neben der Angst vor der Armut weiß die 42-Jährige, dass Arbeit für sie wichtig ist, ihr Halt gibt. „Ich arbeite gerne, so krank sich das anhört“, sagt sie.

Ein Dutzend Frauen stehen an dem Fließband in der Mitte der Halle. Die Männer entladen und füllen das Pfandgut in Kisten, laden diese auf Rollbänder, die zu den Frauen und dem Fließband führen. Die Maschinen dröhnen, Metall und Glas scheppern. Die Frauen scannen und sortieren die Einweggetränkeverpackungen – in der Mehrzahl leere Bierdosen. Piep. Zerbeult, gepresst, gequetscht. Piep. Wut, Langeweile oder vielleicht nur überschüssige Kraft haben ihren Abdruck hinterlassen. Piep. Glas nach oben, Dosen und Plastikflaschen nach unten. Piep. Der Geruch erinnert an Fußgängerunterführungen und den Morgen nach der Party.

„Ich habe mich ausgeschaltet im Kopf, so richtig wie mit einem Hebel, klick, alles abgeschaltet, nur noch das Piepen gehört“, sagt Gabi Heinrich. Die Arbeit selbst sei okay, nur „definitiv zu anspruchslos“. Dabei sind ihre Ansprüche an einen Job bescheiden. Im Lager hat sie gerne gearbeitet: kommissionieren, Waren zusammenstellen und versandfertig machen. Auch den Umgang mit Computern lernte sie nach anfänglichen Berührungsängsten. Heute bereut sie, dass sie keine Ausbildung hat. Nach dem Hauptschulabschluss begann sie eine Friseurlehre. Doch sie fühlte sich unwohl bei dem alten Lehrmeister, kam in der Berufsschule nicht mit und hatte obendrein familiäre Probleme. Sie brach die Lehre ab und floh aus dem Elternhaus. „Ich hab’s da nicht mehr ausgehalten, wegen meinem Vater – das typische Klischee, aber es ist halt so. Der hat mich verprügelt und so. Irgendwann stand ich mal mit einem Messer vor ihm, und da habe ich gemerkt, das geht nicht mehr. Entweder ist er bald tot oder ich“, sagt sie.

Sie lebte auf der Straße, bis sie mit 20 schwanger wurde. Erst lebte sie im Mutter-Kind-Heim, später bekam sie eine Wohnung. Über die Hamburger Arbeit (HAB) fand sie einen Job und schließlich einen festen Arbeitsplatz für sechs Jahre. Das war Mitte der neunziger Jahre. Dann wurde sie entlassen – wegen betrieblicher Einsparungen. Seitdem schlägt sie sich mit Zeitarbeit durch.

Eine Familie könnte sie von den rund 900 Euro monatlich, die sie am Sortierband verdient, nicht ernähren. Gabi Heinrich hat Glück: Ihre Tochter ist erwachsen und verdient ihr eigenes Geld; sie selbst lebt mit ihrem Freund in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung. Der Freund hat einen besser bezahlten Job – zu zweit kommen sie über die Runden. Der neue Arbeitsplatz liegt am Ende der Welt. Industriegebiet.

Schrottberge türmen sich, und Lastwagen bringen immer mehr davon. Hier wirkt die Recyclingbranche. Das Geschäft mit dem Pfand steht noch am Anfang und läuft etwas schleppend an. Viele Stunden verbringen die Pfandfrauen mit Warten. Die Rauchschwaden sind zum Zerschneiden dick. Karten spielen, reden, Zeitschriften blättern. Nichts ist schlimmer als Langeweile.

„Ich muss immer was tun“, sagt Stephanie Helms, reißt blitzschnell die Zuckertütchen auf, schüttet reichlich in ihren Kaffee und rührt kräftig. Wichtig für sie sei vor allem, dass die Zeit schnell vergeht bei der Arbeit. Den Job findet sie ganz gut. Nur der Gestank stört sie. „Ich bin keine Biertrinkerin“, erklärt sie knapp. Die 24-Jährige hat sich den Job selbst gesucht. Bei ihrem alten Arbeitsplatz im Lager und Versand hat sie gekündigt. Sie fühlte sich wohl, Arbeit und Bezahlung waren gut. Aber es gab ein privates Problem mit ihrer Schwester, die auch dort arbeitete. In der verbliebenen Woche Urlaub, die sie noch hatte, hat sie sich über die Zeitarbeit den Dosenjob besorgt.

Zum Arbeits- oder Sozialamt will sie nicht. „Weil mich der ganze Scheiß ankotzt, Formulare ausfüllen und so, da findest du schneller Arbeit, als dass du dein Arbeitslosengeld kriegst. Ist so. Das habe ich oft genug gehabt“, sagt sie und lässt keine Zweifel zu. Sie würde alles machen, um nicht von der Sozialhilfe zu leben, sagt sie. „Ich würd’ sogar Toiletten putzen.“

Gelernt hat sie im Einzelhandel, Bereich Feinkost. Das war Zufall. Sie war eingesprungen. „Weil meine Cousine unter einer Fleischallergie leidet, habe ich nach der Hauptschule einen Ausbildungsplatz bekommen.“ Der Start ins Arbeitsleben war ein Flop. Sie habe nichts gelernt, sondern – tatsächlich – Toiletten putzen müssen. Sie wechselte den Betrieb und beendete die Ausbildung fast. Nur die Prüfung hat sie nicht. Durch die erste ist sie durchgefallen, bei der zweiten war sie krank. Jetzt will sie dahin nicht mehr zurück. Das Thema ist für sie abgehakt. Ihre beste Freundin Jessica schaltet sich ein: „Aber mir hast du in den Arsch getreten, als ich abbrechen wollte.“ Stephanie antwortet: „Ja, das war ja auch gut so.“

Am vierten Tag spricht einer der Schichtleiter eine scharfe Verwarnung aus an alle, vor allem an die Männer. „Jeder ist hier ersetzbar“, ruft er in Erinnerung. Die Angst um den Arbeitsplatz macht sich breit. Ein kleiner, zarter Anfang-20-Jähriger rutscht während der Predigt nervös auf dem Stuhl hin und her und murmelt Entschuldigungen vor sich hin. Kaum hat der Schichtleiter den Raum verlassen, raunzt er den einzigen farbigen Kollegen neben sich herausfordernd an: „Hast Du schon ein Lob bekommen? He? Ich hab schon drei gekriegt.“ Drei Minuten später hat er einen handfesten Streit vom Zaun gebrochen, der sein vorläufiges Ende nur durch das beherzte Schlichten der Kollegen findet.

Stephanie Helms will bleiben; sie ist noch in der Recyclingbranche tätig. Gabi Heinrich wird am Ende der ersten Woche zum Schichtleiter gerufen. Eine gute Nachricht: Sie brauche nächste Woche nicht wiederzukommen. Ein anderer Kunde der Zeitarbeitsfirma, bei dem sie lieber gearbeitet hatte, habe sie angefordert. Gabi Heinrich freut sich, wenn auch nur kurz. Zwei Tage später erfährt sie, dass sie belogen wurde. Das Recyclingunternehmen hatte sie gekündigt.

Annette Scheld

Ab 1. Januar 2004 gilt erstmalig ein Mantel- und Entgelttarifvertrag zwischen den Mitgliedsgewerkschaften des Deutschen Gewerkschaftsbundes und den Arbeitgeberverbänden der Zeitarbeitsunternehmen. In der niedrigsten Gruppe, zu der auch die Pfandfrauen gehören, werden dann 6,85 Euro pro Stunde gezahlt.

Höllisch laut

Über das Leben an einem lärmenden Ort mit dem himmlischen Namen Sternbrücke

Ruhe, vielleicht sogar Stille gibt es hier nie. Selbst in den scheinbar einsamsten Nächten, wenn ein paar wenige Stunden lang mal keine grollend-quietschenden S-Bahnen über die zum Greifen nahe Brücke poltern und die Stadt anderswo tief schläft, schlägt an diesem Ort das Herz der Metropole weiterhin spürbar, wenn auch langsamer als sonst.

Güterzüge krachen noch frühmorgens über die Schienen, und auch darunter queren jetzt Autos die Kreuzung, von irgendwoher kommen immer welche, sagt Paulo. „Dann noch die vielen Pistengänger“, junge Leute, die vor allem in warmen Sommernächten der stickigen Luft in den angesagten Clubs und Kneipen ringsum entfliehen und draußen weiterfeiern. Himmlisch und friedlich klingt nur der Name dieses Ortes – Sternbrückenkreuzung, weil anliegende Straßen und die diagonal querende Hochbahntrasse sternförmig ausstrahlen. Irdisch lärmend hingegen das tägliche Leben drumherum.

[BILD=#sternbruecke][/BILD]Paulo Fontes, der 31-jährige Portugiese, zeigt durch das Fenster der geschlossenen Balkontür. Von links die nächste S-Bahn, schon von weitem hörbar, und wenn sie jetzt donnernd ganz knapp an der Hausfront vorbeirauscht, erstirbt im Zimmer jegliches Geräusch, selbst das aus dem auf größte Lautstärke gestellten Fernseher. Im paarminütlichen Takt gleich danach die nächste Bahn, zwischendurch ein ICE und all die anderen Fern- oder Güterzüge. „Für mich“, sagt Fontes, „ist das Alltag.“ Seit 30 Jahren, also fast sein ganzes Leben lang, wohnt er in dem Haus an der Altonaer Max-Brauer-Allee 225, Ecke Stresemannstraße.

Die Sternbrücke – kaum ein anderer Ort in Hamburg, der deutlicher Symbol sein könnte für das Aufeinandertreffen von Mensch und Maschine, für Leben und Leiden in der Stadt. 48.000 Autos queren täglich die Kreuzung, darüber passieren 506 S-Bahnen sowie 310 Fern- oder Nahverkehrszüge und 30 Güterzüge die Brücke. Als im Sommer vor zwölf Jahren, nur ein paar hundert Meter entfernt, auf der Stresemannstraße ein neunjähriges Mädchen von einem Laster überrollt wurde und starb, erzwangen Anwohner die Einrichtung von Busspuren – und damit auch eine deutliche Verringerung des Verkehrs.

Inzwischen ist „die Strese“ wieder vierspurig, vier Spuren pausenloser Kriechverkehr von früh bis in die Nacht. Schon der Bau der Sternbrücke versinnbildlichte die aufkommenden Gegensätze einer industrialisierten Welt. Anfangs kreuzten sich dort die Wege von Bahnen, Kutschen und Menschen noch ebenerdig. Als 1893 mit dem Neubau des Altonaer Bahnhofs begonnen wurde – Gottlieb Daimler hatte sieben Jahre zuvor gerade das erste mit einem Benzinmotor betriebene Auto vorgestellt –, wurde sogleich auch die Höherlegung der gesamten Bahnlinie zwischen Altona und dem Hauptbahnhof beschlossen. 1894 wurden zunächst die Unterbauten der Sternbrücke fertig gestellt, seit 1925 wird der stählerne Überbau in seiner jetzigen Form genutzt, anfangs den Zeiten entsprechend noch mit nur mäßiger Frequenz.

Heute? „Der Lärm“, sagt der Portugiese Paulo, „macht mich manchmal ganz irre.“ Dann sitzt er in seiner Wohnung, und in den seltenen Minuten, in denen mal keine Züge an den Fenstern vorbeipoltern, versucht er, ein Gefühl der Ruhe aufkommen zu lassen. „Dabei stört mich dann schon allein, wenn andere Leute sich hier im Raum unterhalten.“ Und sofort darauf wieder das nächste donnernde Grollen einer Bahn, „auf der einen Seite fährt sie rein ins Ohr“, beschreibt Paulo, „dann dreht sich das Ding einmal im Hirn und kommt aus dem anderen Ohr wieder raus. So muss der Lärm in einem Bergwerk sein, wenn tausend Menschen Steine klopfen.“

Eine Frage liegt nahe, darf sie auch gestellt werden? Na klar, antwortet Paulo, „das war die Wohnung meiner Eltern. Auch jetzt, wo meine Mutter tot ist, hänge ich an diesem Zuhause.“ Und dann zeigt er auf den Riss in der Wand vom Wohnzimmer, entstanden, so sagt er, durch die ständigen Erschütterungen: „Vielleicht müssen wir, meine Schwester und ich, irgendwann doch hier ausziehen. Aber wo findet man schon eine ähnlich große Wohnung für eine vergleichbare Miete?“ Ganz günstig ist das hier, sagt der arbeitslose Kurierfahrer, jeden Monat 300 Euro kalt an die Sprinkenhof für knapp 80 Quadratmeter.

Die Brücke nimmt, die Brücke gibt. Während die Anwohner vor allem unter Lärm und Abgasen zu leiden haben, versucht Hasan Sarioglu sein Glück im Gemäuer direkt unter der Bahnlinie. Seit vier Jahren betreibt der 31-jährige Türke dort den Kiosk. Während er nun unter den Gleisen arbeitet, stand er früher einige Jahre lang auch oben drauf. Sarioglu war für die Bundesbahn im Einsatz, um Nahtstellen am Schienennetz glatt zu schleifen, „aber nicht hier, vor allem in Harburg“.

Jetzt hat er vor ein paar Wochen von der Bahn auch noch den Imbiss nebenan zusätzlich gepachtet. Dessen voriger Betreiber, ein Asiat, habe „immer nur Reis verkauft“, sagt Sarioglu, er selbst lässt dort jetzt Döner drehen. Die Sternbrücke – eine gute Ecke, um Geschäfte zu machen? Man müsse günstig anbieten, erklärt der türkische Geschäftsmann, „hier leben viele Menschen ohne Arbeit und mit wenig Geld.“

Mitten im Verkaufsraum hat er etliche Kisten Bier gestapelt, „Stände Pilsener“, die Flasche für 60 Cent. „Holsten kommt da nicht mit“, klagt Sarioglu, „da muss ich den halben Liter für 95 Cent verkaufen.“ Das billige Bier hingegen laufe recht ordentlich, und wie zum Beweis betritt ein polnischer Punk den Kiosk, mit 60 abgezählten Cent in der Hand. Zusammen mit seiner streng blond gefärbten Freundin putzt er unter der Brücke die Frontscheiben vor der Ampel wartender Autos. Ganz gut, sagt der Punk später draußen auf der Straße, prima Bier, aber sonst – keine Zeit zum Reden, „wir müssen leider arbeiten.“

Gearbeitet wird auch anderswo rings um die Sternbrücke, 20 Läden und Geschäfte gruppieren sich an der Kreuzung. Zumeist sind es Kneipen und Musikclubs, ein Tattoo-Laden und zwei Kioske, dazu ein paar Imbisse unterschiedlicher Küche. „Früher gab es hier mehr Fachgeschäfte“, sagt Henry Rappee, der seit 18 Jahren den Grill-Imbiss betreibt, „im jetzigen Döner war mal ein Friseur, daneben im Kiosk ein Fotogeschäft.“ Von der Vergangenheit zeugen noch ein Käseladen und ein Blumengeschäft, die Apotheke oder das Antiquitätengeschäft gegenüber.

Noch schnell ein letzter Besuch bei Paulo, also zurück über die Kreuzung. Er will uns seinen Garten zeigen, ein Stück Land zwischen Haus und Kreuzung direkt unter der Brücke. Vor allem portugiesischer Grünkohl wächst dort jetzt, und auch auf die drei kleinen Apfelbäume auf der kleinen Wiese ist er ganz stolz. Das Gemüse, erzählt Paulo, musst du fünfmal waschen, mindestens, das Wasser wird zunächst richtig schwarz. „Gesund ist das wohl nicht“, sagt Paulo, „aber was ist heute schon noch gesund?“

Peter Brandhorst

Mit Herz, Hirn und Humor

Hinz & Kunzt zu Gast bei der Kabarettistin Lisa Politt

(aus Hinz&Kunzt 130/Dezember 2003)

Zur Begrüßung bellt der Hund, die Katzen schnurren, die Küche ist mit hellen Holzschränken, Trockensträußen und einer blubbernden Kaffeemaschine warm und gemütlich. Man redet über dies und jenes – und dann, irgendwann, sagt Lisa Politt diesen Satz: „Bevor ich Comedy mache, eröffne ich ein Heim für schwer erziehbare Kinder!“ Diesen Satz sagt Lisa Politt ziemlich am Ende des Gesprächs, und da glaubt man ihr schon lange aufs Wort. Nicht nur, weil sie als diplomierte Psychologin tatsächlich die nötigen Qualifikationen für diesen Berufswechsel mitbrächte, sondern vor allem, weil die 46-jährige Kabarettistin tatsächlich nicht zu denen gehört, denen egal ist, worüber gelacht wird, solange es nur laut ist.

Sie will Gesellschaftsstrukturen verstehen und verändern und komme eher vom Agit-Prop als aus der Schauspielerei, definiert sie selbst ihre Berufung. „Ganz anders als Gunter, der ist so ein richtiger Schauspieler, der sich vor einem Auftritt lange Gedanken macht über Maske, Kostüm und darüber, wie er die Rolle anlegen soll.“

Gunter Schmidt ist ihr Kompagnon in ihrer kürzlich eröffneten Kabarettbühne „Polittbüro“ im ehemaligen Neuen Cinema und die andere Hälfte ihres gemeinsamen Kabarett-Duos „Herrchens Frauchen“, das im nächsten Jahr 20-jähriges Bühnenjubiläum feiert. Und noch länger ist er mindestens die Hälfte in Lisa Politts Leben. Der Mann, der ihren verlegten Führerschein findet und die Zeitungsausschnitte und Briefumschläge, auf denen sie sich wichtige Notizen für ihr neues Programm gemacht hat. Derjenige, den sie zwar kurz und heftig bepöbelt, weil die Kaffeemaschine nicht funktioniert, von dem sie aber, kaum hat er die Küche verlassen, vollkommen ohne Ironie sagt, dass er sie in schweren Zeiten gerettet habe. Damals, als ihre Tochter ein Jahr alt war und sie sich vom Vater des Kindes getrennt hatte. Und auch später, als sie nach dem Selbstmord ihres Bruders wochenlang einfach nicht mehr sprechen konnte.

„Dafür habe ich auch mit diversen Blumensträußen um ihn gekämpft“, sagt sie und vertreibt mit ihrem Lachen die schweren Erinnerungen. „Damals leitete Gunter den Hamburger Tuntenchor, und ich musste einige männliche Konkurrenten aus dem Feld schlagen.“ Inzwischen bewohnen die beiden ein Hinterhof-Häuschen in Altona, das sie mit einem sehr großen, sehr schwarzen Hund teilen und mit ein paar puscheligen Katzen. Im schmalen Garten pflanzt Frau Politt gerne mal ein paar Kartoffeln an, weil Gartenarbeit sie fast so sehr entspannt wie putzen oder kochen, sagt sie und verrät dem Fotografen auch gleich noch ein Rezept für Möhrensuppe. Nein, ihre Tochter wohne nicht mehr hier, „die ist schließlich schon 23 und kommt alleine klar.“ So flapsig sie das sagt, so glücklich strahlt sie, wenn sie von ihrer Tochter erzählt, die nicht nur in einer Band singt, sondern auch studiert und „alles total straight durchzieht“.

Dass Lisa Politt damals überhaupt im Tuntenchor landete, hatte mit Ernie Reinhard zu tun, den sie noch aus der Schulzeit kannte. Als einziger bot er ihr eine Band an, in der sie singen konnte. „Die Hamburger Musikszene war damals derart arrogant, dass ich keine andere Möglichkeit hatte“, sagt Lisa Politt.

Rocksängerin hatte sie schon werden wollen, als sie noch ein aufsässiger Teenager war, im niedersächsischen Bomlitz. „Zwischen Vogelpark und Löns-Denkmal“, wie die Kabarettistin ihre Heimat charakterisiert, mit deren Enge sie sich bis heute nicht ganz versöhnt hat. Der Mutter zuliebe, mit der sie es auch nicht einfach hatte, schrieb sie sich dann doch in Hamburg an der Uni ein. Zuerst nur, damit die Mutter den Anspruch auf Kindergeld nicht verliert, aber die Psychologie hatte sie dann wirklich gepackt. Eine Zeit lang wollte sie sogar Psychoanalytikerin werden, „aber die Distanz zu dem anderen Menschen, die dafür ja zu Recht gefordert wird, die hätte ich einfach nicht aushalten können.“

Also verlegte sie ihre Analysen auf die Bühne, wo bei aller intellektueller Schärfe auch Raum ist für Lisa Politts Leidenschaft, die sich, einmal entfesselt, so leicht nicht mehr aufhalten lässt. Vor allem, wenn es gilt, gegen Ungerechtigkeit und für die Schwachen zu kämpfen. Diese Mischung aus Gefühl und Härte charakterisiert all ihre Programme von „Fühlt euch wie zuhause“ bis „Rache“, sie hat ihr den ein oder anderen Ärger nicht nur mit der Presse eingehandelt und ist jetzt endlich mit dem Deutschen Kabarettpreis gewürdigt worden.

„Verdient“ findet sie selbst diese Auszeichnung, und sie freut sich auch deswegen ganz besonders, weil der Preis, seitdem er 1984 erfunden wurde, jetzt zum ersten Mal an eine Frau geht. Dabei, bemerkt sie trocken, gebe es ja nun schon seit einiger Zeit ganz hervorragende Kabarettistinnen, doch möglicherweise bräuchten Männer eben etwas länger, um das zu bemerken. Immerhin haben die Presse-Meldungen über den Kabarettpreis dazu geführt, dass ein Polizist auf St. Pauli sie erkannt hat. Der pfiff seinen Kollegen zurück, der ihr einen Platzverweis erteilen wollte, weil er sie zur autonomen Szene rechnete, „dabei wollte ich nach einem Auftritt doch nur Pommes essen!“ Sehr fröhlich, fast schon albern erzählt Politt diese Geschichte. Hat einen genauen Blick noch für das absurdeste Detail, beschreibt die Situation mit wenigen Worten so, dass man sich fühlt, als sei man auf dem Kiez dabeigewesen.

Doch bei aller Liebe zu den kleinen Absurditäten des Alltags – auf der Bühne würde sie die Geschichte nie erzählen, ohne wenigstens einen kleinen Hinweis auf die politische Bedeutung von Platzverweisen einzubauen. Sonst könnte sie ja gleich Comedy machen. Deshalb sagt sie auch, blitzartig wieder ernst, dass sie nicht abhängig sei von Preisen und Auszeichnungen, denn „künstlerischer Maßstab können für mich doch nur Leute sein, die meine linke politische Grundhaltung teilen und mich vor diesem Hintergrund kritisieren.“ Dafür gebe es ein Netzwerk guter Freunde, und ansonsten sage ein Verriss oft mehr über den Kritiker als über die Verrissene. Was nicht bedeutet, dass sie eine schlechte Kritik nicht immer noch als persönliche Verletzung empfände.

Diese Empfindsamkeit hat sie sich trotz 20 Jahren Bühnenerfahrung bewahrt, wie auch die Überzeugung, dass Frauen solchen Angriffen unter der Gürtellinie häufiger ausgesetzt sind als Männer. Überhaupt habe sich an ihrer Haltung wenig verändert in den letzten zwei Jahrzehnten, „an den Verhältnissen ja schließlich auch nicht“.

Aber natürlich habe sie heute viel mehr Erfahrung und ein ganz anderes Verhältnis zum Publikum. „Früher hatte ich richtig Angst vor denen und habe versucht, möglichst jeden Kontakt zu vermeiden.“ Inzwischen mache es ihr Spaß, mit ihnen von der Bühne aus in eine Art Gespräch zu kommen. „Wenn es mir gelingt, gerade diejenigen, die nicht von Anfang an meiner Meinung sind, mit einer Geschichte abzuholen, die sie aus eigener Erfahrung kennen und sie damit an andere Themen und Einsichten heranzuführen, ist das ein Erfolg“, beschreibt sie ihre heutige Arbeitsweise. Freundlicher sei sie mit den Jahren geworden, meint sie. Tatsächlich könnte sie mit dieser Methode wohl auch schwer erziehbaren Kindern gut tun. Doch bevor es soweit kommt, hat Lisa Politt noch einiges vor: „Erstens: Das Theater am Steindamm mit guten Programmen gut füllen. Zweitens: Der Welt zeigen, dass nicht nur Männer das Recht haben, mit Falten im Gesicht noch auf der Bühne zu stehen.“ Und drittens: Die Welt verändern, mit Herz und Hirn. Alles weitere findet sich.

Sigrun Matthiesen

Nr. 9: Kleinere Unterkünfte

Zehn Jahre Hinz&Kunzt – zehn Geburtstags-Forderungen

(aus Hinz&Kunzt 130/Dezember 2003)

Darum geht es:

Weit mehr als 10.000 Menschen in Hamburg leben in Massenunterkünften – manchmal mehrere hundert auf engem Raum. Neben 2800 Wohnungslosen (allein Stehende und Familien) sind auch viele Zuwanderer betroffen. Für die meisten bedeutet das ein oft jahrelanges perspektivloses Leben im Ghetto. Deshalb fordert H&K, Wohnungslose und Flüchtlinge in Wohnungen oder kleinen Unterkünften unterzubringen, in denen maximal 20 Menschen leben. Das erhöht ihre Chance auf Integration, vermindert Konflikte – und spart langfristig Geld.

Der Hintergrund:

Wer seine Wohnung verliert oder nie eine eigene gehabt hat, wird „öffentlich untergebracht“. Für die Stadt erledigt das in der Regel „pflegen & wohnen“ (p&w, 14.700 Plätze), daneben haben die Bezirke eigene Unterkünfte angemietet. Oft leben dort mehrere hundert Menschen, in Hamburgs größter Unterkunft, dem Billstieg, sind mehr als 900 Flüchtlinge untergebracht.

Für die Vermieter der meist schlicht gebauten Häuser, die oft in Industriegebieten liegen, bedeutet das ein einträgliches Geschäft: Die Unterbringung eines allein stehenden Wohnungslosen kostet laut Sozialbehörde durchschnittlich 222 Euro pro Monat, die eines Zuwanderers im Schnitt 176 Euro. Die Bezirke überwiesen im Jahr 2001 im Mittel sogar 310 Euro monatlich pro Zuwanderer, so der Senat in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage (neuere Zahlen liegen nicht vor, Red.). Da sich in den kleinen Zimmern und Wohnungen oft mehrere Menschen drängen, kommen bemerkenswert hohe Summen zusammen. Wohlgemerkt: Sozialarbeit ist in diesen Preisen nicht inklusive.

Das Problem ist: Der Stadt fehlen Alternativen. Will sie oder ein freier Träger in einer „normalen“ Wohngegend Sozialwohnungen für Flüchtlinge oder eine Unterkunft für Wohnungslose errichten, bildet sich meist postwendend eine Bürgerinitiative dagegen. Frei nach dem Motto: Sozialstaat ja, aber nicht vor meiner Haustür! Auch Wohnungseigentümer vermieten eher ungern an sozial Schwache. Selbst die städtischen Wohnungsgesellschaften SAGA und GWG, klagen Sozialarbeiter, würden Wohnungslosen und Flüchtlingen immer seltener die Chance auf eigene vier Wände eröffnen. Die Folge: Wenige Betroffene schaffen den Sprung aus der Massenunterkunft. Je länger sie dort jedoch bleiben, desto schwerer finden sie zurück in ein normales Leben.

Zwar wollen die Hamburger Wohnungsunternehmen zusätzlich 600 Mietwohnungen bereitstellen. Doch auch das Kontingent von dann 1570 Wohnungen reicht offenkundig nicht. Mehr als 2500 Hamburger verlieren jedes Jahr ihre Wohnung. Und 8000 Sozialwohnungen fallen jährlich aus der Mietpreisbindung heraus – aber nur 2000 neue werden gebaut.

Selbst wenn es ausreichend Wohnungen gäbe: Nicht für jeden macht der sofortige Sprung in eigene vier Wände Sinn. Wie gut kleine, dezentrale Unterkünfte im Vergleich zu Massenquartieren sind, zeigt die Arbeit der Neuen Wohnung. Nicht mehr als 20 ehemals Obdachlose leben in den Containerdörfern und Häusern des gemeinnützigen Projekts und werden dort von je einem Sozialarbeiter betreut (der Betreuungsschlüssel in einer p&w-Unterkunft liegt bei 1:100).

Das kostet zwar erst mal mehr – 600 Euro pro Bewohner und Monat –, doch rechnet sich die Investition: Jeder zweite zieht früher oder später in die eigene Wohnung, so die Neue Wohnung, im Schnitt bleiben die Bewohner nicht mal ein Jahr. Zum Vergleich: Aus den p&w-Unterkünften schaffen nach Angaben des Betreibers pro Jahr 400 der 2300 untergebrachten Menschen (allein Stehende und Familien) den Sprung in privaten Wohnraum. Einer internen Untersuchung von p&w-Sozialarbeitern zufolge leben 72 Prozent der allein stehenden Wohnungslosen länger als ein Jahr in einer Unterkunft.

Wie machen es andere:

Was 2004 endlich auch in Hamburg Wirklichkeit werden soll – die Einrichtung bezirklicher Fachstellen, deren oberstes Ziel die Vermeidung von Wohnungslosigkeit ist –, praktizieren andere Städte schon lange. So gelang es beispielsweise Duisburg, durch Prävention die Zahl der Zwangsräumungen quasi auf Null zu drücken. Folge: In den städtischen Notunterkünften leben statt ehemals 2500 nur noch knapp 100 Menschen. Vorteil der Duisburger: Wohnraum fehlt dort nicht.

In Berlin dürfen Asylbewerber seit kurzem in den eigenen vier Wänden statt in Massenunterkünften leben. Das ermögliche den Betroffenen nicht nur mehr Eigenständigkeit, sondern sei auch „finanziell günstiger“, so Sozialsenatorin Heide Knake-Werner (PDS). Bisher zahlte die Hauptstadt rund 300 Euro monatlich für die Unterbringung eines Asylbewerbers in einer Unterkunft. Mit der Reform werde der Haushalt deutlich entlastet, so eine Sprecherin. In der Regel müssen die Sozialämter die Kosten der Unterbringung tragen, da Asylbewerber in Deutschland nicht arbeiten dürfen. Vorteil für Berlin: Auch dort ist der Wohnungsmarkt deutlich entspannt.

So müsste es laufen:

– Sozialbehörde und Bezirke müssten die Verträge mit Vermietern überteuerter Massenunterkünfte kündigen und mit dem Geld kleine, dezentrale Unterkünfte für Wohnungslose und Flüchtlinge anmieten beziehungsweise errichten lassen

– Die städtischen Wohnungsunternehmen SAGA und GWG müssten verpflichtet werden, vermehrt an sozial Schwache zu vermieten

Ulrich Jonas