Arbeit, Würde, Hoffnung

Das „Job Club Mobil“ hilft Menschen in Osdorf und anderswo

(aus Hinz&Kunzt 128/Oktober 2003)

Mama hat sie geschickt. Nun steht Judith mit Freundin Sarah am „Job Club Mobil“ und blättert in den Stellen-Angeboten. Raumpflegerinnen werden gesucht und Bürokräfte, ein Zerspanungsmechaniker und Altenpflegerinnen. Aber keine Fleischfachverkäuferin. Vor zwei Wochen hat die 20-Jährige ihre Ausbildung beendet, seitdem ist sie beschäftigungslos.

„Wir können dich nicht übernehmen – du weißt, die wirtschaftliche Lage“, hat der Chef Judith zum Abschied gesagt. „Das macht keinen guten Eindruck: Lehre fertig und gleich arbeitslos“, sagt die junge Frau mit den blonden Strähnen im roten Haar. Tankstellen-Kassiererin in der Nachtschicht: Dieses Angebot hat sie sich rausgesucht, „wegen der Zulagen“. Da entdeckt Martin Rother, der freundliche „Servicehelfer“ von der rollenden Arbeits-Börse, im Wirrwarr der Zettel doch noch ein passendes Angebot – jedoch befristet auf ein Jahr. „Wenn du einen guten Eindruck hinterlässt, kannst du vielleicht bleiben“, meint Sarah, und Martin Rother nickt.

Den Menschen die Arbeitsangebote bringen, die sie selbst nicht finden: Das ist die Aufgabe vom „Job Club Mobil“, einem Projekt des Vereins Nutzmüll. Regelmäßig kurvt der zum Mini-Beratungszentrum umgebaute Mercedes-Transporter im Auftrag des Bezirks Altona, der Stadt und des Arbeitsamtes durch sozial schwache Stadtteile wie Lurup, Altona-Nord und Osdorf. Dort bieten die Berater den Menschen Hilfe an bei Jobsuche, Bewerbung und Orientierung und vermitteln sie, soweit möglich, in Fortbildungs- und Beratungsangebote. Immer im Gepäck haben sie aktuelle Stellenangebote aus den Info-Börsen des Arbeitsamtes, aus Internet, Tageszeitungen, Wochenblättern und der „Bild“.

An diesem Nachmittag parkt der Bus, wie jeden Donnerstag, vorm Einkaufszentrum am Osdorfer Born. Vor dem „Job Club Mobil“, am weißen Plastiktisch, steht Beraterin Bärbel Schulz, Soziologin mit Herz und weiten Klamotten. Die 38-Jährige nimmt die Menschen so, wie sie sind, und das kommt an. „Hallo!“, ruft eine blonde Frau in den Vierzigern und nähert sich dem Bus. Die Tochter deutscher Aussiedler, vor 20 Jahren zurückgekehrt, hat gute Nachrichten: Sie hat einen Job gefunden, „eigeninitiativ“, wie Bärbel Schulz zufrieden anmerkt. Seit zwei Tagen, erzählt die Mutter erwachsener Kinder, arbeitet sie als Küchenhilfe im Altersheim – zwar noch ohne Arbeitsvertrag und nur auf 400-Euro-Basis, aber immerhin. Das sind die schönen Momente in ihrem Berufsleben, sagt die Beraterin: „Wenn ich in leuchtende Augen schau’ und höre: ,Ich bin zufrieden!‘“ Doch die Zeiten werden schwieriger.

„Die Firmen werden zugeschüttet mit Bewerbungen“, sagt Bärbel Schulz. Und: Immer mehr Unternehmen vergeben ihre Jobs nur noch befristet. Fast die Hälfte der Stellenangebote würden inzwischen über Zeitarbeitsfirmen abgewickelt. Im gewerblichen Bereich seien es bis zu drei Viertel. Oft geht es um Jobs wie diesen, den ein Harburger Unternehmen anbietet: „Sortieren von Dosen am Fließband, Schichtdienst, Sechs-Tage-Woche, gute Deutschkenntnisse werden vorausgesetzt.“ Ein Anruf bei der Zeitarbeitsfirma, die als Vermittlungsagentur dient, erhellt die wenig verlockenden Aussichten: „Mit mehr als 800 Euro netto können Sie nicht rechnen“, erklärt die freundliche Dame am Telefon – macht einen Stundenlohn von rund fünf Euro, „ohne Aufstiegs- und Mehrverdienstmöglichkeiten“ wohlgemerkt.

Delek (Name geändert, Red.) hat die Nase voll von Jobs auf Zeit. „Eine Woche dies, die nächste das – nee, das hab ich oft genug gemacht“, sagt die hagere Frau in gebrochenem Deutsch. Die gebürtige Türkin, seit elf Jahren in Hamburg, sucht eine feste Stelle als Packerin oder Putzfrau. „Weit weg oder nicht: Das ist mir egal. Hauptsache, ich finde Arbeit!“ Doch mit den zwei Kindern, die sie betreuen muss, stehen die Chancen schlecht. 40 Angebote habe sie sich kürzlich beim Arbeitsamt rausgesucht, überall angerufen, vergebens. „Einer hat gesagt, er ruft zurück. Hat er aber nicht gemacht.“ Beraterin Schulz kennt dieses Gefühl, wenn sie versucht, Stellenangebote zu akquirieren. „Nö, wir haben schon genug Bewerber“, bekommt sie dann zu hören. Oder: „Keine Zeit. Hier wird gearbeitet.“ Da denkt sie oft: „Wenn mir das schon an die Nerven geht, kann ich mir gut vorstellen, wie sich meine Leute fühlen.“

Schlechte Ausbildung, zu hohes Alter, kein Führerschein und mangelnde Deutschkenntnisse: Viele ihrer Gesprächspartner haben nur schlechte Aussichten auf dem Arbeitsmarkt. Da ist die Psychologin genauso gefragt wie die Beraterin. Wenn einer nach 30 Jahren Malochen infolge gesundheitlicher Probleme den Job verliert, sagt Bärbel Schulz, geht es für sie nicht nur darum, die „kleine Lücke, etwa in Form von Teilzeit“ zu finden. Dann will sie auch „die Arbeit würdigen, die die Menschen geleistet haben“.

Trotz vier Jahren Stadtteilentwicklung, sanierten Spielplätzen, dem neuen Kindermuseum und einem Runden Tisch: Die Not in Quartieren wie dem Osdorfer Born ist groß. „Viele haben so existenzielle Probleme, dass es für sie unheimlich schwierig ist, sich Hilfe zu holen. Die schaffen es gerade noch zum Sozialamt – aber das war’s dann auch“, formuliert Katrin Jänke, Stadtteilmanagerin und somit Mittlerin zwischen Stadtteil, Verwaltung und Politik. 16,4 Prozent Sozialhilfe-Empfänger, 11,3 Prozent Arbeitslose – das sind die offiziellen Zahlen zum Leben in der Hochhaus-Siedlung. Und der Rotstift der Haushaltspolitiker hinterlässt auch hier tiefe Spuren: Im Haus der Jugend betreuen nur noch zwei Sozialarbeiter bis zu 240 Kids – früher waren es mal vier. Der zweite Jugendklub wurde „entkommunalisiert“, nebenbei strich das Bezirksamt eine Betreuer-Stelle. Der einzige Straßensozialarbeiter kann sich seit April nicht mehr um die Jugendlichen im Viertel kümmern – es findet sich niemand, der seinen Lohn zahlen würde. Das Ortsamt soll geschlossen werden und vielleicht auch die Bücherhalle. Da sagt die Stadtteilmanagerin, nach ihren Visionen fürs Viertel befragt, nur: „Ich wünsche mir, dass die soziale Infrastruktur und deren gute Vernetzung erhalten bleiben“.

Auch die rollende Job-Börse bleibt von der Sparwelle nicht verschont: Statt sechs Beratern zahlen Arbeitsamt und Wirtschaftsbehörde neuerdings nur noch zwei, plus zwei Service-Kräfte. Und während die befristet beschäftigten Pädagogen früher zwei Jahre bleiben konnten, sind ihre Jobs nun auf zehn Monate befristet. Darunter leide die Qualität der Beratung erheblich, sagt Frauke Müller, Koordinatorin des Projekts. „In der Regel brauchen wir ein Jahr, um die Leute bei uns einzuarbeiten.“ Miserabel sind die Arbeitsbedingungen, ungebrochen ist der Andrang: 650 Menschen suchten in den ersten sieben Monaten dieses Jahres erstmals Kontakt mit den Beratern. Frauke Müller: „Wir ersparen den Behörden viel Arbeit: Wir bauen Aggressionen ab und arbeiten mit den Menschen an einer realistischen Perspektive.“

Amir träumt von einem Job in der Medienwelt. „Brauch ich als Fotograf eine Ausbildung?“ Lange blättert der 21-Jährige in den Stellenangeboten. Vor drei Monaten hat er sein Abi gemacht, nun will er erst mal „ein bisschen Geld verdienen“. Um eine Lehrstelle hat er sich gar nicht erst beworben. Als bei den ehemaligen Klassenkameraden die Absagen eintrudelten, habe er sich gedacht: „Das Geld spare ich lieber.“ Nur einer der 20 Schulabgänger, erzählt Amir, habe bis heute einen Ausbildungsplatz gefunden: „Das ist katastrophal!“ Er will wiederkommen. Drei Job-Angebote nimmt er schon mal mit.

Ulrich Jonas

Der Aufstand der Weberin

Eine sächsische Arbeiterin klagt auf fairen Lohn – und scheitert an 12 Cent

(aus Hinz&Kunzt 128/Oktober 2003)

„Kaum ist das Geld da, ist es weg!“, sagt Heike Krauße. Die gelernte Textilfacharbeiterin arbeitet in einem Teppichwerk an der tschechischen Grenze: eine Woche Früh-, eine Woche Spät-, eine Woche Nachtschicht. 4,85 Euro brutto die Stunde zahlt ihr dafür der Arbeitgeber, die Erzgebirgische Radici-Teppichwerk GmbH (ERTW). Hinzu kommen Schichtzulagen von 0,73 bis 1,70 Euro die Stunde, steuerfrei.

In der Summe kommt die 35-jährige Weberin auf rund 700 Euro netto monatlich. Das reicht für die Miete und die Rate fürs Auto. „Existieren kannst du davon nicht“, sagt die Mutter zweier Kinder. Heike Krauße ist das, was Forscher eine „working poor“ nennen: Sie arbeitet und hat dennoch nicht genug Geld zum Leben. Laut Tarifvertrag-Ost müsste sie fast das Doppelte verdienen, 8,95 Euro die Stunde. Doch was nützt ein Tarif, wenn der Arbeitgeber ihn nicht anerkennt?

Der Ort Bärenstein liegt tief im Erzgebirge, direkt an der Grenze zu Tschechien. Jeder Fünfte hier ist arbeitslos, wer anderswo einen Job findet, verlässt die Heimat. 3000 Menschen leben im „staatlich anerkannten Erholungsort“, früher waren es doppelt so viele. Das war die Zeit, als die „Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft Wismut“ tonnenweise Uran aus den Bergen holte. Drittgrößter Uranproduzent der Welt nannte sich die Wismut AG noch Ende der Achtziger. Doch mit der Wende kam das Aus. Seitdem zeugen verlassene Bergstollen, leer stehende Fabriken und verfallende Bürgerhäuser von den Zeiten, als die Menschen noch vom Rohstoffreichtum ihrer Berge profitierten.

In gewisser Weise gehört Heike Krauße zu den Glücklichen dieser abgelegenen Welt: Erstens hat sie Arbeit. Zweitens hat sie einen Mann. Und drittens hat der ebenfalls einen Job. Nachdem er „Jahre auf ABM geritten ist“, wie die Weberin erzählt, arbeitet er nun als Koch im nächsten Krankenhaus – und verdient sogar ein paar Euro mehr als seine Frau. Urlaub können sich die Kraußes dennoch kaum leisten, höchstens eine Reise zu Verwandten an die Ostsee. Und wenn der 13-jährige ältere Sohn – „er wird gerade modebewusst“ – sich eine neue Schlaghose wünscht, muss die Mutter sagen: „Olli, es tut mir Leid. Ich kanns einfach nicht.“

Gewerkschafter Klaus Börner packt angesichts solcher Verhältnisse die Wut: „Die Menschen gehen doch arbeiten, um davon leben zu können!“, sagt der 52-jährige IG Metaller, der regelmäßig durchs Gebirge fährt, um in den Betrieben gegen Dumping-Löhne anzureden. Auch den Angestellten des Bärensteiner Teppichwerks wollte er erzählen von Tariflöhnen und Arbeitnehmerrechten, von der Macht der Belegschaft und der Stärke der Gewerkschaft. Doch nur 16 der rund 60 Beschäftigten kamen zur „offenen Mitgliederversammlung“ in die örtliche Gaststätte. Schnell wurde klar: Tarifverhandlungen kann der Gewerkschafter hier nicht führen. Nicht mal jeder Dritte im Betrieb gehört zur IG Metall. „Die meisten haben Angst, dass der Laden geschlossen wird und sie ihre Arbeit verlieren“, sagt Börner. Diese Befürchtungen sind nicht grundlos: Die Ränder der ERTW-Teppiche, heißt es, ketteln heute schon Tschechinnen auf der anderen Seite der Grenze – für 2,50 Euro die Stunde. Und was wird werden, wenn das Nachbarland im kommenden Jahr der Europäischen Union beitritt und die Grenzen fallen?

Auch Heike Krauße hatte lange Zeit Angst. Immer wieder dachte sie: „Wo willst du hin? Du kriegst hier keine neue Arbeit!“ Seit fast 20 Jahren arbeitet sie im Teppichwerk. Gerade mal eine Lohnerhöhung habe es in dieser Zeit gegeben, „um 25 Cent, aber nicht für alle, für mich jedenfalls nicht“. Früher, zu DDR-Zeiten, war die Bezahlung noch gut, erzählt Heike Krauße. „Damals war das viel Geld.“ Doch nicht erst mit dem Euro ist das Leben auch im Erzgebirge teurer geworden. Immer wieder habe der Werksleiter mehr Lohn versprochen, „unter 800 Euro soll hier keiner verdienen“, habe er gesagt. Doch passiert sei nichts. „Der vertröstet uns seit Jahren“, sagt Heike Krauße. „Seit vielen Jahren.“

Im Mai 2002 kandidiert die Weberin als Betriebsrätin – und wird gewählt. Obwohl sie seitdem nur schwerlich kündbar ist, zögert sie lange, um fairen Lohn zu kämpfen. Die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes sitzt tief. Außerdem denkt sie: „Betriebsrätin werden und dann klagen – das sieht schon ein bisschen blöd aus.“ Anfang des Jahres entscheidet sie sich. „Wenn ich’s jetzt nicht mach und mir das noch zehn Jahre lang angucke, was wird dann?“, denkt sie sich. „Hältst Du das durch?“, fragt Klaus Börner. Der Gewerkschafter ahnt, was passieren wird: Der Werksleiter schickt seinen Arbeitern Änderungskündigungen, um weitere Klagen zu verhindern. Heike Kraußes Lohn zahlt er zwei Monate lang gar nicht. Und manch Kollege giftet die Weberin nun an. „Mein Hemd hängt auch dran!“, zischt ein Meister. „An deiner Stelle würd ich mich nicht mehr trauen, auf die Straße zu gehen!“

Beim Termin im Chemnitzer Arbeitsgericht klärt der Vorsitzende erst mal die einfachen Fragen: „Den ausstehenden Lohn müssen Sie nachzahlen!“, verdonnert er den Werksleiter. Dann geht’s ans Eingemachte: Ob er bereit sei, das Gehalt der Weberin anzuheben, fragt der Richter. Der Werksleiter zeigt sich hart: Er würde allenfalls Weihnachts- und Urlaubsgeld zum Grundlohn umwandeln, um diesen so zu erhöhen. „Das ist nur eine Umverteilung!“, ruft der Gewerkschaftsanwalt empört. Der Richter tippt auf dem Taschenrechner herum. Was ist laut Statistischem Landesamt der „ortsübliche Lohn“ in der Branche? Und unterschreitet das Gehalt der Weberin diesen um mehr als ein Drittel? Denn nur dann, so ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, liege „Lohnwucher“ vor.

Am Ende entscheiden 12 Cent. Genau diese Summe verdient Heike Krauße zu viel die Stunde, um von „sittenwidrigem Lohnwucher“ sprechen zu können, entscheidet das Gericht und weist die Klage ab. Grundsätzlich sei er schon gegen zu niedrige Löhne, sagt der Richter nach dem Urteil. Doch müsse er auch der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Region Rechnung tragen. „Es ist ein offenes Geheimnis, dass hier für gleiche Tätigkeiten weniger gezahlt wird als etwa in Chemnitz.“ Nicht zuletzt, so der Richter, „muss man Bestrebungen gerade der Textilindustrie berücksichtigen, die Produktion nach Tschechien zu verlagern“. Es ist erst sein zweiter Prozess dieser Art in gut zehn Jahren. Dennoch weiß er: „Die Vergütungen sind zum Teil so niedrig, dass man sich schon fragt: Wie leben diese Leute?“

Der Aufstand ist vorerst niedergeschlagen. Gewerkschafter Börner ist empört: „Das Urteil passt in die politische Landschaft: Alles dreht sich darum, die Arbeitskraft billiger zu machen.“ Er wird weiter für gerechte Löhne im Erzgebirge kämpfen. Der Weberin bleibt die Berufung vor dem Landesarbeitsgericht. Ihr Anwalt prüft, ob die Statistiker tatsächlich die Zuschläge in ihre Lohnermittlungen einbezogen haben, wie das Gericht glaubt. Ist dem nicht so, wird der Lohn im Teppichwerk doch noch zum Wucher. Darauf hofft Heike Krauße und sagt: „Für mich ist der Fall noch nicht abgeschlossen. Und hätt ich nichts gemacht, hätt ich mir auch in den Arsch gebissen.“

Ulrich Jonas

Der Wortspieler

Rupprecht Matthies schafft Kunst für Hinz&Kunzt

(aus Hinz&Kunzt 128/Oktober 2003)

Freiheit ist durchsichtig. In großen, geschwungenen Schreibschriftbuchstaben aus transparentem Plexiglas mit eingeschlossenen Luftblasen hängt das Wort ziemlich weit oben an der Wand. Weiter unten in einem dunklen, fast blutigen Rot „Ein Herz“. Das Wort „AUF-STEHEN“ leuchtet in Druckbuchstaben in einem kräftigen Gelb, „Nette Leute“ blinkt in verspiegelter Schönschrift. An die 30 Begriffe füllen gut zwei Quadratmeter der Atelierwand. Davor steht Rupprecht Matthies, 44, renommierter Hamburger Künstler. Er hat die Worte aus den farbigen Kunststoffplatten ausgesägt, deren Reste hier überall herumstehen, aus Kisten quellen und als feiner Staub den Boden bedecken. Die Vorlagen stammen von Hinz und Kunzt-Verkäufern, es sind ihre Antworten auf die Frage „Was bedeutet Hinz & Kunzt für dich?“, aufgeschrieben in ihrer eigenen Handschrift, die Rupprecht Matthies dann vergrößert hat.

Jetzt grübelt er über die Anordnung nach. „Man könnte das als Mobile aufhängen, dann bekommt ,Ein Herz‘ auch Licht von hinten und das Rot leuchtet viel stärker.“ Welchem Wort er welche Farbe zuordnet, was wo steht, das sind Fragen, mit denen er sich lange beschäftigt. „Letztlich entscheide ich das aus dem Bauch, oft mache ich einen Begriff noch mal, wenn ich das Gefühl habe, die Farbe passt nicht.“ Wenn dann schließlich alles richtig ist, „sollte jedes Wort so isoliert stehen, dass man ganz anders darüber nachdenken kann als im Alltag, wo man Sprache ja ständig einfach irgendwie benutzt.“ „AUF-STEHEN“ beispielsweise, beschreibt Rupprecht Matthies das Ziel seiner Arbeit, erscheine ja zunächst als ein ziemlich banaler Begriff. „Doch je länger man darüber nachdenkt, desto mehr merkt man, welche Kraft, aber auch welche Anstrengung damit verbunden sein kann.“

Überall im Atelier gibt es was zu lesen: Filigrane, kaum fünf Zentimeter hohe Schriftzüge, an einem zarten Stab befestigt, stehen in den Regalen, über der Tür hängt „etwas“ in einem zarten Grau und neben dem Fenster ein großes, feuerwehrrotes „Freude“.

„Das Sammeln von Worten ist inzwischen schon so etwas wie eine Zwangshandlung“, gibt er grinsend zu, „aber manchmal reagiere ich mich damit auch ab.“ Nach einem „besonders nervigen Telefonat“ habe er beispielsweise ein Bild gemalt, auf dem „ääh“, „öh“, „hmm“ zu lesen ist.

Mit Wortspielen hat er schon früh begonnen, „wie alle Zwanzigjährigen habe ich natürlich Gedichte geschrieben.“ Später, während des Studiums an der Hamburger Kunsthochschule, machte ihm dann Freude, was anderen ein Greuel war, nämlich Titel für seine Bilder zu finden. Bald begann er mit gemalten Worten, Acrylfarbe auf Leinwand. Schließlich 1996 hatte er einen Auftrag, das Foyer eines Herstellers von Plexiglas zu gestalten. Seitdem ist das sein Lieblingsmaterial. Nicht nur für Begriffe, sondern auch für abstrakte, vielfarbige Ornamente, bei denen das Plexiglas wie eine Intarsienarbeit ineinander gelegt ist. „Mustermaster“ heißen diese Arbeiten, die anders als die Worte „einfach einen Moment einfangen, meine Stimmung in einer ganz bestimmten Situation wiedergeben – und außerdem ist es natürlich auch Resteverwertung“, ergänzt Rupprecht Matthies und ist in diesem Moment ganz Handwerker.

Im vorigen Jahr waren seine Mustermaster in der Kunsthalle zu sehen, zusammen mit Köpfen und Figuren aus Acrylglas. Diese „Minnas und Fuzzis“ sind in einem gemeinsamen Projekt mit Jugendlichen in Brandenburg entstanden, die damit ihre Plattenbau-Siedlung verschönern. In der SAGA-Siedlung Wildschwanbrook drehen sich seit 1999 auf vier Meter hohen Stelen die Wörter „alles“, „locker“ und „usw“ im Wind – „Windwörter“ taufte Matthies sein Kunstwerk. Auf dem Deichtorhallenplatz stehen seine „Sprachzylinder“, eiserne Pavillons wie man sie aus Gärten kennt. Nur dass hier statt Gitterstäben Begriffe geschmiedet wurden, für die er Passanten befragte, was der Platz ihnen bedeutet. Auch mit Flüchtlingen auf den Asylschiffen hat er schon Begriffe gesammelt.

Ganz anders als das Klischee vom einsamen Künstler in seinem Atelier nahelegt, mag Rupprecht Matthies die Zusammenarbeit mit Menschen, kann gut zuhören, wirkt ausgeglichen und freundlich. „Aber dazu brauche ich auch ab und an ein paar Tage alleine mit meiner Stichsäge und dem Plexiglas“, schränkt er ein, und wenn er male, dann müsse man auch ihn schon mal ein paar Wochen in Ruhe lassen. Zur Zeit arbeitet er in Bremen zum Thema „Verzicht“ – gemeinsam mit Jugendlichen aus dem Knast und mit zufälligen Passanten auf dem Domplatz. „Ich interessiere mich sehr für Durchlässigkeiten“, erklärt er. Das bedeutet für ihn: Gesellschaftliche Gruppen, die sonst keine Berührungspunkte haben und vielleicht auch nichts voneinander wissen wollen, erfahren über den Umweg der Kunst plötzlich etwas voneinander und stellen vielleicht sogar Gemeinsamkeiten fest. „Denn schließlich unterscheiden wir uns doch gar nicht so sehr, wir haben alle nur ein Leben, mit dem wir irgendwie klar kommen müssen, und – innerhalb eines Landes – eine gemeinsame Sprache.“

Das ist auch die Idee beim „Hinz&Kunzt-Geburtstags-Kunstwerk“: „Leute, die sonst mit Obdachlosigkeit nichts zu tun haben, stehen in einer Galerie, sehen sich die Worte an und stellen vielleicht fest, dass der Begriff ‚Nette Leute‘ auch für sie Bedeutung hat oder ihnen ‚AUF-STEHEN‘ nicht immer leicht fällt.“ Die Worte, die Matthies selbst bei dieser Arbeit am wichtigsten sind? „‚Hoffnung‘, das braucht man immer“, sagt er und lächelt, „und ‚Arroganz nicht erwünscht‘, das ist doch eine zentrale Lebensäußerung für jeden Menschen.“

Sigrun Matthiesen

Gekommen, geblieben

Der Lebenslauf einer türkischen „Gastarbeiterin“ in Hamburg

(aus Hinz&Kunzt 128/Oktober 2003)

Vor 30 Jahren kam Nermin Özdil – wie so viele Landsleute – nach Deutschland. Ursprünglich wollte sie schnell wieder in die Türkei zurück. Jetzt ist sie 60 Jahre alt, lebt mit ihrer Familie in Hamburg. Der Autor und Regisseur Michael Richter hat sie für sein Buch „gekommen und geblieben“ interviewt.

„In München holten sie uns in einen großen Raum. Jeder von uns hatte eine Startnummer bekommen, ich hatte die Nummer 311, und jetzt drückte man uns einen Zettel in die Hand, auf dem das Ziel stand, wo wir hinfahren sollten. Alle in diesem Raum waren Türken, die nach Deutschland gekommen waren, um zu arbeiten.“

Nermin Özdil erinnert sich an jedes Detail dieser Situation, die immerhin schon 30 Jahre zurück liegt. Jetzt sitzt sie gelassen in ihrer Wohnung in Altona, ihre Augen ruhen auf dem Gesprächspartner. Sie nippt an ihrem Tee und ihre volle, warme Stimme füllt den Raum. Sie hat diese Geschichte sicher schon oft erzählt, und trotzdem spürt man intensiv dieses Gemisch aus Angst, Anspannung und Vorfreude, das sie damals empfunden haben muss.

„Ich war sehr aufgeregt. Die meisten anderen meiner Landsleute waren in Gruppen zu viert oder zu fünft unterwegs. Ich war die einzige, die alleine gekommen war. Man hatte mir eine Arbeit in einem Hotel als Köchin versprochen. Aber jetzt hieß es plötzlich, es gäbe Arbeit in einer Stoßdämpferfabrik für mich – in einer Stadt in Norddeutschland, in Uelzen.“

Ein Schock für die junge Türkin, die gerade ihre ersten Stunden im fremden Land Deutschland erlebte. Sie soll nicht in einem Hotel arbeiten? Sie soll in einer Fabrik arbeiten? Alles, was man ihr in der Türkei versprochen hatte, ist auf einmal anders. Was soll sie jetzt tun – aufgeben? Umkehren? Aber Nermin Özdil ist keine Frau, die sich leicht unterkriegen lässt. Sie nimmt die Herausforderung an und setzt sich in einen Zug nach Norden.

„In meinem Abteil fand ich einen Plan, den blätterte ich durch und schaute nach dem Namen „Uelzen“. Das war das einzige, was ich verstanden hatte: Ich werde in Uelzen arbeiten. Auf dem Fahrplan stand: 9 Uhr Uelzen. Ich schlief nicht, weil ich Angst hatte, die Station zu verpassen. Ich schaute immer aus dem Fenster, achtete auf die Uhr und stieg da aus, wo der Zug um 9 Uhr hielt.“

Man schreibt das Jahr 1973, und Nermin Özdil ist 30 Jahre alt. Sie hat ihren Mann und drei Kinder vorläufig in der Türkei zurückgelassen, um voller Abenteuerlust das sagenhaft reiche Land im Norden zu erkunden. Seit 1961 besteht das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei, mit dem hunderttausende „Gastarbeiter“ für die boomende deutsche Wirtschaft angeworben werden.

In der Türkei staunt man über diejenigen, die in Deutschland arbeiten. „Eines Tages kam ein früherer Arbeitskollege meines Mannes aus Deutschland auf Urlaub nach Hause. Er kaufte sich ein Haus und heiratete. Mein Mann wunderte sich: ‚Wie kann der sich das leisten, der war doch auch nur ein kleiner Beamter wie ich?‘ Allmählich gingen immer mehr Leute aus unserer Umgebung nach Deutschland. Schließlich bat mich eine Nachbarin, die weder lesen noch schreiben konnte, sie zu der Vermittlungsstelle zu begleiten, wo man sich um Jobs in Deutschland bewerben konnte. Aber dort sagten sie, nein, für solche Leute gibt es keine Arbeit mehr. Und dann fragten sie mich: Willst du nicht nach Deutschland gehen? Wenn du als Schneiderin ausgebildet bist, findet sich immer etwas. Und drei Tage später hatte ich ein Angebot im Briefkasten.“

Dann ging alles sehr schnell. Nermin Özdil hatte immer gerne in ihrem Beruf als Hauswirtschaftslehrerin arbeiten wollen, aber ihr Mann war dagegen: „Kümmere dich lieber um die Kinder“, hatte er gemeint. Dass sie damals nach Deutschland ging, war vielleicht auch eine Möglichkeit, diesem Druck zu entkommen. Aber auch für eine abenteuerlustige Frau wie Nermin Özdil verliert das gelobte Land Deutschland schon nach wenigen Wochen den Geschmack des Paradieses.

„In der ersten Zeit wohnte ich in einem Dorf in der Nähe des Betriebs, in einem kleinen Raum mit zwei jungen Mädchen. Wir waren die einzigen Türkinnen im Ort. Eine ging frühmorgens, eine nachmittags und eine um Mitternacht in die Fabrik. Wir konnten nie zusammen zur Arbeit gehen oder zusammen nach Hause kommen. Das Zimmer war ganz einfach eingerichtet, drei Betten, das war’s. Der Herd funktionierte nicht, und wir konnten uns nicht einmal einen Tee kochen.“

Ihr Mann will eigentlich nicht nach Deutschland, und auch Nermin Özdils Schwiegermutter schreibt in einem Brief: „Weißt du nicht, wo du hingehörst? Du hast den rechten Weg noch nicht gefunden.“ Aber die junge Frau ist sich sicher, dass ihr neues Leben trotz allem besser ist als ihr altes. Sie überredet ihren Mann nachzukommen, und als er eine Arbeit findet, holen sie auch die Kinder nach. Kurz darauf wird Nermin Özdil wieder schwanger – die schwere Arbeit in der Stoßdämpferfabrik ist unerträglich. „Mein Meister lachte sich immer tot über mich. Er ließ mich stundenlang fast 50 Kilo schwere Stoßdämpfer schleppen, die ganze Schwangerschaft über. Ich bin wer weiß wie oft im Krankenhaus gewesen wegen dieser Schwerarbeit. In der Firma sagten sie, ich solle doch unter dem Tisch gebären, und lachten mich aus.“

Als Nermin Özdil endlich in den Mutterschutz geht, sucht sie sich eine neue Arbeitsstelle, wieder in einer Uelzener Fabrik. Wieder macht sie schlechte Erfahrungen, und wieder sucht sie neue Arbeit für sich und ihren Mann. Das ist in den siebziger Jahren, als in Deutschland noch Vollbeschäftigung herrscht, problemlos möglich. Schließlich zieht die Familie nach Hamburg – die besseren Arbeitsmöglichkeiten reizen sie ebenso wie die vielen Landsleute, die inzwischen hier leben. Allmählich finden sich die Özdils besser zurecht in Deutschland. Sie können einschätzen, wem sie vertrauen können.

„Ich habe nicht nur schlechte Deutsche kennen gelernt“, meint Nermin Özdil. „Eine Nachbarin, neben der wir in Altona wohnten, bot mir ein Tauschgeschäft an: ‚Frau Özdil, du kannst für uns nähen, und ich kann für dich dafür schriftliche Sachen erledigen.‘ – Sie fand für mich den Job bei Kaufhof. Sie hatte die Anzeige in der Zeitung gelesen: ‚Das ist was für dich, es ist gleich um die Ecke, dann kannst du dich mehr um deine Kinder kümmern.‘ – Sie rief für mich an und kümmerte sich um alles, das war eine große Hilfe. Zum Vorstellungsgespräch ging ich aber alleine. Der Chef wirkte sehr sympathisch, er sagte: ‚Wir haben viele türkische Kunden, da kannst du uns sicher helfen.‘“

21 Jahre lang arbeitet Nermin Özdil als Verkäuferin in der Stoffabteilung bei Kaufhof. Eine schöne Zeit, sagt sie mit Wehmut in der Stimme. Sie hatte einen Beruf, der sie ausfüllte, sah, wie ihre Kinder aufwuchsen und ihren Weg gingen, studierten und heirateten, und hatte das Gefühl, ihren Platz in Deutschland gefunden zu haben. Sie dachte, sie könnte bis zur Rente dort arbeiten, aber dann machte der Kaufhof in Altona zu, und sie wurde entlassen. Das war im Jahr 2000. Seither ist Nermin Özdil arbeitslos und wartet auf die Rente.

Das Warten fällt der resoluten Frau schwer. Es juckt sie in den Fingern, wieder zu arbeiten, obwohl ihre Gesundheit von der jahrzehntelangen Plackerei angegriffen ist. Über ihr Rentnerdasein hat sie sich noch nicht viele Gedanken gemacht: „Einerseits wäre es schön, mehr in der Türkei zu sein, aber ich will doch auch bei meinen Enkeln sein. Vielleicht pendeln wir, wie so viele, und haben so von beiden Ländern etwas.“

Hamburg ist nicht Florida!

Ein Hinz&Kunzt-Kommentar

(aus Hinz&Kunzt 128/Oktober 2003)

Da einen zahlen brav ihre Steuern, und der Rolf lässt sich in Florida die Sonne auf den Pelz brennen und wirft noch ein paar Viagra ein, um den Anforderungen des wilden Lebens durchzustehen. Bezahlen lässt er sich das auch noch vom Sozialamt, von uns allen also. Rolf hat die Gemüter ganz schön in Wallung gebracht. Klar, kann man da angesichts der leeren Kassen ins Grübeln geraten.

Aber selbst Sozialbehördensprecherin Anika Wichert sagt: „Wir haben keinen Florida-Rolf!“ Und wir können nur aus Erfahrung sagen: Der Alltag unserer Leute sieht anders aus. Hamburg ist nicht Florida. Schon gar nicht im Obdachlosenbereich.

Neulich war beispielswiese unser Verkäuferbetreuer Jürgen Jobsen mit einem Hinz & Künztler beim Landessozialamt. An einem Montag Morgen, ganz früh haben sie sich angestellt. Und wurden weggeschickt. Nicht zum ersten Mal. Begründung: Die Sachbearbeiter wären noch dabei, die Fälle, die sich seit Mittwoch aufgestaut hätten, zu bearbeiten. Wieder einmal ist der Krankenstand im Sozialamt so hoch, dass eine geregelte Arbeit gar nicht zu denken ist. Beratung? Fehlanzeige. Eine unhaltbare Situation – für die Sozialhilfeempfänger und für die Mitarbeiter. Aber symptomatisch für die vergangenen Jahre. Ob’s spürbar besser wird mit den drei neuen Mitarbeitern, die jetzt anfangen?

Die Hoffnung auf eine große baldige Veränderung ist gerade geplatzt. Denn die Stärkung der Sozialämter in den Bezirken und die Einrichtung von Fachstellen, in denen Obdachlose und solche, die es werden könnten, aus einer Hand beraten werden sollen, ist verschoben. Ein Armutszeugnis, zumal eigentlich nicht nur die Regierungsparteien, sondern auch SPD und Grüne hinter dem Konzept stehen. Gemunkelt wird schon die ganze Zeit, dass Sozialsenatorin Birgit Schnieber-Jastram (CDU) sich genauso die Zähne an der Wohnungswirtschaft ausbeißt wie ihre rote Amtsvorgängerin und wie letztendlich die gesamte Hamburger Sozialarbeit. Denn die Vermieter wollen sich nicht darauf verpflichten, genügend bezahlbaren Wohnraum für Obdachlose bereitzustellen.

Derweil fallen immer mehr Leute aus dem sozialen Netz. Bei der diesjährigen Besucher-Befragung in der Tagesaufenthaltsstätte Herz As kam heraus, dass inzwischen 15 Prozent der Besucher (2002: 10 Prozent) keinerlei Einkünfte mehr haben. Das heißt: Sie beziehen weder Stütze, Arbeitslosengeld noch Rente.

Vermutlich wird diese Zahl noch ansteigen. Die Sozialbehörde will jetzt flächendeckend denen die Stütze kürzen oder streichen, die keine – wie auch immer geartetet Arbeit – annehmen oder sich selbst nicht genug kümmern. Und das, ohne die Betroffenen vorher an soziale Jobagenturen zu überweise. Und das, obwohl die Sachbearbeiter kaum in der Lage sind, ihre Klienten zu beraten.

Die Schillianer wollen noch nachlegen und Kontrolleure zu allen Sozialhilfeempfänger schicken. Peter Schröder-Reineke (Diakonisches Werk) „regt das richtig auf“. „Wir haben eine Missbrauchsquote von zwei Prozent, da sind die Kontrolleure zig mal teurer als das, was durch ihre Arbeit eingespart wird.“ Viel gravierender findet er den Missbrauch, der durch die Ämter passiert. „Einer Menge Menschen werden ihre Rechte vorenthalten.“

Auch das Winternotprogramm mit rund 200 Schlafplätzen zusätzlich wird abgespeckt. Es läuft jetzt vier Wochen vorher aus zum 31. März. Fast sah es so aus, als würde es die Containerplätze bei den Kirchengemeinden nicht mehr geben. Das konnte abgebogen werden. Aber die Betreuungspauschale wird drastisch gekürzt.

Etwas Positives gibt es allerdings: Die Sozialbehörde will auch den Stützeempfänger Miete und Krankenversicherung weiter bezahlen, denen zeitweise die Hilfe gestrichen wurde. „Wir wollen nicht, dass noch mehr Menschen obdachlos werden“, sagt Behördensprecherin Annika Wichert. „Vor allem wenn Kinder im Spiel sind.“

Birgit Müller

Nr. 7: Mehr Sozialwohnungen

Zehn Jahre Hinz&Kunzt – zehn Geburtstags-Forderungen

(aus Hinz&Kunzt 128/Oktober 2003)

Darum geht es:

Wer wenig verdient, hat Anspruch auf eine Sozialwohnung. Sie wird mit öffentlichen Mitteln gefördert, dafür ist die Miete nicht so hoch wie auf dem freien Markt. Doch die Zahl der Sozialwohnungen in Hamburg geht erheblich zurück. Verlierer sind Menschen mit geringem Einkommen, die keinen bezahlbaren Wohnraum mehr finden.

Der Hintergrund:

Wer eine öffentlich geförderte Wohnung bezieht, zahlt im Schnitt 5,12 Euro pro Quadratmeter. Fast den gleichen Betrag – 4,95 Euro – gab die öffentliche Hand im vergangenen Jahr als Subvention dazu. Für viele ist das die einzige Chance, an eine Unterkunft zu kommen – Wohnungen auf dem freien Markt sind teurer. Das beweist ein Blick in den Mietenspiegel, der für neue Wohnungen je nach Größe und Lage unterschiedliche Mittelwerte ausweist, der günstigste liegt bei 7,67.

Eine Sozialwohnung bekommt nur, wer höchstens 14.400 Euro pro Jahr verdient (für Mehrpersonenhaushalte liegen die Grenzen höher). Das Bezirksamt stellt dann einen Wohnberechtigungsschein aus. Ihn könnten nach Angaben der Baubehörde rund 350.000 Haushalte in Hamburg beanspruchen, also mehr als jeder dritte.

Doch das Angebot an Sozialwohnungen schrumpft. In den vergangenen zwei Jahrzehnten verschwand etwa die Hälfte. So gab es Anfang der achtziger Jahre mehr als 300.000 Sozialwohnungen, 1990 waren es 265.500, Ende 2002 exakt 152.198.

Und so wird es weitergehen: Bis 2012 fallen weitere 54.590 Sozialwohnungen weg, weil die Bauherren die Kredite zurückgezahlt haben und dann nicht mehr an Mietobergrenzen und eine bestimmte Belegung gebunden sind. Derzeit gehören 45 Prozent der Wohnungen dem städtischen Unternehmen SAGA/GWG, 30 Prozent sind in der Hand von Genossenschaften.

Nach Schätzung des Hamburger Mietervereins müssten jährlich 6.000 öffentlich geförderte Mietwohnungen neu entstehen, um eine „Wohnungskatastrophe“ zu verhindern. Die Wirklichkeit sieht anders aus: Der rot-grüne Senat hatte für 2002 den Bau von 2.400 Sozialwohnungen angekündigt, der CDU-geführte Senat reduzierte das Programm auf 1.800.

Finden also Einkommensschwache künftig keine bezahlbaren Wohnungen mehr? Bausenator Mario Mettbach (Schill-Partei) wiegelt ab. Diese Befürchtung „findet in der Realität keine Grundlage“, heißt es in der Antwort auf eine Bürgerschaftsanfrage. Es gebe „weiterhin einen umfangreichen Bestand an gebundenen Sozialwohnungen“, zudem würden SAGA/GWG auch preisgünstige Wohnungen ohne Bindung anbieten. Doch im selben Papier räumt die Behörde ein, dass selbst Suchende mit Dringlichkeitsschein Mühe haben: 2002 bekam nur jeder Dritte eine Wohnung.

Verschärfend kommt hinzu: Der Senat reduziert die Zahl der Sozialwohnungen nicht deshalb, weil er von weniger Einwohnern ausgeht. Im Gegenteil: Bürgermeister Ole von Beust strebt eine „Wachsende Stadt“ an. Derzeit leben in Hamburg rund 1,7 Millionen Menschen, später könnten es bis zu zwei Millionen sein. Nur bezahlbarer Wohnraum, der soll offenbar nicht zunehmen.

Da hilft auch der Hinweis des Bausenators nicht, Hamburg habe neben Berlin das günstigste Mietpreisniveau unter den deutschen Großstädten. Das stimmt zwar, erläutert Städteplaner Dirk Schubert von der TU Hamburg-Harburg. Doch es sei gerade deswegen günstig, weil der Bestand an „mietpreisdämpfenden“ Sozialwohnungen höher sei als in München oder Stuttgart. Folge: Sinkt der Anteil der günstigen Sozialwohnungen, wird tendenziell auch in Hamburg die durchschnittliche Miete steigen.

Das wiederum bekommt auch die öffentliche Hand zu spüren: Sie muss mehr ausgeben für Wohngeld und für Mietzuschüsse zur Sozialhilfe. Dennoch kann die Stadt hier kühl rechnen: Maximal ein Viertel der Haushalte in Sozialwohnungen bezieht Sozialhilfe oder Wohngeld. Das bedeutet: Wird Wohnraum teurer, bleibt das zum größten Teil an den privaten Mietern hängen.

123 Millionen Euro gibt Hamburg in diesem Jahr für das gesamte Wohnungsbauprogramm aus, mit dem neben Mietwohnungen auch Eigenheime gefördert werden. Wenn die Stadt nun die Bauförderung zurückfährt, könnte sie zum Ausgleich zumindest für bestehende Wohnungen eine „Belegungsbindung“ erwerben. Doch in jedem Fall ist klar: Der Senat muss mehr Geld in die Hand nehmen.

Wie machen es andere:

Sozialer Wohnungsbau geht bundesweit zurück. Er ist aber auch nicht überall in gleichem Maße nötig. In Ostdeutschland zum Beispiel gehen Mieten zurück, viele Wohnungen stehen leer. Hier muss nicht in Neubau investiert werden.

In Großstädten sind Sozialwohnungen nach wie vor nötig. Ein extremes Beispiel liefert London. Hier stiegen die Mieten so stark, dass die Stadt mittlerweile ein Wohnungsprogramm mit Kontingenten für „key workers“ aufgelegt hat – um Arbeitskräfte aus Schlüsselbranchen, etwa Krankenschwestern oder Busfahrer, die wegen der hohen Mieten weggezogen waren, in die Stadt zurückzuholen.

So müsste es laufen:

Mehr Sozialwohnungen bauen! Der Stadtstaat Hamburg muss die Förderung für Neubau und Modernisierung von Wohnraum erheblich ausweiten.

Detlev Brockes

Nieren gegen Dollars

Moldawien: Aus Armut verkaufen Menschen ihre Organe

(aus Hinz&Kunzt 128/Oktober 2003)

Der Weg zu Andrei und Angela, die ihren Nachnamen nicht nennen wollen, führt hügelaufwärts über eine knöcheltiefe Schlammpiste. Es hat tagelang geregnet in Mingir, einem moldawischen Dorf nahe der rumänischen Grenze, in dem die Bewohner ihr Wasser noch aus Brunnen schöpfen. Ein Auto würde im Schlamm stecken bleiben, ich versuche den Anstieg zu Fuß, rutschend, mehrfach kurz vorm Fallen. Als ich nach 20 Minuten vor dem Haus der Familie stehe, hängen Klumpen von Matsch an meinen Schuhen, die Hosenbeine sind verdreckt. Andrej, erfahre ich später, macht den Weg hinunter ins Dorf derzeit viermal täglich. Morgens trägt er erst seinen Ältesten, Ion, auf den Schultern zur Schule, dann Vasile, den Jüngeren. Mittags holt er die beiden Söhne auf dieselbe Weise wieder ab.

Andrei und Angela geht es für moldawische Verhältnisse einigermaßen gut. Im ärmsten Staat Europas verdienen die Menschen im Schnitt umgerechnet nur 30 Dollar pro Monat, heißt es in einem Bericht über Organhandel für den Europarat, der im Sommer erschienen ist. Mehr als die Hälfte der Moldawier sind arbeitslos. Auch die Eheleute Andrei und Angela beziehen kein geregeltes Einkommen, aber sie können sich und ihre Kinder versorgen. Zum Beispiel besitzen sie ein Stück Land, auf dem sie Gemüse für die Familie anbauen und Wein, den sie verkaufen. Sie halten Hühner und Gänse, die sie selbst essen, aber auch auf dem Markt anbieten. Und sie handeln mit Fisch: Für 8 Lai bekommen sie am Zuchtteich im Dorf ein Kilo, das sie in der Bezirkshauptstadt für 10 Lai verkaufen, macht 2 Lai Verdienst – der Betrag ist so gering, dass man ihn in Euro-Cent nicht ausdrücken kann.

Die Kuh, die ihnen Milch für die Kinder liefert, hätten sie sich von ihren gelegentlichen Einnahmen allerdings nicht leisten können. Ebenso wenig die dringend nötigen Reparaturen am Haus, das Andrei von seinen Eltern geerbt hat. Deshalb entschloss sich Angela vor vier Jahren zu einem riskanten Schritt. Sie wollte ihre Niere verkaufen, wie gut ein Dutzend anderer Bewohner von Mingir auch. Eine Nachbarin, die das Geschäft schon getätigt hatte, bot sich als Vermittlerin an. Die Operation sollte in der Türkei stattfinden, das sich im vergangenen Jahrzehnt zu einem Umschlagplatz für Nieren entwickelt hat. Es ist nicht der einzige. Obwohl Organhandel international geächtet und in den meisten Ländern verboten ist, hat sich weltweit ein Schwarzmarkt etabliert. Wohlhabende Dialyse-Patienten reisen um den halben Erdball, um eine Niere zu kaufen – was ihnen zu Hause bei Strafe verwehrt ist.

Alles war vorbereitet, die Papiere lagen bereit. Doch dann wurde Angela schwanger. Sie bat die Brokerin um Geld für eine Abtreibung, vergebens: Der Eingriff würde sie zu sehr schwächen, und man wolle kein Risiko für den Nierenkäufer, bekam sie zur Antwort. Doch die Familie brauchte Geld, jetzt war das dritte Kind unterwegs. Also beschloss Andrei, anstelle seiner Frau eine Niere zu verkaufen. Im Sommer 1999 brach er auf, zusammen mit zwei anderen Dorfbewohnern. Über die Ukraine reisten sie nach Istanbul. Dort musste er zu medizinischen Tests in eine Klinik, dann wurde er operiert.

Angst? Andrei lacht verlegen. Nein, er habe keine Angst gehabt. Fast scheint es, als habe er die Zeit im Krankenhaus sogar genossen: Er bekam gutes Essen und Medikamente gegen die Schmerzen; es gab warmes Wasser zum Waschen und eine richtige Toilette; sogar einen Fernseher hatte er auf dem Zimmer. Mit 2900 Dollar in der Tasche reiste Andrei nach acht Tagen zurück, im Bus, die Fahrt dauerte mehr als 20 Stunden.

Einen Arzt hat er seit der Operation nicht mehr gesehen. Dabei sind in Deutschland für Nierenspender lebenslange medizinische Kontrollen gesetzlich vorgeschrieben. Falls sich dabei zeigt, dass die übrige Niere erkranken könnte, lässt sich mit Medikamenten gegensteuern und so verhindern, dass der Spender eines Tages selbst die künstliche Blutwäsche benötigt. Sollte Andrei irgendwann Probleme mit seiner einen Niere bekommen, sieht es schlecht für ihn aus. Medikamente kann er sich nicht leisten, die Möglichkeit der künstlichen Blutwäsche gibt es nicht in seinem Dorf. Das Geld für seine Niere ist längst ausgegeben, und Angela denkt wieder darüber nach, wie sie dazuverdienen könnte. Ihr neuer Plan: Sie könnte nach Italien gehen und dort als Haushaltshilfe arbeiten. Laut der Internationalen Organisation für Migration arbeiten bis zu einer Million der 4,3 Millionen Moldawier inzwischen im Ausland, die Überweisungen an die Familien zuhause machen mehr als die Hälfte des Bruttoinlandprodukts aus. Manche Frau, die sich auf eine Anzeige meldet, findet sich allerdings in der Prostitution wieder.

Oft sind es so genannte verwundbare Familien, aus denen die Opfer des internationalen Frauenhandels stammen, berichten Sozialarbeiter in der moldawischen Hauptstadt Chisinau. Das gilt auch für Organgeschäfte. Nach Angaben der moldawischen Journalistin Alina Radu, die in mühsamer Recherche mehr als 30 Fälle von Organhandel in ihrem Land aufdeckte, benötigen die meisten Spender psychologische und soziale Unterstzützung. Wie zum Beispiel Mihail Istrati aus dem Dorf Susleny nördlich von Chisinau. Geld verdient er nur gelegentlich, wenn er Nachbarn bei der Ernte hilft oder im Herbst die Walnüsse in seinem Garten sammelt und zum Markt trägt. Dennoch sagt Istrati, es habe keinen rechten Grund gegeben, warum er vor vier Jahren seine Niere verkaufte.

Natürlich brauchte er Geld, aber das war nicht entscheidend. Er ließ sich beschwatzen, von einem Kumpel aus dem Dorf, der seine eigene Niere verkauft hatte. Istrati ist Waise. Er wünscht sich heute, er hätte Eltern gehabt, die ihn beschützt hätten. Er ist sich sicher: Dann wäre er nicht auf das Angebot eingegangen.

Anders als Andrei und Angela wusste Mihail Istrati mit den 3000 Dollar für seine Niere nichts anzufangen. 400 Dollar nahm ihm allein der Organ-Broker im Dorf ab. Dann waren da noch Freunde und Verwandte, die ihren Teil von seinem plötzlichen Reichtum abhaben wollten. Den Rest gab er für Kleidung und Essen aus und für Decken, die er seiner über 90-jährigen Großmutter schenkte. Dem 29-Jährigen blieben nur ein neuer Fernseher und die 25 Zentimeter lange Narbe als Erinnerung an die Operation.

Istrati hat den Empfänger seiner Niere nicht kennengelernt, nur einmal kurz gesehen, auf dem Krankenhausflur: einen übergewichtigen Mann mit weißem Haar, schätzungsweise 60 Jahre alt. Der Patient war Israeli, sie konnten nicht miteinander reden. Von einer Krankenschwester erfuhr Istrati, dass der Mann sich das Leben mit der neuen Niere einiges hatte kosten lassen: rund 100.000 Dollar, der übliche Tarif für eine illegale Transplantation in der Türkei. Dass er selbst nur einen Bruchteil der Summe bekam, empörte ihn, aber er wagte nicht zu protestieren. Am Ende wäre er womöglich ganz leer ausgegangen.

Istrati ist ein schüchterner Mann. Zudem hatte ihm der örtliche Broker eingeschärft, er dürfe nicht von seinen Erfahrungen reden. Doch im Sommer reiste Istrati auf Einladung des Europarats nach Straßburg, um vor einer Kommission der parlamentarischen Versammlung zu berichten. Den Kontakt vermittelte die Journalistin Alina Radu. „Ich möchte, dass sich niemand mehr überreden lässt, ein Organ herzugeben, um Geld zu verdienen“, erklärte Istrati den Parlamentariern. „Ich fühlte mich schrecklich ausgenutzt.“

Martina Keller

Sozial brutal

Kommentar

von Thomas Schröder

(aus Hinz&Kunzt 128/Oktober 2003)

Deutschland im Herbst 2003. Die kleine Julia ist zehn Jahre alt. Sie wohnt irgendwo in einer größeren Stadt und heißt eigentlich anders. Doch sie will nicht, dass jemand von ihr erfährt.

Julia schämt sich, weil sie und ihre Eltern arm sind. Wenn sie zur Schule geht, dann hat die Zehnjährige nur selten ein Pausenbrot dabei. Auch an Klassenausflügen nimmt sie nicht teil. Es ist ihr peinlich, wenn andere Kinder ihre voll gepackten Rucksäcke entleeren. Das Mittagessen nimmt sie in der Suppenküche ein. Zum Kindergeburtstag geht Julia auch nicht mehr, weil sie nie ein Geschenk hat.

Julia ist eines von einer Million Kinder, die auf Sozialhilfeniveau leben. Die Folgen: Sie werden häufiger krank, sind schlechter ernährt und leben oft in vernachlässigten Stadtvierteln. Nicht anders ergeht es den Erwachsenen an ihrer Seite.

Die rot-grüne Bundesregierung hat zwar damit begonnen, regelmäßig Armutsberichte zu veröffentlichen. Aber offenbar haben die erschreckenden Zahlen bisher zu keinen Konsequenzen geführt. Bei der gegenwärtigen Debatte um die Einschnitte in das soziale Sicherungssystem ist vielmehr das Augenmaß verloren gegangen. Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II wird dazu führen, dass noch mehr Menschen in die Sozialhilfe rutschen.

Außerdem: Die Kürzungen in der Gesundheitsvorsorge werden dazu beitragen, dass medizinisch notwendige Leistungen nicht mehr in Anspruch genommen werden. Denn die regelmäßigen Arztbesuche mit einer „Eintrittsgebühr“ von geplanten zehn Euro stellen für viele Menschen einen unerschwinglichen Luxusausflug dar. Das gilt auch für Zahnbehandlungen. Es wird deshalb der Tag kommen, an dem Armut in Deutschland wieder im Gesicht abzulesen ist – anfehlenden Zähnen.

Der neueste Vorschlag von Ulla Schmidt, der Bundessozialministerin, wird die Rutschbahn ins Elend zu einem Katapult werden lassen. Die Ministerin plant, dass die bisher an Sozialhilfeempfänger gezahlten einmaligen Leistungen, beispielsweise für den Kauf von Kleidung, künftig entfallen. Stattdessen soll diese Summe als Pauschale in die monatliche Sozialhilfezahlung eingerechnet werden. Der Empfänger müsse eigenständig wirtschaften, verkündet das Ministerium. Die Folgen sind schon jetzt absehbar: Die Betroffenen haben selten gelernt, mit Geld zu wirtschaften. Wenn das überhaupt geht bei nur knapp 290 Euro monatlich. Bleibt es bei der Pauschale, wird manches Geld einfach fehlen, wenn etwa der Kauf von Winterkleidung ansteht. Viele Familien werden deshalb weiter verelenden.

Die Armut wird in den nächsten Jahren noch steigen, und mit ihr die Kosten für die Kommunen. In Deutschland stehen in den nächsten Jahren etwa 1,4 Billionen Euro zur Vererbung an. Deutsche Konzerne wie BMW machen Milliardengewinne. Warum hat keine Partei in Deutschland den Mut, darüber laut nachzudenken? Es scheint in Deutschland chic geworden zu sein, immer nur nach unten zu treten, statt die Solidarität von oben einzufordern.

Deutschland 2003: Die kleine Julia wird auch künftig nicht alleine sein. Im Gegenteil, nach Inkrafttreten der so genannten Reform werden, so wird befürchtet, weitere 500.000 Kinder in die Armut getrieben, mitsamt ihren Eltern.

Thomas Schröder (38) ist Sprecher des Bundesverbandes Sozialer Straßenzeitungen. Der Kommunikationsberater war früher Büroleiter für einen SPD-Abgeordneten im Deutschen Bundestag.

Eine Straße, eine Familie

Wo man sich kennt: Krügers Redder in Bramfeld

(aus Hinz&Kunzt 128/Oktober 2003)

Eon | Hanse präsentiert: Die Dart-Reportage: Hamburg hat viele unbekannte Ecken. Mit Häusern voller Geschichte und Menschen mit besonderen Lebensläufen. Um sie zu finden, werfen die Reporter einen Dartpfeil auf den Stadtplan. Die Geschichten erzählen von viel menschlicher Wärme oder dem Mangel daran. Diesmal: Die Straße „Krügers Redder“.

Heinz Martens’ Wohnung endet nicht an seiner Wohnungstür. Wenn er seine Mütze aufsetzt und hinaustritt, steht er auf der Straße, in der er schon seit mehr als 40 Jahren wohnt. Dann dreht er seine Runde. Auf dem Weg sammelt er Gespräche ein. Er kennt fast jeden, der seinen Weg kreuzt. Ein Plausch hier, eine Flachserei da, dann lässt er Krügers Redder hinter sich. So heißt die kleine Straße in Bramfeld, in der Herr Martens wohnt. Er geht am Zeitschriftenladen vorbei, in dem er immer seinen Lottoschein ausfüllt, zum Bäcker um die Ecke.

Dort steht der 80-Jährige mindestens zwei Mal am Tag hinter der großen Glasscheibe und trinkt seinen Kaffee. Allerhöchstens hier endet seine Wohnung. Aber auch das ist nicht sicher, denn seine wachen Augen hinter der großen Brille haben viel von der Welt gesehen und tun es noch.

„So ein Leben als Rentner ist äußerst stressig“, sagt er, und seine Augen schmunzeln. Er ist gern unter Leuten, früher schon, was soll er denn den ganzen Tag in seinen 16 Wänden? Er lebt allein in den vier Zimmern, ein Fernseher ist da, aber höchstens am Abend mal eingeschaltet. Die kleine Straße vor seinen Fenstern ist schmal und läuft in einem engen Weg aus. Krügers Redder ist eine Sackgasse, die den Namen einer alten Milchhändlerfamilie trägt, und in ihrer Ruhe und Abgeschlossenheit viele alte und neue Geschichten bewahrt.

Herr Martens steht auf dem Weg zwischen Hecken und roten Klinkerhäusern und schnackt mit Jens Timmermann. Der 65-Jährige ist Verwalter und Vermieter fast aller Wohnungen im Krügers Redder. Seit 250 Jahren gehört der Familie Timmermann das Grundstück, auf dem vor einem halben Jahrhundert noch Kühe weideten und ein Bauernhof stand. Dann wurde die Landwirtschaft allmählich vom Verkehr überrollt. „Wir kriegten die Heuwagen nicht mehr nach Hause gefahren und die Kühe nicht mehr zurückgetrieben“, erzählt Jens Timmermann. Eine Kuh hatte sich mal mit einem Autofahrer angelegt, der ihr in die Hacken fuhr. Die Kuh gewann. Kühlwasser floss auf die Straße, der Autofahrer fluchte. Aber es war nur ein Sieg auf Zeit. Jens Timmermann besitzt ein vergilbtes Schwarz-Weiß-Bild. Darauf die letzte Kuh von Krügers Redder mit ihrem Kalb auf der Wiese. Das Kalb kam als einziges und letztes in den Genuss, am Euter der Mutter zu saugen und nicht mit Ersatznahrung abgespeist zu werden. Dadurch wurde es so stark, dass es aus dem Stand über den Zaun springen konnte. Aber das Kalb verlor. Es wurde geschlachtet. Der Bauernhof der Familie musste weichen. Ende der fünfziger Jahre entstanden hier die ersten Wohnhäuser.

Die Mieter kamen sofort und in Scharen. Wohnungen waren extrem knapp zu der Zeit. Für viele war es das erste eigene Heim. Auch Herr Martens wohnte bei einem Freund, bevor er als einer der ersten Mieter hier einzog. „Damals herrschte noch Ordnung!“, sagt Jens Timmermann und lacht. Er erzählt von seinem Vater, dem alten Timmermann. „Machense dat mal wech da“, pflegte er seinen Mietern zu sagen, wenn die Leute Slips auf den Balkon hängten statt auf den Trockenboden. Und die Witwe Neumann stellte er vor die Wahl: „Heiraten oder ausziehen“, als sie in Erwägung zog, sich einen neuen Lebensgefährten zu suchen. Sie blieb, unverheiratet. „Vielleicht ist mir so einiges erspart geblieben“, zog sie als Resümee.

Auch jetzt hängen keine Slips auf den Balkons von Krügers Redder. Obwohl sie es könnten. Allenfalls mal Kakteen statt Blumen in den Fenstern. Dafür stehen auf den Klingelschildern heute oft zwei Namen. Die Zeiten haben sich also geändert. Aber nicht in jeder Hinsicht. Denn Jens Timmermann ist nicht nur mit der Vergangenheit vertraut. Er wohnt ja selbst hier, ganz oben, über den beinahe 200 Wohnungen der Straße. Auch er dreht jeden Tag hier seine Runde. Er trägt einer alten Frau die Gehhilfe die Treppen hinauf. „Wir sind hier eine große Familie, ohne aber einander in den Pott zu gucken“, charakterisiert er das Leben in der kleinen Straße. „Die Paketdienste lieben Krügers Redder. Es gibt keinen, der ein Paket für den Nachbarn nicht annehmen will.“ Niemand geht ohne einen Gruß vorbei. Einmal im Jahr gibt es ein Mieterfest.

Eine kleine Oase, diese Straße, so grün, dass die Luft merklich frischer wird, wenn man von der hektischen Bramfelder Chaussee einbiegt. Ein großer Baum zwischen zwei Backsteinhäusern schließt die Lücke zu der lauten, verkehrsbeladenen Straße. Die Mieter haben ihn täglich gegossen und so über den trockenen Sommer gebracht. Eine abgeschlossene, ruhige Welt. „Was fotografieren Sie denn da?“, fragt eine Frau im Blumenrock den Fotografen, der für diese Geschichte gerade nach Motiven sucht. „Das hat schon seine Richtigkeit“, beruhigt Herr Martens sie. Jens Timmermann ruft einem Fahrradfahrer, der viel zu schnell über die Steinplatten flitzt, im Scherz nach: „Das ist ein Gehweg, du Holzkopf!“ „Selber Holzkopf!“

Und Herr Martens spaziert derweil die Straße und sein Leben entlang. Auch früher war er immer unterwegs. Sein Beruf und sein Naturell verlangten es. Er arbeitete als Journalist und machte die Öffentlichkeitsarbeit für ein großes amerikanisches Unternehmen in Hamburg. Er sah Paris, Stockholm, New York, Singapur. Seine Frau war so oft allein, dass sie sich irgendwann dachte: Dann kann ich auch allein allein sein. „Wir haben aber heute noch Kontakt“, sagt Herr Martens jetzt etwas ernster, „man muss sich ja nicht mit der Pfanne den Schädel einschlagen, nur weil man sich trennt“, und da ist er wieder, der Schalk in seiner Stimme.

Er holt drei Presseausweise aus den siebziger und achtziger Jahren aus der Schublade. Auf jedem Foto sieht er ein wenig anders aus. Aber immer die verschmitzten Augen durch eine große, manchmal sehr große Brille, wie es damals Mode war. Auch heute reist er noch gern. Mit dem Schiff bis nach China. Zu Hause dreht er kleinere Runden, hilft Kindern bei den Hausaufgaben, für die er „der Heinzi“ ist. Er repariert auch mal einen Durchlauferhitzer vom Nachbarn, wenn der Hausmeister keine Zeit hat. Und weil Herr Martens Geplänkel und Scherze so liebt, ist kein Gespräch mit ihm todernst. „Wollen sie ihren Kaffee heut mit Zyankali?“ „Klar, wenn sie einen mittrinken!“ So ein typischer Dialog beim Bäcker. Dann fragt er in scherzhaftem Ernst: „Sie können doch bestätigen, dass ich ein ernsthafter Mensch bin?“ Herr Martens, das wandelnde Tageblatt. Der bunte Hund. Der Spinnbeutel. Der Charmeur. Herr Martens, der Mann, der die Geschichten weiß.

Jetzt trinkt er seinen Kaffee beim Bäcker. Er beobachtet die Menschen draußen. Sie kommen über die Straße, wenn die Ampel auf Grün zeigt, aus dem Baumarkt gegenüber, aus dem Bus, der alle fünf Minuten direkt vor dem Bäcker hält. Herr Martens kennt viele von denen, die vorübergehen.

Katja Thomas