Allein auf der Spitze des Eisbergs

Wie Kinder süchtiger Eltern gesund aufwachsen können

(aus Hinz&Kunzt 127/September 2003)

„Meine Mutter ist mein Ein und Alles.“ Der Blick von Michele (Name geändert) duldet keinen Widerspruch, obwohl die 16-Jährige eine Menge wegen ihrer Mutter aushalten musste. „Ich bin stolz auf sie“, sagt sie außerdem. „Darauf, was sie alles durchgemacht hat, und dass sie nun schon seit zehn Jahren clean ist.“

Micheles Mutter war heroinabhängig. Erst während der Schwangerschaft entschloss sich die Frau, aus der Szene auszusteigen. Aber eine Sucht so einfach abzuschütteln, funktioniert eben nicht, und so dauerte es weitere sechs Jahre, bis eine Entziehungskur erfolgreich verlief. Bis dahin zwang die Abhängigkeit von dem teuren Stoff zu einem Leben zwischen Tür und Angel, im Hotel, bei Bekannten, am Hauptbahnhof, ohne Kinderzimmer und ohne Spielkameraden.

Der Vater, von dem Micheles Mutter loskommen musste, um sich selbst zu retten, stürzte nach der Trennung richtig ab. Er starb am Heroin, da war das Mädchen fünf Jahre alt. Noch heute, wenn Michele die Junkies am Drob Inn oder in irgendwelchen dunklen Winkeln am Bahnhof sieht, „tut mir das innerlich so weh“, sagt sie. „So hat mein Vater auch gelebt.“ Als Michele sechs war, begann die Mutter ihren Entzug; das Kind kam ins Heim. „Das war das Schlimmste für mich“, erinnert sie sich. „Ich habe ständig geheult und Schiss gehabt, auch meine Mutter nie wieder zu sehen.“

Dass Michele ihre Mutter in Schutz nimmt und auch über den verstorbenen Vater kein schlechtes Wort verliert, ist nicht verwunderlich: „Kinder sind unglaublich loyal“, sagt Birgit Meyer von Iglu, einem Projekt zur Unterstützung von Kindern drogenabhängiger Eltern. Egal, wie sehr sie vernachlässigt werden, sie fressen ihre Ängste lieber in sich hinein und halten nach außen die Fahne hoch, so die Sozialpädagogin.

Wer aber nicht lernt, mit den Ängsten umzugehen, alles herunterschluckt und nie Kind sein kann, der läuft Gefahr, später selbst suchtkrank zu werden. Dafür sprechen die Ergebnisse der Hamburger Basisdatendokumentation (BADO), in der Kontakte mit dem ambulanten Suchthilfesystem statistisch ausgewertet sind. Im Jahr 2002 gaben rund 45 Prozent der männlichen und mehr als 50 Prozent der weiblichen Alkohol- oder Drogenabhängigen an, selbst suchtkranke Eltern zu haben. Hilfseinrichtungen wie Iglu oder auch Kompass, eine Beratungsstelle für Kinder alkoholabhängiger Eltern, schwören daher auf Prävention und individuelle Hilfe: „Wenn man Kinder stark macht, sind sie selbst weniger suchtgefährdet“, so Sozialpädagogin Heidi Lehmann von Kompass.

Stark und selbstbewusst, so wirkt die 20-jährige Annalies. Mit 15 war das Gegenteil der Fall, „da war gerade meine ganze Welt zusammengebrochen“, erzählt die junge Frau. Fünf Jahre lang hielt sich das Mädchen wacker: Die Mutter, die eine Ausbildung machte und nebenbei arbeiten ging, hatte kaum Zeit, sich zu kümmern. Also sollte der Vater ran, der gerade arbeitslos geworden war. Doch der begann zu trinken. „Der Haushalt verwahrloste immer mehr, und oft gab es nicht genug zu essen“, erinnert sich Annalies.

Immer wieder hatte der alkoholkranke Vater versprochen, nicht mehr zu trinken, immer wieder hatte das Mädchen ihm geglaubt. Hatte sich gestresst, um neben der Schule den Haushalt zu schmeißen und sich um die vier Geschwister zu kümmern. Doch statt Abstinenz stahl er Geld von den Familienangehörigen, um die Sucht zu finanzieren. Schließlich wurde das Haus gepfändet, die Familie landete beinahe auf der Straße, und die Eltern trennten sich.

Den Kontakt zum Vater brach Annalies ab. „Ich war wie taub und stumm, konnte niemandem mehr glauben, hatte wahnsinnige Angst“, beschreibt sie ihren damaligen Zustand. „Es war, als sitze ich auf der Spitze eines riesigen Eisbergs, ganz allein. Und unter der Wasseroberfläche lauerte wieder ein Berg, von dem ich noch nichts wusste.“

Zum Glück erfuhr Annalies’ Mutter von Kompass. „Die waren für mich wie ein Auffangbecken“, sagt die Gymnasiastin, die sicher ist, dass sie sich ohne die professionelle Hilfe nicht hätte weiterentwickeln können. Hier erfuhr sie, dass sie lange eine der vier typischen Rollen gespielt hatte, die laut Kompass häufig bei Kindern von alkoholabhängigen Eltern auftreten: die Heldenrolle, in der das Kind den Part des ausgefallenen Elternteils übernimmt. „Mein Vater hat sich immer bei mir ausgeheult, dabei habe ich selbst Trost gebraucht“, weiß die junge Frau rückblickend.

Andere Kinder ziehen sich ganz in sich zurück, wie Annalies an ihren Geschwistern beobachten kann. Wieder andere begehen Straftaten und lenken so von ihrem eigentlichen Problem ab, oder sie spielen den ewigen Clown. Auch Kinder von Drogenabhängigen zeigen solches Rollenverhalten, leiden unter ähnlichen Symptomen wie Stress, Verlustängsten, dem Gefühl verraten worden oder allein auf der Welt zu sein.

Allerdings, so Birgit Meyer von Iglu, kommt bei ihnen ein schwer wiegendes Problem hinzu: die Illegalität. „Kinder wissen, dass ihre Eltern etwas tun, das sie nicht dürfen“, so die 44-Jährige, die seit zehn Jahren für das Projekt arbeitet. „Ich dachte, wenn ich was erzähle, kommt meine Mama in den Knast“, erinnert sich auch Michele. Und wenn sie in der Schule gefragt wurde, woran ihr Vater starb, antwortete sie lieber: an einem Herzinfarkt. „Bei mir hat sich alles gestaut, nur ab und zu bin ich geplatzt wie ’ne Bombe“, so die Hauptschülerin, die die Kriminalisierung Drogenabhängiger für falsch hält – so wie Annalies die gesellschaftliche Akzeptanz des Alkoholkonsums.

Bei Iglu lernte Michele, ihre Sprachlosigkeit zu überwinden und auch mit der Gefahr eines Rückfalls der Mutter umzugehen. Und sie sagt: „Ich weiß, was Drogenkonsum für Konsequenzen hat. Meine Mutter hätte nie versucht, mich zu verleiten. Aber ohne das Hilfsangebot wäre auch ich vielleicht in Versuchung geraten.“

Dieses Hilfsangebot definieren sowohl Iglu als auch Kompass eindeutig: „Wir sind in erster Linie parteilich für die Kinder“, sagt Birgit Meyer. „Dass eine Mutter oder ein Vater hier ständig breit ankommen, ist nicht drin.“ Dabei ist es das Ziel, den Familien trotz mangelnder Kompetenz mancher Eltern ein Zusammenleben zu ermöglichen.

Für Michele und Annalies war es eine wesentliche Erfahrung, die Hauptperson zu sein, Rückhalt in den Einrichtungen zu finden. Trotzdem ist Michele überzeugt, dass sie psychisch krank geworden wäre, hätte sie nie zu ihrer Mutter zurück gedurft. Annalies hat inzwischen wieder vorsichtigen Kontakt zum Vater aufgenommen, der eine Therapie hinter sich hat und seine Fehler endlich nicht mehr leugnet. Die sichere Umgebung für die Zusammentreffen liefert Kompass. Und der riesige Eisberg, den Annalies jahrelang unter sich spürte, der schmilzt langsam aber sicher dahin.

Annette Woywode

Ein jeder aber kann das nicht…

Das „Tüdelband“ kehrt nach Hamburg zurück- mit einem Film, Theater und viel Musik

(aus Hinz&Kunzt 127/September 2003)

Der junge Mann hat eine komische blaue Stoffkappe auf dem Kopf und trägt eines dieser blau-weiß gestreiften Fischerhemden. Mit federndem Schritt läuft er auf den Bootsanleger hinter der Fischauktionshalle und singt leise vor sich hin: „An der Eck steiht ’nen Jung mit nem Tüdelband, in der ander Hand ’nen Butterbrot mit Käs…“ Er grinst dabei etwas verlegen in die Kamera, und sein Akzent ist offensichtlich amerikanisch.

Der junge Mann ist Dan Wolf, 29, Rapper und Schauspieler aus San Francisco. Das Lied ist eine heimliche Hamburger Hymne. Die komische Mütze und das Fischerhemd gehörten früher Dans Urgroßvater Leopold Wolf. Gemeinsam mit seinem Bruder Ludwig gründete er ein komisches Gesangsduo, das in den zwanziger und dreißiger Jahren weit über die Grenzen Hamburgs hinaus berühmt war. Die beiden haben auch das Lied vom Tüdelband erfunden.

Das wissen nicht nur die meisten Hamburger nicht, das hatte auch Dan Wolf nicht gewusst – bis er vor vier Jahren Besuch von einem Hamburger Filmemacher bekommt. Der spielt ihm Lieder in eine Sprache vor, die er nicht versteht, zeigt ihm alte Notenblätter, Programmzettel und vergilbte Schwarz-Weiß-Fotos: sein Urgroßvater auf unterschiedlichen Bühnen in einem blau-weiß-gestreiften Hemd mit einer komischen blauen Mütze auf dem Kopf.

Genau die Kleidungsstücke, die er ein paar Monate zuvor in einer alten Aktentasche auf dem Dachboden seines gerade verstorbenen Opas Donat gefunden hatte. Zusammen mit einem Brief, in dem Donat seinem Enkel Dan zum ersten Mal beschreibt, dass und wie er 1943 vor den Nazis aus Deutschland hatte fliehen müssen.

Auch dazu kann ihm der Hamburger Filmemacher Jens Huckeriede mehr erzählen, denn er hatte sich schon seit fast zehn Jahren mit Dan Wolfs Familiengeschichte beschäftigt. Jener unfassbaren Geschichte der Hamburger Gebrüder Wolf, die erst als Künstler Erfolge feiern, dann als Juden verfolgt werden und nach dem Krieg vollständig in Vergessenheit geraten – obwohl noch immer jeder das Lied vom „Tüdelband“ kennt.

„Bei einer Kunstaktion, die an das jüdische Leben in Altona erinnern sollte, haben wir 1994 mal den Liedtext auf den Bürgersteig geschrieben“, erinnert sich Jens Huckeriede. „Die Leute sind fast alle stehen geblieben, manche haben sofort angefangen zu singen, andere haben Geschichten aus ihrer Kindheit erzählt, die sie mit dem Lied verbinden – und niemand wusste, vom wem es war.“

Wenn er dann von den Hamburger Juden und jüdischen Hamburgern Leopold und Ludwig Wolf erzählt habe, seien die Leute immer überrascht gewesen, „aber auch neugierig. Ganz anders als diese abwehrenden Reaktionen, die sonst oft kommen, wenn man über jüdische Geschichte reden will.“ Damals hatte er beschlossen, einen Film zu machen, der das Leben und die Kunst der Gebrüder Wolf wieder in Erinnerung rufen sollte – und dieser Plan führte ihn schließlich nach San Francisco, zu Dan Wolf, dem Rapper.

„Das Verrückte war“, sagt Jens Huckeriede, „dass ich immer schon überzeugt war, dass die Wolfs, wenn sie heute lebten, Rapper wären.“ Vielleicht lag es daran, dass zwischen Dan und ihm „sofort ein Draht war, obwohl ich damals ziemlich schlecht Englisch sprach und er kein Wort Deutsch“. Schnell war zwischen den beiden klar: Dan Wolf würde sich auf den Weg machen, seine Familiengeschichte zurückzuerobern. Und Jens Huckeriede würde ihn dabei mit der Kamera begleiten.

So sieht man nun im Film „Return of the Tüdelband“, wie Dan Wolf durch die Hamburger Neustadt oder durch St. Pauli streift, zu den Orten, die im Leben seiner Urgroßeltern und Großeltern so wichtig waren. Er geht in die Synagoge und zum Fußball, nach Neuengamme und zum alten Flora-Theater und spürt, wie er sich denen, „die mir früher immer etwas fremd waren, jetzt nahe fühlt“. Er, der sich oft gefragt hat, warum es ihn schon als Kind zum Theater zog, begreift sich jetzt als Sprössling einer Künstlerfamilie.

Gemeinsam mit seiner amerikanischen Band „Felonius“ macht sich Dan die hamburgischen Laute des „Tüdelbandes“ zu eigen. Sie beginnen damit zu spielen, Text und Musik von damals mit ihrem heutigen Leben zu verbinden. In historischen Fotos und knapp gehaltenen Texten vermittelt der Film dazwischen die nötigen historischen Hintergrundinformationen – doch die Hauptrolle spielt die Gegenwart.

Jens Huckeriede macht Dan mit Hamburger Musikern wie Fink oder den Hip-Hoppern von Trainingslager bekannt, mit denen er inzwischen richtig befreundet ist. Im Film kann man sehen, wie die Jungs von Felonius gemeinsam mit den Jungs von Trainingslager den Bunker unter dem Bismarckdenkmal mit seinen Nazi-Durchhalteparolen erkunden. Plötzlich fangen sie dort an, jeder für sich zu rappen. In diesem Moment wird mehr als nur eine Erinnerungslücke in der Familiengeschichte geschlossen.

Dan Wolf hat seine künstlerischen Wurzeln entdeckt und verarbeitet sie auch in einem Theaterstück. „Ich bin zurückgekehrt an den Anfang. Ich bin Leopold und Ludwig und James und Donat. Deutsch und jüdisch. Stark und frei. Verängstigt und unterdrückt. Wir verbinden die Vergangenheit mit der Gegenwart und erschaffen eine Zukunft. Endlich findet meine Familie ihren Frieden.“

Jens Huckeriede dokumentiert Dans Eroberung der eigenen Geschichte und gibt auch den Zuschauern eine Chance: wieder zu entdecken, was die Nazis für immer aus der Erinnerung tilgen wollten. Deshalb – und weil es auch heute noch ein toller Song ist – sollte „Tüdelband“ noch einmal ein Hit werden. Einer, den man laut singen kann, weil man jetzt seine wahre Geschichte kennt.

Ein Sheriff zum Anfassen

Staatsgewalt privat: ein Besuch im Polizeiposten Ochsenwerder

(aus Hinz&Kunzt 127/September 2003)
Ein Straßenschild am Maisfeld weist auf den Polizeiposten am Elversweg in Ochsenwerder hin. Aber selbst ohne diesen Hinweis wäre der Posten mühelos zu finden. Nicht etwa, weil er in einem großen und bedeutenden Gebäude untergebracht wäre. Es kann einem einfach jeder den Weg weisen: „Unseren Dorfsheriff finden Sie da drüben“ heißt es, egal wen man fragt. Alle kennen Joachim Milinovic hier, auf dem Lande, wo die Industrieabgase dem brackigen Duft von Dove- und Norderelbe gewichen sind und der Blick frei über die Marschlande schweifen darf.

„Ich mag keine Unpünktlichkeit, ich bin Beamter“, hatte Oberkommissar Milinovic am Telefon gesagt. Jetzt, um Punkt elf Uhr, öffnet der 52-Jährige die schusssichere Haustür – und bittet ohne Umschweife und ganz und gar nicht beamtenmäßig in sein Wohnzimmer. Dabei gibt es in dem kleinen Klinkerhäuschen auch ein Dienstzimmer, bestückt mit Computer, Bürostühlen, Telefon, dem obligatorischen Gummibaum und allem, was den etwas muffigen Charme einer Amtsstube verströmt. Sogar eine winzige Zelle, etwa ein Quadratmeter groß und mit einem vergitterten Fensterchen ausgestattet, kann der Oberkommissar vorweisen. Doch die Zelle, so sagt Milinovic, wird schon lange nicht mehr genutzt.

Jetzt lagern seine Sportschuhe und die private Plattensammlung darin.

So wie überhaupt Privates und Dienstliches bei dem Leiter des Polizeipostens nicht haarscharf zu trennen sind: Joachim Milinovic arbeitet nicht nur in dem Posten, er lebt auch dort, gemeinsam mit seiner Frau, die ebenfalls Polizistin ist. Und er ist obendrein Besitzer des 1958 erbauten Häuschens.

Da sitzt der Uniformierte nun auf der gemütlichen Wohnzimmer-Coach. Mit einer einladenden Geste bietet der Beamte Kaffee und Kekse an. „Nu lang schon zu, muss wech das Zeugs“, sagt er in breitestem Hamburgisch, um gleich hinzuzufügen, dass es in den Vier- und Marschlanden durchaus üblich sei, sich zu duzen.

Keine Frage: Joachim Milinovic ist ein Polizist zum Anfassen. Seit elf Jahren leitet der gebürtige Altengammer den Polizeiposten, und das empfindet er als Glück. Natürlich gibt es viel zu tun in dem Gebiet zwischen Tatenberg, Oortkatenweg und Reitbrook. Von Nachbarschaftsstreitigkeiten über Diebstahl bis hin zu Mord kommt alles vor. „Auch hier sind sich die Leute nicht grün“, sagt der Polizist, der vor allem die Städter für Unruhe und die in den vergangenen Jahren gestiegene Kriminalität verantwortlich macht. Häufig wird er zu den Campingplätzen, Badeseen oder Kleingärten gerufen, wo sich vor allem Städter tummeln, oder er muss Streit zwischen Einheimischen und „Zugereisten“ schlichten, weil sich letztere lieber auf die Ordnungsmacht verlassen, anstatt Konflikte im Gespräch zu lösen.

Trotzdem: „Hier ist Polizeiarbeit noch so, wie ich mir das vorgestellt hab’, als ich in jungen Jahren in den Polizeidienst eingetreten bin.“ Da wird nicht nur abgearbeitet, da steht noch der Mensch im Vordergrund, da kennt man sich – die „überwiegend positiven Menschen“ genauso wie die „Pappenheimer“, denen Milinovic auf den Zahn fühlen muss.

Auch „Nachsorge“ ist etwas, für das sich der Oberkommissar Zeit nimmt – meist nach Dienstschluss. „Wenn bei jemandem eingebrochen wurde, fahr ich ein paar Tage später vorbei und frag, wie’s geht, denn bei einem Einbruch wird schließlich auch massiv in die Intimsphäre eingegriffen“, sagt Milinovic.

Dass sich um die Privatsphäre des Beamten kaum einer schert, steht auf einem anderen Blatt Papier. „Das wusste ich, bevor ich den Posten angetreten habe.“ Milinovic ist rund um die Uhr ansprechbar – auch wenn er nicht im Dienst ist, egal ob beim Einkaufen oder Spazieren gehen. Oft wird das Polizistenpaar eingeladen, zum Beispiel auf Jubiläen, und oft treten die Gastgeber mit dem Wunsch an Milinovic heran, in Uniform zu erscheinen.

Seiner Vorbildfunktion ist sich der Beamte bewusst. „Hier ist eine Stoppstraße, da bin ich wahrscheinlich der einzige, der da immer hält“, sagt er und lacht. Man steht halt ständig unter Beobachtung. Aber das gehöre nun mal dazu, auch, dass manche Leute noch spät abends an der Türe klingeln. Milinovic erklärt das so: „Wenn jemand außerhalb meiner Dienstzeit ein polizeiliches Anliegen hat, dann ist das so, als wenn ein Nachbar zu mir kommt und sich ’ne Dose Zucker leiht.“

Dass nicht alle Anliegen mit seinem Job zu tun haben, findet der Polizist auch in Ordnung, man hilft, wo man kann. Da war zum Beispiel dieser Anruf aus Mallorca: Ein Ochsenwerderaner wollte sich im Urlaub einen Mietwagen leihen, hatte aber keinen Führerschein dabei. So bat er kurzerhand seinen Dorfsheriff, er möge den Besitz der Fahrerlaubnis doch bitte per Fax bestätigen. Manchmal allerdings muss selbst der Oberkommissar passen: Wenn er gebeten wird, bei der Steuererklärung zu helfen zum Beispiel.

So gleicht das Leben des Udls – wie man in Hamburg einen Polizisten freundlich nennt – eher dem eines Dorfpastors: immer präsent, immer erreichbar. Schließlich sind bei den Milinovics selbst die Dienst- und die Privat-Telefonnummer identisch. Wenn der Oberkommissar unterwegs ist, bekommt der Anrufer daher auch oft die Frau des Polizisten an die Strippe. Sie schiebt zwar eigentlich in Bergedorf Dienst, in ihrer Freizeit schreibt sie trotzdem geduldig Zettel für ihren Mann – oder gibt gleich selbst Auskunft; schließlich ist auch sie vom Fach.

Nur manchmal ist selbst der geduldige Oberkommissar genervt: Wenn er zum Beispiel die Haustür nicht öffnet und die Leute dann durch den Garten marschieren, um zu sehen, ob er nicht doch auf der Terrasse liegt. Oder wenn wieder mal Anfragen aus ganz Deutschland bei den Milinovics auflaufen, weil die Auskunft der Telekom seit der Umstellung der Behördentelefone auf Hansenet nur noch die Nummern der neun Hamburger Polizeiposten ausspuckt. Im Urlaub bleibt dem Polizistenpaar daher nur ein Ausweg: wegfahren, und zwar vom ersten bis zum letzten Tag.

Milinovic ahnt schon, dass er auch im Ruhestand noch Ansprechpartner in Sachen Polizei bleiben wird. Denn im Gegensatz zu seinem Vorgänger, der vor elf Jahren aus dem Polizeiposten auszog und sich seither nicht mehr in der Gegend blicken lies, will Milinovic in seinem Häuschen den Lebensabend verbringen. Und wer weiß: Wenn der Oberkommissar im Jahr 2011 in Pension geht, ist seine Frau gerade 40 Jahre alt geworden. Sie hätte dann das Alter erreicht, einen Polizeiposten führen zu dürfen.

Eine billige Lösung für die Behörde wäre das, es müssten weder der Name noch die Telefonnummer und Anschrift geändert werden. Das Leben ohne Privatsphäre, das kennt sie ohnehin. Und die Zettel, die heute sie immer schreibt, wenn jemand den Polizisten nicht persönlich erwischt, die schreibt dann eben ihr Mann – Auskunft inklusive.

Annette Woywode

Klickergolfer und Betonhauer

Leben in 18 Bahnen: Wie in Hamburg Miniaturgolf erfunden wurde

(aus Hinz&Kunzt 127/September 2003)

Der Nachmittag ist schwül, die Luft steht. An Bahn zwölf, unter den ehrwürdigen Bäumen des Hammer Parks, rüstet sich Rolf (81) zum nächsten Schlag. Die ersten beiden Versuche sind zu sanft, der Kunststoffball schafft es nicht über die „Liegende Schleife“. Das lädt die Mitspieler zu freundlichen Kommentaren ein. „Softie“, feixt Sepp (63). „Das liegt am Wetter“, meint Antje (66) begütigend. „Was hat der heut’ bloß gegessen?“, fragt Reinhold (78). Bei so viel Aufmunterung muss der nächste Schlag gelingen: Der Ball überwindet souverän das Hindernis und ist nach einem weiteren Tick eingelocht.

Jeden Donnerstag trifft sich in der Miniaturgolf-Anlage am Hammer Park eine sechsköpfige Clique, keiner unter 60. Das schlagkräftige Sextett gehört zu den Stammspielern auf der Freizeitanlage, einige haben hier ihr zweites Wohnzimmer. Für familiäre Atmosphäre sorgt die warmherzige Besitzerin Ursula Meins (62). „Uschi“, sagt Stammspieler Sepp, „ist die gute Seele hier“.

Auf der anderen Seite der Stadt, am Eckhoffplatz in Lurup, hat Sieghardt Quitsch um 13 Uhr das Kassenhäuschen geöffnet. Der 70-Jährige ist Vorsitzender des Hamburger Bahnengolfverbandes (sieben Vereine, 320 Mitglieder) und hilft in dieser Saison in Lurup als Platzwart aus. Quitsch ist ein großer Zeitzeuge fürs kleine Golf. Denn er war dabei, als vor 47 Jahren in Hamburg das Miniaturgolf erfunden wurde.

Miniatur gleich Mini? Nein, auch bei Bahnengolfern gibt es den kleinen Unterschied, deshalb wollen wir historisch genau sein. Die Betonpisten des Minigolf sind zwölf Meter lang, die erste Anlage baute Paul Bongni 1953 im Tessin, und damit hatte Sieghardt Quitsch überhaupt nichts zu tun. Drei Jahre später ging in Hamburg der Geschäftsmann Albert Rolf Pless an den Start. Seine Miniaturgolfbahnen sind kleiner, sie messen nur 6,25 Meter. Prototypen entstanden in Planten un Blomen und am Hammer Park – und an den Plänen dafür hat der heutige Verbandsvorsitzende Quitsch mitgezeichnet.

Gemeinsam ist beiden Systemen: Sie sind standardisiert. Nur so konnte Bahnengolf seit den fünfziger Jahren überhaupt Karriere machen. Kleingolfplätze hatte es auch vorher schon gegeben, vor allem in England und den USA, aber sie zeugten vornehmlich von der Fantasie ihrer Besitzer: Mal dienten Gartenzwerge als Hindernis, mal Autoreifen oder Windmühlen. Das taugte zur Volksbelustigung, aber nicht zum Leistungssport.

Am Hammer Park klappt Erwin das Köfferchen auf, das er von Bahn zu Bahn trägt. In einem Polstereinsatz ruhen mehr als 30 Bälle, leichte und schwere, elastische und dämpfende. „Zu Hause habe ich 200 Stück. Das ist wie eine Sucht“, sagt Erwin, der seit 20 Jahren auf der Anlage spielt – sein Freizeitvergnügen. Seit seiner Jugend hat der 59-Jährige als Maler gearbeitet, jetzt meldete seine Firma Insolvenz an. Noch hofft der Arbeitslose auf eine Stelle: „50 Jahre Maler wollte ich eigentlich schaffen.“ Er lässt den olivgrünen Ball zum Test einmal springen und legt ihn dann auf den Abschlagpunkt.

Zwei Schläge braucht er für die zickzackförmige Bahn 18. Ein Spruch hilft immer: „Das war gut, aber nicht gut genug“, sagt Erwin.

Theoretisch lässt sich jede Bahn mit nur einem Schlag, einem As, schaffen. Macht 18 Schläge für den gesamten Parcours. Zweimal in seinem Leben hat Sieghardt Quitsch das geschafft – und winkt gleich ab: Auf der Anlage in Lurup, wo der örtliche Verein trainiert, komme das „fast jede Woche“ vor. Dass er als junger Mann Miniaturgolfer wurde, ist einer von diesen Zufällen im Leben. Als angehender Grafiker besuchte Quitsch die Landeskunstschule. 1956 tauchte dort Albert Rolf Pless auf. Er arbeitete in der väterlichen Firma, die Geräte für die Eisherstellung lieferte, brachte aber aus einem Schweden-Urlaub eine ganz andere Geschäftsidee mit: Er wollte eine Kleingolfanlage schaffen – und die Grafik-Klasse sollte den Entwurf liefern.

Pless’ Vorgabe: Bahnen kürzer als beim Minigolf, außerdem leicht auf- und abzubauen. Die Schüler zeichneten Bahnen, Hindernisse, Lagepläne. Pless ließ die Prototypen errichten, wo Quitsch zu Studienzwecken fleißig spielte und dabei zum Fan wurde. Ende der fünfziger Jahre ging Miniatur-Golf mit Bahnen aus Faserzementplatten in Serie.

„Wie sieht das hier wieder aus“, sagt Ursula Meins, als sie mit Amadeus, ihrem kleinen tibetischen Rassehund, über den Platz geht. Tadellos sieht es aus, aber die Besitzerin hat hier ein Blatt, dort einen Zweig entdeckt. „Dabei habe ich doch heute Morgen erst gepüstert.“Am Wochenende kommen bis zu 80 Spieler pro Tag, aber es gibt auch Tage, an denen die Stammgäste weitgehend unter sich bleiben. „20 bis 25 Grad und bewölkt, das ist ideales Wetter“, erklärt Ursula Meins aus Unternehmersicht.

Die 62-Jährige, früher als Sekretärin bei der Neuen Heimat tätig, geht in ihrer Arbeit auf: „Ich bin die ganze Zeit draußen und habe mit Menschen zu tun. Für mich ist das wie Urlaub hier.“

Als Hinz&Kunzt-Verkäufer Uwe Dierks dieses Jahr seinen 60. Geburtstag am Hammer Park feierte, kam sogar hoher Besuch (allerdings nicht zum Spielen): Bürgerschaftspräsidentin Dorothee Stapelfeldt überreichte Dierks, den sie von seinem Verkaufsplatz am Rathaus kennt, eine Torte. Und noch eine Verbindung gibt es zu Hinz & Kunzt: Seit sieben Jahren lädt ein Mitarbeiter des Arbeitsamtes seine Kollegen zu Benefiz-Turnieren ein und spendet den Erlös dem Hamburger Straßenmagazin.

Die sechziger Jahre waren die Boomzeit des Bahnengolf. 3.000 Anlagen entstanden allein in Deutschland, schätzt Quitsch; heute mögen es noch 2.000 sein. Zugleich gründeten sich viele hundert Vereine. Was den praktischen Vorteil hatte, dass dadurch die Anlagen zu Sportstätten wurden, für die keine Vergnügungssteuer fällig war. Der Wettstreit der Systeme – Mini gegen Miniatur, Betonhauer gegen Klickergolfer – war bald beigelegt. In Hamburg schlägt man seit 1964 vereint – damals wurde der Bahnengolfverband gegründet. Wer heute Turniere spielt, muss mit beiden Systemen zurechtkommen.

55 Schläge haben Rolf und Rudolf heute gebraucht, um den Parcours mit Wippe und Salto, Bodenwellen und Vulkan zu durchlaufen. Als Schlusslichter müssen die beiden das Après-Golf am Gartentisch bezahlen. Zeit für tiefschürfende Spielanalysen („das ganze Sabbeln bringt nichts, der Ball muss rein“), entspanntes Nachdenken über Sein und Zeit („85, das ist doch kein Alter“) und heitere Anekdoten, die zumindest den Eingeweihten erfreuen („erinnert ihr euch noch, wie damals der Sandkuchen in den Sand fiel?“).

Gegen 18 Uhr brechen die Spieler auf. Sepp, der als Jüngster in der Gruppe noch im Beruf steht – er entwickelt als selbstständiger Chemiker Rezepturen für Gummi –, hat geschäftliche Anrufe auf sein Handy umgeleitet. Aber es hat niemand angerufen. Mit Küsschen verabschieden sich die Spieler von Ursula Meins und ihrem Wohnzimmer mit den 18 Bahnen. Bis nächsten Donnerstag.

Detlev Brockes

Nachts, wenn der Tag beginnt

Warum an der Banksstraße in Hammerbrook die Uhren anders ticken

(aus Hinz&Kunzt 127/September 2003)

Eon Hanse präsentiert die Dart-Reportage: Hamburg hat viele unbekannte Ecken. Mit Häusern voller Geschichte und Menschen mit besonderen Lebensläufen. Um sie zu finden, werfen die Reporter einen Dartpfeil auf den Stadtplan. Die Geschichten erzählen von viel menschlicher Wärme oder dem Mangel daran. Diesmal: die Banksstraße.

Es ist vier Uhr morgens: In immer kürzeren Abständen blitzen die Scheinwerfer der Transporter auf, die von der Amsinckstraße heranrollen – wir nähern uns der Rushhour. Während die Stadt noch schläft, herrscht im Obst- und Gemüsegroßmarkt Hochbetrieb. Einige Gemüsehändler, die besonders früh in den Tag starten, haben ihren Einkauf schon erledigt und fahren zurück in ihre Läden. Ganz vorsichtig steuern sie ihre Kastenwagen um die Kurven, um ihre Fracht bloß nicht zu beschädigen. Vom Hauptbahnhof braucht man zu Fuß gerade mal sieben Minuten bis zur Banksstraße.

Dennoch liegt sie alles andere als zentral: Die Banksstraße bildet die Achse einer abgekapselten Nische zwischen Innenstadt und Elbe. Auf allen Seiten ist sie von der Umgebung abgeschnitten: Im Norden versperrt das Betriebswerk der Bahn den Weg, auf der Elbseite hindert einen die Flutschutzmauer des Oberhafens am Weitergehen. Die Oberhafenbrücke beschränkt westlich den Blick auf die Deichtorhallen, und im Osten schirmt der Großmarkt mit hohen Stacheldrahtzäunen unangemeldeten Besuch ab.

[BILD=#banksstr2][/BILD]Ohne Sondererlaubnis dürfen nur die ständigen Händler und etwa 5000 gewerbliche Käufer den Markt betreten. Ich bin für sieben Uhr angemeldet, der Verkauf läuft also schon seit fünf Stunden. Im vorderen Teil der 40.000 Quadratmeter großen Halle sortiert Renate Müller gelbe Kunststoffkisten voller Kartoffeln, Zuckermais und Kürbisse. Viele der Kisten sind bereits leer, Müllers Tag war recht erfolgreich. Gegen zwei Uhr morgens baut sie ihren Stand auf, fünfmal pro Woche.

Da ihr Feierabend näher rückt, widmet sie sich bereits der Abrechnung: Die freundlich-resolute Frau beugt sich mit einer großen Brille auf der Nase über ihren Taschenrechner und füllt mintgrüne Formulare aus. Die Haupthandelszeit ist vorüber, nun gilt es, Außenstände einzutreiben.

Nebenbei und ohne aufzublicken erzählt sie von ihrer Beregnungsmaschine, deren Anschaffung sich in diesem Sommer so richtig auszahlt: Ihrem Land in der Winsener Elbmarsch kann die extreme Trockenheit nicht viel anhaben, und so freut sich die Landwirtin über ordentliche Erträge. Doch nicht die Masse sei entscheidend, sagt Renate Müller, ihr Geld verdiene sie mit der Qualität ihrer Ware. Von der sind offensichtlich auch zwei Kunden überzeugt: Nach zwei, drei Blicken unter die Blattschicht packen sie den Mais kistenweise auf ihren Hubwagen.

Helmuth und Günter Ehmann setzen auf gute Preise. Die Brüder handeln seit 53 Jahren mit Obst und Gemüse. Angefangen haben sie als Kinder mit einer Schubkarre in Elmshorn, nun sitzen sie hinter einem schicken Tresen im Herzen der Großmarkthalle. Die Ehmanns importieren Früchte aus aller Welt. „Schlechte Ernten oder Knappheit gibt es nicht“, sagt Günter Ehmann, ein hemdsärmliger Mann mit rotblondem Vollbart. „An Ware kommt jeder, der bereit ist, etwas dafür zu zahlen.“ Das sei sein Leben lang so gewesen, auch als der Großmarkt noch in den Deichtorhallen stattfand.

Ein ganzes Leben im Obsthandel, ein Leben lang Nachtarbeit: Die Ehmanns stehen um 23 Uhr auf und kommen um 12 Uhr wieder nach Hause. Äußerlich scheinen sie den Stress gut wegzustecken: Als wäre es nicht der Wechsel von Tag und Nacht, der ihren Biorhythmus bestimmt, sondern einzig die Verkaufszeit des Großmarktes.

Als diese um 9 Uhr zu Ende geht, steht die Sonne hoch und sticht beim Verlassen des Marktgeländes in den Augen. Vor dem Tor liegt die Banksstraße, um diese Tageszeit ist kaum noch was los. In diese Ecke verirren sich nur wenige Menschen, die hier nicht arbeiten. Warum auch? Sie bietet weder Spektakuläres fürs Auge, noch ist sie als Amüsiermeile bekannt. Tagsüber ist die Straße vor allem eines: Parkplatz.

Vor dem Backsteinbau der Stadtentwässerung stehen Autos in Viererreihen und warten darauf, dass ihre Besitzer sie am späten Nachmittag wieder in die Stadt fahren. Zurzeit ist von denen jedoch nichts zu sehen. In eine Ecke zwischen Mittelkanal und Lippeltstraße kauert sich das Grundstück eines Gebrauchtwagenhändlers. Auf dem winzigen, ungepflasterten Platz drängen sich rund 60 Autos: Limousinen, Transporter und Kleinwagen stehen Stoßstange an Stoßstange, am Zaun ein arg mitgenommener Krankenwagen neben einem Rettungswagen. Wer kauft wohl solche Autos?

[BILD=#banksstr3][/BILD]Die Tür eines weißen Bürocontainers steht offen. Beim Eintreten blicke ich in die freundlichen Gesichter zweier dunkelhaariger Männer, die am Schreibtisch sitzen. Noch während ich mich vorstelle, räumen die beiden einen Stuhl frei und drücken mir einen Becher in die Hand: „Setz dich, bei uns ist jeder willkommen“, sagt Toufic Chemayssem, ein kräftiger Mann mit kurz geschnittenem Haar und Oberlippenbart, während „Cappuccino“ – so stellt sich der zweite Gastgeber vor – eine rote Thermoskanne hervorholt und mir Kaffee einschenkt.

Der jugendlich wirkende 40-Jährige nutzt seinen freien Nachmittag, um Toufic bei der Arbeit zu besuchen. Der Kaffee schmeckt köstlich – libanesische Gastfreundschaft, mitten in einem Hamburger Gewerbegebiet.

Toufic kam vor anderthalb Jahren aus dem Libanon, seitdem arbeitet er in der Banksstraße. Autohändler lagern kaum oder gar nicht mehr fahrtüchtige Wagen bei ihm zwischen, bevor ein Schiff sie nach Afrika bringt. Oder auf die arabische Halbinsel, eben überall dorthin, wo ausrangierte Autos etwas wert sind – zurzeit ist der Irak ein gutes Absatzgebiet.

Insgesamt allerdings läuft das Geschäft nicht sonderlich gut, um nicht zu sagen schlecht. Doch Toufic ist genügsam: Solange er ein Dach über dem Kopf und genug zu essen habe, danke er Gott, sagt er. Der Libanese strahlt solch eine Gelassenheit aus, man kann nicht anders, als ihm zu glauben.

Ab und an beugt er sich über die Lehne seines Stuhls und schaut zum Fenster hinaus, doch es passiert nichts, was seine Aufmerksamkeit verdient. Und so verstreicht ein weiterer friedlicher Nachmittag. Ein Nachmittag, der einen die Zeit spüren lässt – allerdings einmal nicht bloß dadurch, dass sie an allen Ecken und Enden zu fehlen scheint.

Am späten Abend liegt die Banksstraße endgültig da wie ausgestorben. Während sich Toufic Chemayssem zu Hause vielleicht ein letztes Mal vor dem Schlafengehen gen Osten wendet, stehen Renate Müller und die Brüder Ehmann wieder auf – um „23 Uhr morgens“, wie einige Händler auf dem Markt sagen. Sie alle leben im Rhythmus der Banksstraße, die nachts zum Leben erwacht, bevor sie am späten Morgen in einen ausgiebigen Dämmerzustand fällt. Es ist nicht nur die räumliche Isolation, die die Banksstraße von der Hamburger Innenstadt trennt: Rund um den Großmarkt gehen die Uhren einfach anders.

Philipp Jarke

Nr. 6: Fördern statt überfordern

10 Jahre Hinz&Kunzt – zehn Geburtstags-Forderungen

(aus Hinz&Kunzt 127/September 2003)

Darum geht es:

Erwerbsfähige Sozialhilfe- und Arbeitslosenhilfeempfänger müssen sich laut Gesetz selbst um Arbeit bemühen. Doch viele der Betroffenen finden auf dem engen Arbeitsmarkt keinen Job. Andere schaffen es nicht allein, oder sie können die Anforderungen nicht erfüllen. Das Ergebnis: Ihnen wird vom Amt die Stütze gestrichen, und sie fallen aus dem sozialen System. Deshalb fordert Hinz & Kunzt, dass diese Menschen intensive Unterstützung von sozialen Job-Agenturen bekommen und ihnen nur dann die Hilfe gestrichen wird, wenn sie diese Unterstützung nicht annehmen.

Der Hintergrund:

Die meisten Sachbearbeiter in den Ämtern sind mit der Aufgabe überfordert, ihre Klienten bei der Arbeitssuche zu unterstützen. Gängige Praxis ist deshalb, dass Hilfeempfänger die Auflage bekommen, sich selbst um Arbeit zu bemühen. Je nach Sachbearbeiter werden ihnen bis zu 20 nachweisbare Bewerbungen pro Monat auferlegt. Dass diese Situation unbefriedigend ist, erkannten Hamburger Sozialpolitiker schon in den neunziger Jahren. Neben Fachstellen zur Arbeit innerhalb der Sozialämter wurden deshalb soziale Job-Agenturen in den Bezirken eingerichtet.

Die Agenturen arbeiten auf eigene Rechnung und werden von freien Trägern geführt. Die Ämter zahlen ihnen ein Honorar: eine Hälfte, wenn der Hilfeempfänger einen versicherungspflichtigen Job bekommt (keinen Mini-Job), die andere Hälfte, wenn er ein halbes Jahr durchgehalten hat. Ziel ist, für jeden der Stützeempfänger einen Arbeitsplatz zu finden, der wie angegossen zu ihm passt. Nicht allein die Ausbildung zählt, sondern auch die persönlichen Stärken und Schwächen. Die Jobs suchen die Agenturen in kleinen und mittleren Betrieben, für die es oft zu aufwändig ist, eine Anzeige in der Zeitung zu schalten.

Das Problem: Die Sachbearbeiter können, aber sie müssen ihre Klienten nicht zu den Agenturen schicken. Zwar haben Hilfeempfänger die Möglichkeit, selbst Kontakt zu den Agenturen aufzunehmen und sich nachträglich zuweisen zu lassen. Aber viele wissen das nicht oder schaffen einen solchen Schritt nicht. Fakt ist, dass die Hilfe mitunter auch in den Fällen gekürzt wird, in denen noch gar nicht der Versuch unternommen wurde, Stützeempfänger über die sozialen Agenturen zu vermitteln.

Die beste Job-Agentur nützt allerdings nichts, wenn sie es sich nicht leisten kann, Schwervermittelbare aufzunehmen. Und das ist immer häufiger der Fall. Denn inzwischen ist der Zeitraum, den die Agenturen haben, um einen Menschen zu vermitteln, von durchschnittlich einem Jahr auf ein halbes gekürzt worden. Und auch die Vermittlungsvorgaben wurden verschärft: Wenn die Träger einen festen Pool von Klienten haben, wurde die Vermittlungsquote in vielen Fällen von 20 auf 40 Prozent erhöht. Haben sie dagegen keinen festen Pool, dann fehlt den Agenturen die Planungssicherheit.

Wie andere es besser machen:

Die Idee sozialer Job-Agenturen haben wir von den Niederländern abgeguckt. Dort allerdings funktionierte das System im großen Stil. Es gab kein Nebeneinander zwischen Ämtern und Job-Agenturen. Und weil Sozialhilfeempfänger schnell zu den Agenturen durchgereicht wurden und mit ihnen gearbeitet wurde, war der Vermittlungserfolg höher.

Allerdings ist die Vermittlungsquote in den vergangenen Monaten auch in den Niederlanden aufgrund der schlechten Arbeitsmarktlage und aufgrund von Sparmaßnahmen zurückgegangen.

So müsste es laufen:

– Sachbearbeiter müssen arbeitsfähige Sozialhilfeempfänger grundsätzlich an eine soziale Job-Agentur überweisen

– Die Job-Agenturen müssen finanziell so ausgestattet sein, dass sie auch Schwervermittelbare erfolgreich betreuen können

– Die Agenturen machen eine Bestandsaufnahme und legen fest, welche Maßnahmen individuell für einen Klienten erforderlich sind, um ihn wieder einsatzfähig zu machen (Bewerbungstraining, Schuldenberatung, aber auch Fortbildungen oder Ausbildungsempfehlungen)

– Die Sozialhilfe darf nur gekürzt werden, wenn der Hilfeempfänger keine der angebotenen Maßnahmen befolgt.

Birgit Müller

Reaktionen auf unsere Geburtstags-Forderungen:

„Guthaben-Konto für jedermann“ forderten wir in unserer August-Ausgabe. Der Grund: Arbeit- und Wohnungsgeber verlangen oft, dass ihre Mitarbeiter und Mieter ein Konto haben. Außerdem sind Bareinzahlungen teuer. Zwar haben die Geldinstitute in einer Selbstverpflichtung erklärt, jedem Bürger werde auf Wunsch eine Bankverbindung eingerichtet. Aber in der der Praxis gibt es immer wieder Probleme. Hinz & Kunzt hakte nach.

Die Beispiele: Einem Hamburger war das Konto gekündigt worden, weil er erheblich ins Minus gerutscht war. Nachdem er bei der Schuldnerberatung „reinen Tisch gemacht“ hatte, wollte er bei der Postbank ein Konto auf Guthabenbasis einrichten. Die verwehrte ihm das mit dem Hinweis, „dass Sie bereits ein Girokonto führen“. Tatsächlich jedoch war das alte Konto längst aufgelöst.

Auf Anfrage von Hinz & Kunzt erklärte die Postbank: „Grundsätzlich halten wir für jeden Bürger ein Girokonto bereit, damit er am normalen Leben teilhaben kann.“ Ausnahmen gebe es nur bei „Missbrauch des Kontos, Betrug oder Geldwäsche“.

In einem anderen Fall hatte die Sparkasse Harburg-Buxtehude einer Sozialhilfeempfängerin wegen einer Pfändung das Konto aufgelöst. Tragisch an dem Fall: Verantwortlich für die Schulden war vor allem der Ex-Ehemann. Trotz Fürsprache einer Diakonin verweigerte die Sparkasse zunächst die Eröffnung eines neuen Kontos. Nach einer Anfrage von Hinz & Kunzt kam dann die Wende: „Wir versuchen es noch mal!“

Ulrich Jonas

Der Herr der Leichen

Gunther von Hagens und seine fragwürdigen „Körperwelten“

(aus Hinz&Kunzt 127/September 2003)

Körperwelten heißt die weltweit berühmteste und umstrittenste Ausstellung – und zu sehen sind präparierte Leichen. Hamburg will „in“ sein und reißt sich um Gunther von Hagens’ Exponate – obwohl nicht einmal die Herkunft der Leichen geklärt ist.

„Wer so lustig ist, muss nicht auch noch gut aussehen“ ist einer der Sprüche von Radio Hamburg-Moderator John Ment. Heute ist der Witzlemacher besonders guter Dinge. Er sitzt neben einer Leiche und hält ihr das Mikrofon unter die Nase. Die Leiche gehört zu den Plastinaten der Ausstellung „Körperwelten – Die Faszination des Echten“, und der Moderator weiß, dass er mit dieser Schaufensterdekoration mit Sicherheit zum Stadtgespräch wird. Und weil die ganze Sache so witzig ist, trägt er ein Solidaritäts- T-Shirt: „Ich bin ein Plastinat“.

Die Stimmung ist aufgekratzt. Tja, die Hamburger sind eben wirklich weltoffen, das findet inzwischen auch der Leichen-Bastler Gunther von Hagens. Nicht so wie die Münchner, die so „spießige“ Forderungen an den Anatom stellten wie: Die Ausstellung soll wissenschaftliche Standards erfüllen und nicht das Schamgefühl der Menschen verletzen – und wo, bitte schön, sind die Einverständniserklärungen der Menschen, die hier plastiniert ausgestellt werden?

Das mit dem Schamgefühl ist in unserer Gesellschaft und angesichts von elf Millionen Besuchern weltweit so eine Sache. Doch dass viele der Exponate nicht von wissenschaftlichem Interesse sind, das hat der Anatom Prof. Reinhard Putz von der Ludwig-Maximilian-Universität in München in einem Gutachten dargelegt. Viele Ganzkörperexponate seien „schlichtweg als unsinnig zu bezeichnen“.

Und zwar gerade die, die vermutlich die Zugpferde der Ausstellung sind. Die Tänzerin etwa, deren Muskeln so vom Knie abgelöst wurden, dass sie aussehen wie ein hochwehendes Röckchen.

Aber mal abgesehen von der Wissenschaftlichkeit: Auch im Gutachten von Professor Putz taucht eine Frage auf, die die Schau zum Gruselkabinett werden lässt. Wie konnte der Plastinator das Einverständnis einer jungen Frau bekommen, sie mitsamt ihrem toten Fötus öffentlich auszustellen? Das „Exponat“ steht – zusammen mit zahlreichen Föten – in einem Sonderraum, dem „Anatomischen Kabinett“. Die Frage blieb bis heute unbeantwortet.

Und viele bezweifeln, dass von Hagens die Einverständniserklärung überhaupt hat. Den Münchner Beamten des Kreisverwaltungsreferats legte der Popstar der Leichenkunst jedenfalls keine einzige Einverständniserklärung vor. Nach intensiver Beratung mit Experten aus Kirche, Kunst und Wissenschaft beschloss der Münchner Stadtrat deshalb fast einstimmig, die Ausstellung nicht zuzulassen. Von Hagens zog vor Gericht – und gewann. Dem Gericht genügte im Eilverfahren eine Eidesstattliche Versicherung des Plastinators, in der er angab, für jede Leiche eine Einwilligungserklärung zu besitzen.

„Die Angelegenheit ist noch lange nicht zu Ende“, sagt Sebastian Groth, Sprecher des Münchner Kreisverwaltungsreferats. „Denn im noch ausstehenden Hauptsacheverfahren müssen die Einverständniserklärungen geprüft werden.“ Nach Akteneinsicht sind sich Groth und seine Kollegen nämlich sicher, dass die dort vorliegenden Erklärungen in keiner Weise ausreichend sind: „Sie sind den Leichen nicht zuzuordnen und entsprechen nicht den gängigen Standards.“ In der Wissenschaft werden Leichen mit einem Zahlencode versehen und sind so reidentifizierbar.

Auch die Journalisten Torsten Peuker und Christian Schulz glauben, dass von Hagens Menschen ohne deren Wissen und Einwilligung plastiniert hat. Sie recherchierten unter anderem in China und Novosibirsk. Aus Novosibirsk wurden demnach mindestens 50 Leichen an von Hagens’ Heidelberger Institut geliefert. Ein Anatom der dortigen Medizinischen Akademie bestätigte den Journalisten, dass sein Institut Leichen nach Heidelberg geschickt habe.

„In dem entsprechenden Vertrag steht nichts darüber, dass es sich um Körperspender handeln muss, die ihre Überreste freiwillig zur Verfügung stellen“, so MDR-Journalist Torsten Peuker. Vor laufender Kamera sagt der Anatom: „Das Leichenmaterial kam aus Altersheimen, aus Tuberkulose-Krankenhäusern, aus Pflegeheimen. Es wurden nur die Toten ausgewählt, die keine Angehörigen mehr hatten.“

Abgesehen davon, dass auch das illegal ist, ermittelte die russische Staatsanwaltschaft, dass das eine glatte Lüge ist. Alle hatten Angehörige. Doch die seien mit einer Urne und falscher Asche abgespeist worden. Svetlana Kretschetova beispielsweise erfuhr erst auf Nachfrage im Krankenhaus, dass ihr Vater gestorben sei. In einer Eidesstattlichen Versicherung gegenüber den deutschen Journalisten erklärte sie, dass man ihr dort eine Urne ausgehändigt habe.

In Wirklichkeit, so ermittelte die Staatsanwaltschaft, war die Leiche des Vaters jedoch an von Hagens geschickt worden. Svetlana Kretschetova ging davon aus, dass von Hagens ihr die Leiche ihres Vaters zurückgeben würde. Das habe er bis heute nicht getan, sagte sie den MDR-Rechercheuren. Kann er vielleicht auch gar nicht. Denn angeblich gibt es keine individualisierten Einverständniserklärungen aus Novosibirsk. Wo ist die Leiche von Svetlana Kretschetovas Vater geblieben? Vielleicht längst verkauft.

Denn das Plastinieren hat sich zum Millionengeschäft entwickelt. In der chinesischen Stadt Dalian hat von Hagens „Plastination City“ errichtet. In der Fabrik mit unterirdischen Produktionshallen fertigen mehr als 200 Menschen immer neue Leichen. Und die werden nicht nur ausgestellt, sondern auch verkauft. Knapp 150.000 Euro (damals 300.000 Mark) brachte beispielsweise die Lieferung von vier plastinierten Leichen an die Universität von Tobago, recherchierten die MDR-Journalisten.

Von Hagens hat es allerdings nicht nur auf die Toten abgesehen, sondern anscheinend auch auf die Noch-Lebenden. Christian Schulz traf auch den russischen Ex-Basketballspieler Alexander Sisonenko. Der 2,40 Meter-Mann ist aufgrund seiner Größe schwer krank, ärztliche Behandlung kann er sich nicht leisten. Von Hagens, so sagte er den deutschen Rechercheuren, habe ihn nach Deutschland eingeladen und ihm medizinische Hilfe in Aussicht gestellt. In Heidelberg sei jedoch weniger von Sosinenkos Heilung die Rede gewesen als von seinem Tod. Von Hagens habe ihn aufgefordert, ihm seinen Körper zu vermachen. Der Basketballer reiste schockiert ab.

Der Plastinator ließ angeblich nicht locker. Er bot sogar rund 50.000 Euro (damals 100.000 Mark) als humanitäre Hilfe. Alles weitere sollte dann mündlich besprochen werden. Ein entsprechendes Fax liegt den MDR-Journalisten vor.

Die massive Kritik scheint den Hamburger Senat kalt zu lassen. Als Markus Schreiber, Bezirksamtsleiter in Hamburg-Mitte, einige Exponate für die Ausstellung nicht zulassen wollte, wurde er als „Zensor“ diffamiert, und die Ausstellung wurde zur Chefsache erklärt unter Leitung von Roger Kusch (CDU), Senator für Bezirksangelegenheiten. Trotz der massiven Vorwürfe und obwohl in München bald das Hauptverfahren eröffnet wird, sieht der Senat keinen Handlungsbedarf. Verwaltungsrechtlich sei nichts zu beanstanden.

Außerdem kann man ja sicher sein, dass die Körperwelten auch die Kassen der Stadt klingeln lassen. Da ist’s wohl egal, dass in Deutschland sonst nichts ohne Bescheinigungen und Genehmigungen läuft. Auch die Staatsanwaltschaft sieht keinen Grund zu ermitteln. Vor allem, weil die Ausstellung schon „unbeanstandet in so vielen anderen Städten gelaufen“ ist.

Normalsterblichen stellt sich allerdings noch eine andere Frage: Wie wollen wir in Zukunft mit dem Tod umgehen? Ist es bald schick, Omi Fahrrad fahrend im Wohnzimmer aufzustellen, statt sie ins Grab zu legen? Haben wir überhaupt noch so etwas wie einen gemeinsamen Begriff von Pietät? Oder sind solche ethischen Fragen angesichts des Plastinationsbooms sowieso out?

Fakt ist, dass Gunther von Hagens schon jetzt der lachende Sieger ist. Denn seine Leichen haben ihm in Kirgisien und in China einen Gast- und einen Ehren-Professorentitel eingebracht – etwas, was ihm in Deutschland bislang verwehrt geblieben ist. Rechtliche Probleme sind für die weitere Zukunft nicht mehr zu befürchten. Denn er hat jetzt schon so viele quicklebendige Fans, die ihm liebend gern ihre Leichen vermachen wollen oder sie ihm längst vermacht haben, dass er mit Sicherheit mehrere Ausstellungen bestücken kann. Und zur Not kann er ja immer noch seine Leichen verscherbeln…

Birgit Müller

Keine Privatsache

Bürgerschafts-Vize Farid Müller über Schwulsein und Politik

(aus Hinz&Kunzt 127/September 2003)

Die dritte Augustwoche war dramatisch im Hamburger Rathaus: Innensenator Ronald Schill drohte Bürgermeister Ole von Beust und wurde entlassen. Von Beust und Justizsenator Roger Kusch bekannten sich zu ihrer Homosexualität, wiesen aber Schills Behauptung zurück, sie seien Lebenspartner. Hinz & Kunzt sprach mit Bürgerschafts-Vizepräsident Farid Müller (41, GAL) über Homosexualität, Privatsphäre und Politik.

H&K: Ist es Privatsache, ob ein Politiker schwul ist?

Farid Müller: Nein. Es gehört heute dazu, sich zur Lebensform zu äußern. Ein heterosexueller Politiker spricht selbstverständlich über Familie und Kinder, und niemand sagt: Das wollen wir jetzt nicht hören, das ist privat. Warum sollte es dann Privatsache sein, wie ein homosexueller Politiker lebt? Um Bettgeschichten geht es dabei allerdings nicht. Die Persönlichkeit von schwulen oder lesbischen Menschen reduziert sich schließlich nicht auf Sexualität.

H&K:Der Bürgermeister und der Justizsenator sagen: Warum hätten wir groß darüber reden sollen? Homosexualität ist doch nichts Ungewöhnliches.

Farid Müller: Ich halte das für verlogen. Homosexualität gehört eben noch nicht zur Normalität. Dazu hat gerade die CDU beigetragen: mit ihrer Ablehnung einer rechtlichen Gleichstellung. Dadurch erscheint Schwul- oder Lesbisch-Sein immer noch als Makel. Wie zum Beispiel im jüngsten Papier der katholischen Kirche, das die Homo-Ehe ablehnt und katholische Politiker zum Widerstand aufruft.

H&K: Sollten schwule Politiker sich outen?

Farid Müller:Ich wünsche mir, dass Personen des öffentlichen Lebens frei über ihre Lebensform sprechen. Die Sorge beim Outing ist ja vor allem: Habe ich Nachteile in Beruf und Karriere? Gerade in konservativen Parteien ist die Befürchtung groß, Homosexualität könnte die Wähler überfordern und die Chancen eines Kandidaten schmälern. Doch wer seine Homosexualität aus Angst verschweigt, kann nicht frei agieren. Angst behindert die Leistung und bereitet den Boden für Erpressungsversuche. Außerdem sind Politiker, die offen mit ihrer Homosexualität umgehen, ein Vorbild für Jugendliche, die sich genau damit schwer tun. Bei den unter 18-Jährigen sind Probleme mit dem Coming out ein Hauptgrund für Suizid.

H&K:Grundsätzlich gefragt: Darf ein Bürgermeister seinen Lebenspartner zum Senator berufen?

Farid Müller: In der Politik gelten Regeln. Wenn es üblicherweise nicht akzeptiert wird, Lebenspartner in ein Amt zu berufen, dann sollten sich alle daran halten. Homosexuelle können sich hier nicht auf ihr Privatleben berufen, um der Diskussion auszuweichen. Aber: Wer solche Vorwürfe erhebt, muss Beweise auf den Tisch legen. Oder schweigen.

H&K: Sie selbst leben offen schwul und sind seit knapp zehn Jahren in der Politik. Wie sind Ihre Erfahrungen?

Farid Müller: In der ersten Zeit waren manche unsicher, wie sie dem Schwulen Farid Müller begegnen sollten. Das äußerte sich dann in Sprüchen oder spitzen Bemerkungen. Doch mit der Zeit haben die Menschen den Abgeordneten Farid Müller kennen gelernt. In der Bürgerschaft empfinde ich keine Vorbehalte mehr, dass ich schwul bin. Bei offiziellen Anlässen bringe ich durchaus meinen Partner mit – auch wenn ich gelegentlich noch ,mit Gemahlin‘ eingeladen werde.
Mir geht es sehr gut damit, und ich kann nur allen sagen, die in Hamburg im öffentlichen Leben stehen und schwul oder lesbisch sind: Ihr müsst keine Angst haben. Die Leute können wunderbar damit umgehen.

Interview: Detlev Brockes

Wohnung mit Publikum

„Stephanslust“: Warum der Sammler und Künstler Stephan Watrin inmitten seiner Ausstellung lebt

(aus Hinz&Kunzt 127/September 2003)

„Der Teppich muss frei bleiben“, sagt Stephan Watrin, „sonst wird mir das zu viel!“ Der Teppich ist blau, knapp zwei Quadratmeter groß und bildet vermutlich die größte zusammenhängende Freifläche in der mehr als 100 Quadratmeter großen Wohnung. Ansonsten ist alles voll: Von der Flurdecke baumeln Spazierstöcke, die Wände sind kaum mehr zu erkennen vor lauter Aschenbechern, Schuhlöffeln, Tiergeweihen, Blechschildern, Kaffeekannen, alten Prospekten oder Kaffeefilter-Packungen – immer schön in Gruppen geordnet.

Zwischen diesen Sammlerstücken, die weder vor der Küche noch vor dem Klo Halt machen, schlängeln sich Lichterketten, die von Gläsern, Flaschen und Spiegelscherben reflektiert werden. Das Strandgut des banalen Alltags beginnt geheimnisvoll zu leuchten und bekommt einen unerklärlichen Zauber. Sammlers Traum und Albtraum, durch den der 53-jährige Stephan Watrin zu gleiten scheint, ohne sich je an etwas zu stoßen. Ein bisschen erinnert er an einen freundlichen schwerelosen Kobold.

„Ich bin ja verrückt“, sagt er verbindlich lächelnd, so wie andere vielleicht sagen würden, sie seien leider nicht zum Aufräumen gekommen – in jenem weichen niederrheinischen Tonfall, den auch 30 Jahre Hamburg nicht vollständig aushärten können.

Wie bei allen Sammlern begann es auch bei ihm ganz harmlos: mit einer Kindernähmaschine, eigentlich gedacht als Geschenk für eine junge Liebe, die damals Modedesign studierte. „Aber dann gefiel mir die Maschine so gut, dass ich sie selbst behalten habe.“ Das ist jetzt mehr als 20 Jahre her, es folgten weitere Kindernähmaschinen, Sammeltassen, Avis-Annoncen und jedes Wochenende mindestens ein Flohmarkt. Eine große Leidenschaft, ein großer Fluch.

„Meine Frau hat es irgendwann vor zwölf Jahren nicht mehr ausgehalten und ist ausgezogen. Kann man ja auch verstehen“, sagt Stephan Watrin und sieht jetzt aus wie ein bekümmerter Kobold. Denn anders als vielleicht andere Sammler ist er keiner, dem der Rest der Welt egal wäre. Er mag Frauen und andere Menschen, interessiert sich für ihre Bedürfnisse und versteht sogar seine Vermieterin, „die sich Sorgen macht, weil in der Wohnung wegen meiner Sammelei seit 23 Jahren nicht gestrichen werden kann“.

Seine soziale Ader hatte Stephan Watrin Anfang der achziger Jahre auch bewogen, seine gut dotierte Abteilungsleiter-Stelle im Kaufhaus aufzugeben und als Erzieher im Kindergarten zu arbeiten. Das tat er bis vor drei Jahren, dann kündigte er, weil er sich nicht so gut mit seinen neuen Vorgesetzten verstand und „weil ich mehr Zeit für meine Kunst haben wollte“.

Denn damals hatte er sich nicht mehr länger damit begnügt, die Dinge aufzuheben und zu ordnen, sondern begonnen, sie zu gestalten. Mit feinem Kupferdraht umwickelt er seitdem seine Fundstücke und verbindet sie zu Skulpturen, die immer ein ernsthaftes Anliegen haben: den Irakkrieg, den Nahostkonflikt, aber auch den Kampf zwischen den Geschlechtern. „Wenn mich da etwas bewegt, egal ob ich es selbst erlebe oder in der Zeitung lese, dann setze ich mich direkt hin und mache eine Skulptur. Das ist meine Art, es zu verarbeiten“, sagt der Drahtkünstler und sieht dabei nicht mehr wie ein Kobold aus, sondern wie ein zerbrechlicher Elf.

Wie eine zweite Schicht beginnen sich diese nachdenklichen Skulpturen nun vor die Sammelstücke zu schieben, so dass er seine Wohnung vor drei Jahren kurzerhand zur Museumswohnung erklärt hat. Weil aber „viele Leute doch Hemmungen haben, einfach so eine Privatwohnung zu betreten“, und weil sowieso nicht genügend Platz wäre, ist er froh, dass er die Räume des Galeristen Olaf Woerderhoff am Schulterblatt 59-1 nutzen kann – und jetzt eröffnet er im Karoviertel „Senator Watrin“, ein Galerie-Café mit Kinderbetreuung.

„Da soll dat dann endlich alles zusammenkommen, die Kunst, der Kommerz und dat Soziale“, sagt er, und es klingt wie die einfachste Sache der Welt. Ist es für ihn auch. Denn wenn ein Problem nicht so groß ist, dass man es nur noch mit Draht umwickeln kann, dann packt Stephan Watrin es einfach an und löst es mit niederrheinischem Pragmatismus.

So wie neulich, als ihm eine Galerie-Besucherin im Rollstuhl erzählte, dass sie bis zum Pferdemarkt fahren müsse, um eine geöffnete Behindertentoilette zu finden. Seitdem hat Stephan Watrin für ein Behindertenklo auf dem Schulterblatt gekämpft – mit Erfolg, wie er, der selbst ernannte Klominister, genüsslich erzählt. Da ist er wieder ganz Kobold, der den Behörden „so lange auf den Senkel geht, bis die kapieren, dass ich es ernst meine“.

Allerdings weiß er auch genau, an wen er sich wenden muss. Schließlich engagiert er sich seit Jahren in Nachbarschaftsinitiativen und im Sanierungsbeirat des Viertels, „da kennt man sich dann irgendwann.“ Jedenfalls gibt es jetzt im Flora-Park eine provisorische Behindertentoilette, für die einige Gastronomen an der Piazza nicht nur den Schlüssel verwalten, sondern auch zur Finanzierung beigetragen haben – von Stephan Watrin charmant überredet. „Schließlich verlangt die Gastronomie hier den Anwohnern auch einiges ab, also kann sie auch mal was für die Nachbarschaft tun.“

Mit diesem Argument wird jetzt im September auch ein Fest für die Piazza-Lärm-geplagten Anwohner ausgerichtet. Und wenn der Flora-Park im nächsten Jahr ein richtiges, gemauertes Toilettenhäuschen bekommt, dann werden die Jugendgruppen aus der Flora genauso in die Schlüsselverwaltung einbezogen wie die Kneipiers und der Künstler selbst. Wenn er so etwas organisieren kann, „wo sich die unterschiedlichsten Leute zusammensetzen und wat jutes machen“, dann ist Stephan Watrin so glücklich, dass er sogar das Sammeln vergisst – jedenfalls eine Zeit lang.

Gute Chancen also, dass der blaue Teppich weiterhin leer bleibt. Wenn ihm dieser Freiraum nicht mehr reicht, dann fährt er für ein paar Wochen in die Sahara und genießt die Leere der Wüste. Und wer weiß, vielleicht kommt eines Tages doch noch die Märchenprinzessin und erlöst ihn von seiner Sammlung. Denn „wenn ich mich in eine Frau verlieben würde und die wollte hier einziehen und es wäre zu wenig Platz, dann würde ich mich auch von der ganzen Sammlung trennen“. Von wegen verrückt – der Mann ist einfach ein Romantiker!

Sigrun Matthiesen