Ein lebendiger Ort

Begegnungen auf dem Ohlsdorfer Friedhof

(aus Hinz&Kunzt 124/Juni 2003)

Hein Gas präsentiert die Dart-Reportage: Hamburg hat viele unbekannte Ecken. Mit Häusern voller Geschichte und Menschen mit besonderen Lebensläufen. Um sie zu finden, werfen die Reporter einen Dartpfeil auf den Stadtplan. Die Geschichten erzählen von viel menschlicher Wärme oder dem Mangel daran. Diesmal: die Kriegerehrenallee auf dem Ohlsdorfer Friedhof.

Donnerstag, 11 Uhr: Die Planierwalze rast über die Gräber. Durch die Zweige der Fichte in der Mitte des Gräberfeldes blinzelt die Sonne. Das dröhnende Gefährt brettert über das Gras. In einer Minute pressen seine Tonnen zwei Gräberreihen platt. Nebenan kniet ein Gärtner und jätet in aller Ruhe Unkraut, die Planierwalze ignoriert er.

3418 deutsche Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg liegen an der Kriegerehrenallee auf dem Ohlsdorfer Friedhof begraben. Ihre Grabsteine sollen hier ewig stehen – als Mahnung zum Frieden, wie es im Friedhofsführer heißt. Doch Maulwürfe haben sich den Friedhof als Lebensraum ausgesucht und drohen nun die Grabsteine zu unterwühlen. „Mit der Walze versuchen wir, den Boden so zu verdichten, dass die Tiere nicht mehr darin graben wollen“, sagt Friedhofsgärtner Martin Müller. Vergiftet werden dürfen Maulwürfe glücklicherweise nicht, deshalb gehen an der Kriegerehrenallee nur Greifvögel auf die Maulwurfsjagd – und eben die Planierwalze. Wirklich vertreiben lassen sich die Tiere vom größten Parkfriedhof der Welt nicht.

So beschaulich der Ohlsdorfer Friedhof wirkt, wer genauer hinsieht, entdeckt, dass er alles andere ist als nur ein Ort des Todes. Reinhold Roosen, ebenfalls Gärtner, sagt: „Was die Leute hier alles machen: joggen, Rad fahren, sonnenbaden, Picknick und sogar angeln.“ Einiges davon verbietet die Friedhofsordnung, etwa Fische fangen im See, der einen Steinwurf entfernt von der Kriegerehrenallee liegt. Allerdings sind Maulwürfe und zuweilen auch Menschen blind für die Regeln. Sie machen die Kreuzung Kriegerehrenallee/Mittelallee zum Habitat, Gedenkort, Naherholungsgebiet, Arbeitsplatz, kurz: zu einem Ort des Lebens.

Donnerstag, 13 Uhr: „Ich komme gerade von einer Feier“, sagt Friederun Poppe-Kögler. Die Freude der schwarzhaarigen Frau ist fast greifbar – was mag das für eine Feier gewesen sein? Sie trägt einen schwarzen Hosenanzug, dazu eine aufblasbare Gießkanne in der einen Hand und einen Geigenkoffer in der anderen. „Heute haben wir den ‚Sommer‘ von Vivaldi gespielt.“ Friederun Poppe-Kögler spielt Violine und Bratsche auf Beerdigungen – besser gesagt auf „Feiern“, wie sie es nennt. Sie spielt, was sich die Angehörigen wünschen, meist klassische Stücke von Mozart bis Bruckner. „Das ist toll, da kann ich beinahe jeden Tag Solo spielen“, sagt Poppe-Kögler.

Die 59-Jährige hat offensichtlich ihren Traumjob gefunden. Die ehemalige Geigenlehrerin interpretiert aber auch Popsongs oder Schlager wie Heidi Kabels „In Hamburg sagt man Tschüs“. Früher ist sie bei solchen Spezialwünschen immer ins Musikgeschäft gegangen und hat sich die Noten gekauft. „Heute gucken meine drei Söhne kurz ins Internet – schon hab ich, was ich brauche“, erzählt Poppe-Kögler.

Jetzt, nach ihrem Auftritt, ist sie auf dem Weg zum Grab ihres Mannes. „Er ist vor vier Jahren gestorben.“ Als sie dies sagt, verschwindet das Lächeln aus ihrem Gesicht. Doch es ist fast augenblicklich wieder da, als der Blick der Musikerin auf ihre aufblasbare Gummigießkanne fällt. Zusammengefaltet passt sie locker in ihre Tasche, zwischen die Abschiedsgrüße von Maffay und Mozart.

Sonntag, 14 Uhr: Auf der Mittelallee tobt der Verkehr, Radfahrer flitzen über den Asphalt, die Autos und Motorräder fahren Kolonne. Ein leiser, eintöniger Klangteppich liegt über den Kriegsgräbern. „Als Frau kann man hier eigentlich nicht allein herumlaufen“, sagt Frau Wilfing, als sie auf einer Bank eine Verschnaufpause einlegt. „Da kann einem ja immer was passieren!“ An dem latenten Unsicherheitsgefühl der Rentnerin änderte es auch nichts, dass die Friedhofsgärtner die Rhododendronbüsche gestutzt und Bäume beschnitten haben. Frau Wilfing war nicht die einzige, der es zu düster war auf dem Friedhof.

Ein junges Paar in schweren Lederstiefeln schlendert an den Grabsteinen der Soldaten vorüber. Die roten Strähnen im langen Haar der Frau sind das einzig Farbige an den beiden, sie tragen komplett Schwarz. Hand in Hand lesen sie schweigend die Inschriften der Steine. Obwohl der Kontrast zwischen ihrem blassen Teint und den schwarzen Kleidern auf dem Spiel steht, scheinen sie die Sonne zu genießen. Als das verliebte Paar außer Sicht ist, nimmt Frau Wilfing ihren Mut zusammen und macht sich auf zum Grab ihrer Eltern. Die größte Gefahr, die ihr dabei droht, ist schnell beseitigt: Frau Wilfing setzt sich noch einmal auf die Bank, verschnürt ihr offenes Schuhband und wünscht einen schönen Tag.

Freitag, 17 Uhr: Es nieselt warm. Der Asphalt der Kriegerehrenallee sendet diesen kitzligen Duft in die Nase, den der erste Regen nach einer langen Hitze verursacht. Ein Specht trommelt, die Allee und das Gräberfeld sind fast verwaist. Nur ein Mann mit schlohweißem Haar, vielleicht Mitte 60, schlendert ohne Eile an den grauen Reihen der Grabsteine vorbei, die der Regen noch einen Ton grauer färbt. „Manchmal komme ich am Nachmittag oder in der Dämmerung hierher, um die Atmosphäre zu genießen“, sagt er und rückt seine Brille zurecht. Helmut Schoenfeld, so heißt der Mann, kennt den Friedhof wie die Tasche seiner Jeans. 20 Jahre hat er hier als Gartenarchitekt gearbeitet, die Geschichte des Friedhofs erforscht und nach der Pensionierung ein Buch über seinen ehemaligen Arbeitsplatz geschrieben. Jetzt führt er Besuchergruppen über die Kriegsgräber.

„Gelegentlich werden ganze Busladungen von Bundeswehrsoldaten zum Pflichtbesuch abkommandiert“, sagt er und leckt hastig über seine Lippen. Richtig wohl fühlt er sich nicht, wenn die Kommandanten den Soldaten am Ende der Führungen befehlen, den toten Kämpfern Ehre zu bezeugen. „Den Kriegsopfern hier gebührt doch in erster Linie Mitleid, nicht Ehre“, sagt Schoenfeld. Die Kriegerehrenallee liegt verlassen. Nur der Specht klopft – als wolle er jemandem Schoenfelds Worte einhämmern.

Philipp Jarke und Steffen Kraft

Miteinander: Betreuen statt bevormunden

Wie auch verwirrte Menschen noch am Leben teilnehmen können

(aus Hinz&Kunzt 124/Juni 2003)

Rund 19.000 Menschen leben in Hamburg mit einem rechtlichen Betreuer – und jedes Jahr werden es rund 1000 mehr. Eine von ihnen ist Margret Berahn (Name geändert). Seit vier Jahren steht ihr bei allen rechtlichen, finanziellen und gesundheitlichen Angelegenheiten Gabriele Warner zur Seite. „Wie viel haben wir noch?“, fragt Frau Berahn, und Gabriele Warner antwortet: „6500 Euro. Anfangs hatten Sie 9500 Euro Schulden.“

Frau Berahn hat schon lange für vieles den Blick verloren – auch für Geld und dessen Bedeutung. „Ganz viel Miete“, erklärt Gabriele Warner, „und etliche Kredite hier und da.“ „Miete?“, fragt Frau Berahn, „nee, das war mir eigentlich nicht bewusst. Das war mir, ehrlich gesagt, scheißegal.“ Betreuerin Warner versucht jetzt, für sie die schwierige Balance zu wahren zwischen Schuldenabbau und den regelmäßigen Zahlungen für Miete und Strom. Sie überprüft den vom Pflegedienst durchgeführten Lebensmitteleinkauf und zahlt Frau Berahn Taschengeld.

Auch psychisch versucht die Betreuerin, Halt zu vermitteln. Margret Berahn ist Anfang 40 und hat mehrere Selbstmordversuche hinter sich. „Auf wie viele komme ich eigentlich, Frau Warner?“, fragt Frau Berahn nach einer Weile. Sie versucht sich zu erinnern, vergeblich. Gabriele Warner antwortet: „Seit ich Sie kenne, sind es bestimmt schon zehn gewesen.“

Die ausgebildete Juristin arbeitet seit 1997 hauptberuflich als Betreuerin hilfsbedürftiger Menschen. Sie und andere Betreuer helfen Menschen in seelischer Not, die überfordert sind durch die quälenden Anstrengungen des Lebens. Andere sind allein geblieben bei der Bewältigung des Alterns. Die Zahl dementer und psychisch kranker Menschen steigt, die ihr Leben ohne fremde Hilfe nicht mehr selbst gestalten können, was allgemein mit einer sich stetig verändernden Alters- und Sozialstruktur in der Bevölkerung erklärt wird.

Noch bis Ende 1991 konnte kurzerhand entmündigt werden, wer am Leben zu scheitern drohte oder es bereits war. Entmündigung bedeutete: „Vormünder“ bestimmten über das Leben ihrer „Mündel“. Der Wille dieser Menschen wurde nur noch wenig geachtet. Die Vermögensverwaltung stand im Vordergrund, die Gesundheitsvorsorge dagegen wurde oft vernachlässigt.

Betreuen statt bevormunden, so ließe sich die Zielsetzung des jetzt gültigen Rechts überschreiben – nicht mehr über andere Menschen entscheiden, sondern für sie. Die Betreuung soll der betreuten Person ein menschenwürdiges und selbstbestimmtes Leben ermöglichen, muss dabei deren Willen maßgeblich berücksichtigen. Und: Wer betreut wird, verliert nicht seine Geschäftsfähigkeit, darf weiterhin Verträge abschließen. Wer will, kann zum Beispiel auch heiraten. „Wir müssen rauskriegen, wo die jeweiligen Personen ihre Stärken haben“, sagt Gabriele Warner, „verbliebene Fähigkeiten können wir dann stärken. Und dort, wo fremde Hilfe erforderlich ist, organisieren wir zum Beispiel den Pflegedienst oder auch eine psychiatrische Betreuung.“ Man verstehe sich als Allround-Regler, beschreibt die Profibetreuerin sich und ihre Kollegen. Auch Margret Berahn weiß das zu schätzen.

„Frau Warner merkt das, wenn ich wieder schlecht drauf bin“, sagt sie, „dann kommt sie, und ich muss schnell ein paar Sachen einpacken. Und dann fahren wir sofort nach Ochsenzoll.“ Schon seit Jahren pendelt Frau Berahn vornehmlich zwischen Psychiatrie, Wohnheim und immer wieder auch eigener Wohnung. Eigentlich, bemerkt sie ganz überrascht im Gespräch, war ich jetzt schon lange nicht mehr in der Klinik. Das letzte Mal vor fast sieben Monaten.

Vormundschaftsgerichte haben über die Einrichtung von Betreuungen zu beschließen und jede einzelne spätestens nach fünf Jahren zu überprüfen. Das Gesetz weist vor allem der ehrenamtlichen Betreuung eine große Bedeutung zu. Angehörige, Verwandte, Nachbarn von Hilfsbedürftigen sollen so insbesondere bei einfacheren Fällen in die Verantwortung genommen werden, damit bei der Organisation von Pflege auch der emotionale und soziale Kontakt zur Umwelt nicht abreißt. Knapp die Hälfte der Hamburger Fälle wird deshalb ehrenamtlich betreut. Von diesen rund 9.500 Betreuungen wird wiederum die Hälfte privat im Familien- oder Freundeskreis vorgenommen; die andere Hälfte organisieren ehrenamtliche Betreuer unter der Regie von insgesamt acht Hamburger Betreuungsvereinen. Dennoch verbleiben nach Angabe der Sozialbehörde etwa 9.500 – oft schwerere – Betreuungsfälle, um die sich in Hamburg rund 450 Berufsbetreuer kümmern.

Im Grundsatz habe sich das Gesetz bewährt, heißt es in der Sozialbehörde. Allerdings: Die Kosten steigen immer mehr, so der Sprecher der Justizbehörde, über deren Etat die Berufsbetreuung finanziert wird. Etwa 22 Millionen Mark (11,3 Mio Euro) im Jahr 2001 gegenüber gut 10 Millionen Mark (5,1 Mio Euro) im Jahr 1998. Doch in Hamburg und Berlin wird schon an Änderungsvorschlägen gearbeitet. Ziel: Durch Vorsorgevollmachten und gesetzliche Vertretungsmacht sollen künftig nahe Angehörige dazu verpflichtet werden, für hilflose Menschen im eigenen Familienkreis selbst die Verantwortung zu übernehmen. Gewünschter Nebeneffekt: Deutliche Reduzierung der Ausgaben insbesondere für Berufsbetreuungen. Wer ehrenamtlich betreut, erhält eine jährliche Pauschale von 312 Euro. Die Arbeit von Berufsbetreuern kostet die Länder bis zu 31 Euro pro Stunde.

„Meistens“, sagt Gabriele Warner, die für den Betreuungsverein Hamburg-Nord arbeitet, „haben wir es mit Menschen zu tun, die sich im Blickfeld von anderen befinden.“ Menschen, die auch äußerlich auffällig sind, nachts beispielsweise durch Treppenhäuser irren oder auf der Straße leben. Oftmals kann man einfach nur Schadensbegrenzung betreiben, sagt sie. Aber wenn es gelinge, eine Wohnungskündigung zu verhindern, die nur deshalb ausgesprochen wurde, weil jemand verwirrt ist, dann habe man Gutes erreicht. „Wir wollen nicht zulassen, dass diese Leute als rechtlos dargestellt werden“, sagt Warner, „aber welche Hilfen auch immer wir veranlassen: Dadurch wird jemand nicht wieder jung und gesund. Er wird weiter er selbst sein.“

Peter Brandhorst

Miteinander: Nette Nachbarn

Wie Bürger im Münsterland den Zusammenhalt pflegen

(aus Hinz&Kunzt 124/Juni 2003)

Opa ist tot. Gedankenverloren wirft Florian den Ball immer wieder gegen die Hauswand. Sein düsterer Blick lässt das Ausmaß des Verlustes ahnen. Rosemarie Kehr nimmt den Zehnjährigen in den Arm und sagt: „Kommst du nachher zum Fest? Dein Großvater hätte sicherlich nicht gewollt, dass du nur traurig bist…“ Daniel schaut zu Boden und sagt leise: „Aber Opa ist gestorben – das geht nicht!“ – „Doch, das geht!“, sagt resolut die 52-Jährige, die manche hier auch „die Bürgermeisterin vom Markenkamp“ nennen. „Eine Stunde kannst du schon vorbeikommen. Grüß deine Eltern von mir, und sag ihnen, ich hätte das gesagt.“

Die Anwohner feiern ihr alljährliches Fest. Rund 120 Familien leben am Markenkamp, einer am Wald gelegenen Neubausiedlung am Rande der westfälischen Kleinstadt Haltern. 1984 wies die 37.000-Einwohner-Gemeinde das ehemalige Römer-Lager als Baugrund für Familien mit Kindern aus. Alle waren neu, kaum einer kannte den anderen. Bald organisierten Umtriebige wie Rosemarie Kehr oder Heribert Walfort das erste Fest. Ein Geist entstand, den der ehemalige Telekom-Abteilungsleiter und heutige Frühpensionär Walfort so beschreibt: „Man hilft sich gegenseitig, wenn jemand Hilfe braucht.“

Am Anfang ging es hauptsächlich um die Häuser und die Kinder. Wollte einer einen Balkon an seinem Haus anbauen, fragte er die Nachbarn. Und musste ein anderer in die Stadt zum Einkaufen, wusste er, wer auf die Kinder aufpassen wird. Doch bald schon warteten andere Herausforderungen auf die Menschen vom Markenkamp, „echte Härtefälle“, wie Rosemarie Kehr heute sagt. Ein halbes Jahr lang hat sie zum Beispiel einen Säugling versorgt, weil die Mutter nach der Geburt in Depressionen verfiel. „Da haben alle ringsherum geholfen“, erinnert sich die klein gewachsene Frau mit der großen Energie. Oder als sich die Eltern eines siebenjährigen Jungen scheiden ließen: Da kümmerte sich eine Nachbarin rührend um den Kleinen und sorgte dafür, dass es ihm gut ging in schlechten Zeiten.

Gelebte Nachbarschaft hat im Münsterland eine lange Tradition. Damals, vor gut 100 Jahren, waren Stadt und Land noch kaum zu unterscheiden. In den größeren Siedlungen waren es die Ackerbürger, die sich zu Brunnen- gemeinschaften zusammenschlossen, gegenseitig auf die Kinder aufpassten und auch sonst einander halfen. Nicht nur aus reiner Nächstenliebe, meint Hans-Josef Böing, Sozialdezernent der Stadt Haltern. „Es war zweckmäßig, sich zu verstehen, um sich nicht ums Wasser zu kloppen.“ Ähnlich verhielt es sich auf dem platten Lande, wo Heribert Walfort groß geworden ist. „Wenn du da keine Nachbarn hast, bist du aufgeschmissen.“ Einem Kalb etwa kann der Bauer nicht alleine auf die Welt helfen, und der Trecker wird billiger, wenn man ihn gemeinsam anschafft.

Um der Idee des Zusammenhalts eine möglichst verlässliche Form zu geben, entwarfen die Münsterländer sogar schriftlich fixierte Regelwerke. „Sinn und Zweck der Nachbarschaft liegen darin, dass alle Familien in friedlicher und freundschaftlicher Weise zusammenhalten. Dieser Grundsatz soll gelten in guten und schlechten Tagen, in Trauer, Freude und Leid“, heißt es etwa in der Satzung der „Nachbarschaft Johannesstraße“, die vergangenes Jahr ihr 50-jähriges Bestehen feierte. Wer dem Verbund beitreten will, muss einen Mitgliedsbeitrag bezahlen. Im Gegenzug kümmern sich Jahr für Jahr neu gewählte „Nachbarschaftsherren“ und „-knechte“ um die Organisation von Geburtstagsgeschenken, Krankenbesuchen und Beerdigungen. „Nachbarschaften haben den Reiz, dass sie das bieten, was man heute oft als Dienstleistung einkauft“, sagt Sozialdezernent Böing.

Doch eine Nachbarschaft ist mehr als ein soziales Hilfesystem, meint Heribert Walfort und erinnert an die vielen „schönen Momente“, die sie sich gegenseitig schon bereitet haben. Vor Jahren zum Beispiel kamen sie mal auf die Idee, einem Paar zur silbernen Hochzeit eine Play-Back-Show à la „Blues Brothers“ darzubieten. „Das kam so bombastisch an, dass es seitdem alle wollen.“ Oder die „Aida“-Geschichte: Da schenkte die Nachbarschaft einem anderen Jubiläums-Pärchen Karten für die Oper – und verkleidete sich zu diesem Anlass komplett als Römertruppe. „Das waren alles selbst gebastelte Kostüme“, sagt Rosemarie Kehr stolz. Etwa 15 Familien umfasst ihre Nachbarschaft. Vier Mal im Jahr machen sie gemeinsam einen Ausflug, etwa ins Bergwerk, einmal jährlich lädt eine Familie zur „Fete ohne Knete“, bei der das Buffet aus den Nachbarschaftsbeiträgen – 60 Euro pro Familie und Jahr – bestritten wird. Wohlgemerkt: „Niemand wird gezwungen“, sagt Heribert Walfort. Jener prominente Sportler etwa, der mit seiner Familie nebenan wohnt, bleibt lieber für sich, berichtet der Frührentner und sagt: „Man kennt die Eigenheiten. Und richtigen Ärger hat es hier noch nie gegeben.“ Im Balance-Akt zwischen Ansprüchen und Abgrenzungen müsse eben „jeder ein bisschen Gefühl dafür haben, wo die Grenzen sind“.

15 bis 20 Nachbarschaften gibt es allein in Haltern, wie viele es im gesamten Münsterland sind, weiß niemand. Die Zukunft aber ist ungewiss. „Wir wollen uns dieses Kleinod erhalten“, sagt Alfons Stock, derzeit Nachbarschaftsherr in der Halteraner Johannesstraße. Doch gehört in seiner Straße nur noch ein Drittel der rund 200 erwachsenen Anwohner zur Nachbarschaft, und die Zahl sinkt. Alfons Stock meint den Grund zu kennen: „Viele Mietwohnungen, hohe Fluktuation.“ Ins gleiche Horn bläst auch Sozialdezernent Böing: „Eine Nachbarschaft in der Großstadt kann ich mir kaum vorstellen. Schon in Münster gibt es so etwas nicht mehr.“

Diese Erfahrung hat auch Sabrina gemacht, die 23-jährige Tochter von Rosemarie Kehr. Wegen des Studiums wohnt sie unter der Woche neuerdings in der Stadt, in einer Dreier-WG im Mehrfamilienhaus. „Eine Nachbarin dort ist meine beste Freundin, sonst hab ich mit den Leuten nichts zu tun“, erzählt sie. Allerdings, sagt Sabrina, vielleicht liegt das auch daran, „dass ich hier im Markenkamp ja immer noch meine Leute habe“. Zudem sei das auch eine Frage des Alters. „In zehn Jahren wird das anders sein. Das ist so ein innerer Drang: Meine Mutter ist so, und ich bin so.“ Gut möglich also, dass die junge Frau bald eine neue Nachbarschaft stiften wird.

Ulrich Jonas

Neue Chancen

Der City-Service verbindet Arbeit für Sozialhilfeempfänger mit besserem Service für alle

(aus Hinz&Kunzt 124/Juni 2003)

Dieser Mann hat eine passende Aufgabe. „Ich bin ein kommunikativer Mensch“, sagt Alain. „Mir macht es Spaß, jeden Tag mit Leuten zu reden, ihnen zu helfen und ab und zu meine Fremdsprachenkenntnisse auszuprobieren.“ Der 53-jährige gebürtige Franzose arbeitet seit neun Monaten beim City-Service. Gemeinsam mit seinen Kollegen – allesamt ehemalige Sozialhilfeempfänger – läuft der frühere Lagerarbeiter Tag für Tag durch die Innenstadt, hilft Passanten und erledigt auch Auftragsarbeiten für Geschäftsleute. 938 Euro brutto bekommt er dafür im Monat.

Zwei Jahre ist es her, dass das Arbeitsprojekt für Sozialhilfeempfänger an den Start ging. Mit dem City-Service wollte Ideengeber Hinz & Kunzt mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen: Menschen ohne Chancen auf dem Arbeitsmarkt sollten Berufspraxis sammeln und sich gleichzeitig qualifizieren können. Und Kunden und Kaufleute sollten vom neuen Service-Angebot in der Innenstadt profitieren. Projektleiter Jürgen Bortchen vom Träger „Beschäftigung und Bildung“ (b+b) zieht zufrieden Bilanz: „Es läuft so wie gedacht.“

]25 Menschen bietet der City-Service derzeit eine neue Chance. Ein Jahr lang beraten sie Touristen und Passanten auf den Straßen, verteilen Flyer im Auftrag des City-Managements, bewachen Ausstellungen in der St. Jacobi-Kirche, erledigen Büroarbeiten für die Hamburger Hochbahn AG oder reinigen den Gertrudenkirchhof im Auftrag der Landesbank. Gleichzeitig qualifizieren sie sich weiter: Fred zum Beispiel, früher Hinz & Kunzt-Verkäufer, will den Staplerschein machen und einen EDV-Kurs besuchen, denn er weiß: „Sonst habe ich keine Chance auf einen Job.“

Immerhin jedem vierten der ehemaligen Hilfeempfänger gelingt der Sprung in den ersten Arbeitsmarkt, so Projektleiter Bortchen – etwa als Museumsaufsicht, Restaurant-Bedienung oder Versicherungsangestellter. „Die anderen rutschen wieder in die Arbeitslosigkeit – aber sie sind wenigstens keine Sozialhilfeempfänger mehr, da sie Versicherungsbeiträge eingezahlt haben.“ Zudem habe „mancher wieder eine Wohnung bekommen, nachdem er bei uns angefangen hat“.

Bortchen hofft auch auf „Klebeeffekte“ bei den Kaufleuten der City: Eine seiner Mitarbeiterinnen zum Beispiel steht auf der Personal-Warteliste eines Kaufhauses, nachdem sie dort ein Praktikum gemacht hat. Wer beim City-Service eine Chance bekommt, entscheidet neuerdings vor allem die städtische Beschäftigungsgesellschaft Hamburger Arbeit (HAB). Seitdem die Behörde ihr Ein-Euro-Programm aufgelegt hat – Sozialhilfeempfänger machen drei Monate Praktikum und bekommen dafür einen Euro die Stunde zusätzlich zur Stütze – kann nur beim City-Service beginnen, wer das HAB-Praktikum geleistet und so seine Arbeitsbereitschaft bewiesen hat. Immerhin: Innerhalb dieser Zeit können die Kandidaten testen, ob der Job ihnen liegt.

Der 37-jährige Hans-Joachim findet das gut. „Zu lange“ habe er von Sozialhilfe gelebt, bis er eines Tages zum Amt gegangen sei und gesagt habe: „Ich will was machen!“ Was im Herbst aus ihm werden wird, wenn das Jahr um ist, weiß der Ungelernte noch nicht: „Ich werde mich von den Stellenangeboten inspirieren lassen“, sagt er. „Ohne Ausbildung werde ich ja nehmen müssen, was ich kriege.“ Nachdem die Stadt – die Sozialbehörde zahlt pro Beschäftigten 38.200 Euro im Jahr – seit Januar fünf neue Arbeitsplätze beim City-Service finanziert, ist Projektleiter Bortchen um die Zukunft nicht bange. „Wir erwirtschaften immer mehr Geld selbst.“

Acht Euro die Stunde pro Mitarbeiter berechnet der City-Service für seine Dienstleistungen, und die Nachfrage wächst: 18.000 Euro kamen im Startjahr 2001 zusammen, 24.000 Euro waren es 2002, im laufenden Jahr sollen es gar 35.000 Euro werden. Dass dieses Ziel realistisch ist, bestätigt City-Manager Henning Albers, Sprecher der Geschäftsleute in der Innenstadt: „Die gute Qualität der Arbeit wird von der Kaufmannschaft sehr geschätzt.“ Das Projekt nehme anderen die Arbeit weg, monierten Kritiker wie die Sozialpolitische Opposition vor zwei Jahren. Projektleiter Bortchen sieht diese Befürchtung nicht bestätigt. „Büro- und Fassadenreinigung zum Beispiel lehnen wir gleich ab. Und die Stadtreinigung fährt ja weiterhin jeden Morgen durch die Spitaler Straße.“

Für Mitarbeiter wie den Ex-Hinz & Künztler Fred sind solche Fragen eher zweitrangig. Er ist gerade zum Teamleiter aufgestiegen. Seitdem ist der Ungelernte verantwortlich für die Einsätze seiner zehnköpfigen Gruppe. „Andere Leute scheuchen macht immer Spaß“, sagt Fred und lacht. Alain findet, dass sein Kollege das gut macht: „Er ist nett. Hart, aber gerecht.“

Ulrich Jonas

Nr.3: Sozialticket muss bleiben!

Zehn Jahre Hinz&Kunzt – zehn Geburtstags-Forderungen

(aus Hinz&Kunzt 124/Juni 2003)

Darum geht es:

Die Sozialbehörde will rund 3,3 Millionen Euro sparen und Ende des Jahres das Sozialticket abschaffen. Bislang nutzen rund 20.000 Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose in Hamburg die Monatsfahrkarte, für die sie monatlich 15,50 Euro bezahlen; die Sozialbehörde zahlt 13,25 pro Karte Verlustausgleich an den HVV. Nutzbar ist das Ticket in ganz Hamburg, allerdings außerhalb der Hauptverkehrszeiten.

Die Begründung:

Das Sozialticket muss unbedingt erhalten bleiben, denn es hat sich bewährt. Wir befürchten, dass die Zahl der Schwarzfahrer sich wieder erhöhen wird, weil sich viele eine CC-Karte für 27 Euro (22 Euro im Abo) nicht leisten können. Schließlich machen dann die Fahrkosten 9,2 bzw. 7,5 Prozent der Sozialhilfe aus (voller Satz: 293 Euro). Wer kein Konto hat, kann die CC-Karte auch nicht abonnieren. Und die CC-Karte gilt sowieso nur in drei Zonen.

Der Hintergrund:

Die Sozialbehörde will mit der Abschaffung des Sozialtickets rund 3,57 Millionen Euro sparen. Ein kleines Minus kalkuliert sie für den erhöhten Verwaltungsaufwand ein: rund 300.000 Euro. Der Hilfeempfänger muss nämlich für jede Fahrt einen Antrag stellen: weil er zum Arzt muss oder sich bei einem potentiellen Arbeitgeber bewirbt. Ein ziemlich aufwändiges Verfahren. Die Kritiker glauben deshalb nicht, dass die Behörde mit einkalkulierten Summen hinkommt. „Unterm Strich wird kein Cent gespart“, so Dorothee Freudenberg, die sozialpolitische Sprecherin der GAL.

„Es ist doch völliger Blödsinn, die Mitarbeiter jetzt Anträge auf einzelne U-Bahn-Karten bearbeiten zu lassen“, kritisiert auch Petra Brinkmann, sozialpolitische Sprecherin der SPD. „Das widerspricht dem von der CDU forcierten Ziel, möglichst viele Leistungen der Sozialhilfe pauschal zu bezahlen.“

Ein weiterer Punkt, warum Rot-Grün das Ticket 1998 beschloss, übrigens auf Anregung von Hinz & Kunzt und anderen sozialen Einrichtungen: die Zahl der notorischen Schwarzfahrer, die nur deshalb im Knast saßen (und somit wieder das Stadtsäckel belasteten), weil sie ihre Geldstrafe nicht bezahlen konnten (siehe S.4/5). Laut Sozialbehörde hat sich die Einführung des Sozialtickets auf die Gesamtzahl der Schwarzfahrer nicht signifikant ausgewirkt. Aber es gibt überhaupt keine Statistik darüber, wie viel Prozent der früheren und heutigen Schwarzfahrer Sozialhilfeempfänger waren. Die Erfahrungen von Hinz & Kunzt: „Seit der Einführung des Tickets habe ich kaum neue Fälle von Schwarzfahrerei bearbeiten müssen“, sagt Anwältin Maria Peter, die Hinz & Künztler vertritt. „Jetzt befürchte ich, dass das Ganze wieder von vorne losgeht.“

Ein anderer Grund, warum Rot-Grün das Sozialticket befürwortet – damals wie heute: „Wer wieder Arbeit sucht, muss mobil sein“, sagt die Sozialdemokratin Petra Brinkmann. Dass die Hilfeempfänger für jede Fahrkarte einzeln zum Sozialamt gehen und dort einen Antrag stellen müssen, findet sie nicht nur bürokratisch, sondern auch für die Betroffenen nicht praktikabel. „Vielleicht baut die Senatorin darauf, dass Sozialhilfeempfänger gar nicht erst Anträge auf Einzelfahrten stellen“, so die sozialpolitische Sprecherin. „Das wäre unredlich.“

Außer sparen bezweckt die Sozialbehörde auch noch, „die Besserstellung von Menschen im Sozialhilfebezug gegenüber Menschen mit geringerem Einkommen“ zu beenden. Allerdings gibt es da einen kleinen Denkfehler. Jeder Arbeitnehmer kann seine Monatsfahrkarte bei der Steuererklärung geltend machen.

So müsste es laufen:

Wir fordern, dass die Sozialbehörde das Sozialticket weiter subventioniert. Aber wir fordern auch den HVV auf, der Behörde ein besseres Angebot zu machen. Schließlich dürfte die Sozialbehörde bei derzeit 20.000 Nutzern einer der größten Kunden sein.

Birgit Müller

Schwitzen statt sitzen

Wie man auf einen Schlag Geld sparen und Straftäter resozialisieren kann

(aus Hinz&Kunzt 124/Juni 2003)

In der Tagespflege Poppenbüttel ist alles tipptopp in Schuss. Dafür sorgt Hausmeister Aarao Teixeira. „Der Mann sieht die Arbeit, dem muss man sie nicht hinterhertragen“, sagt sein Chef, Ekkehard Janas, über den Portugiesen. Als Janas merkte, dass der 45-Jährige „goldene Hände hat“, stellte er ihn vom Fleck weg ein. Ein Glücksfall für beide, aber vor allem für Teixeira. Der hatte bis dahin in der Poppenbütteler Einrichtung für Demente gemeinnützige Arbeit geleistet, weil er eine Geldstrafe nicht bezahlen konnte.

„Ich war gerade am Tiefpunkt meines Lebens angekommen und wusste nicht mehr, wie es weitergehen sollte“, sagt er über die Zeit, „die glücklicherweise hinter mir liegt“. Teixeira gehört zu den Menschen, die im vergangenen Jahr kleinere Delikte begingen wie Ladendiebstahl oder Schwarzfahren. Solche Straftäter werden meist nicht zu einer Haftstrafe verdonnert, sondern sollen bezahlen. Und das ist im Prinzip auch gut so. Aber viele Täter haben das Geld nicht – und landen dann doch im Knast. Das bringt kein Geld ins Stadtsäckel, sondern kostet obendrein: mindestens 90 Euro pro Tag. Ganz zu schweigen davon, dass die Gefängnisse sowieso überfüllt sind.

Wesentlich sinnvoller ist es deshalb, dass die Täter schwitzen statt sitzen. Und das tun sie seit Jahren und immer häufiger. Im Jahr 2001 arbeiteten Straftäter 20.540 Hafttage ab, im Jahr 2002 sogar 22.340. So wanderten 820 Menschen, die ihre Geldstrafe nicht bezahlen konnten, nicht in den (teuren) Knast, sondern leisteten gemeinnützige Arbeit. „Dadurch hat Hamburg zwei Millionen Euro eingespart“, sagt Justizsenator Roger Kusch (CDU). Gleichzeitig biete diese Sanktion die Möglichkeit, „sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren.“

Genau das hat Aarao Teixeira geschafft. Der 45 Jahre alte gelernte Präparator hatte vergangenes Jahr eine regelrechte Pechsträhne. Alles fing damit an, dass er seinen alten Betrieb verkaufen und zusammen mit seiner Familie ein Café eröffnen wollte. Doch der Käufer zahlte nicht, und Teixeira hatte nicht das Geld, um das Café zu bezahlen oder gar zu eröffnen. Der Traum vom Familienbetrieb platzte wenige Wochen später sowieso: Seine Frau trennte sich von ihm.

„Mir wuchs alles über den Kopf“, sagt Aarao Teixeira. „Fast hätte ich alles hingeschmissen.“ Seine Briefe aufzumachen, das traute sichTeixera schon lange nicht mehr. „Ich hatte immer Angst, das da nur neue Rechnungen drin sind, die ich nicht bezahlen kann.“ Aber es kam noch dicker: Aarao Teixeira fuhr bei Rot über eine Ampel – und da er seine Post nicht mehr öffnete, bemerkte er erst spät, zu spät, dass er eine Geldstrafe bezahlen sollte. Weil er wochenlang nicht reagierte, wurde er per Haftbefehl gesucht. Sein Schwager überzeugte ihn davon, dass er nicht weiter vor der Situation davonlaufen dürfe. „Also ging ich mit einem Köfferchen zur Polizei und stellte mich.“
Und dann fuhr er noch bei Rot über eine Ampel

Teixeira hatte Glück im Unglück. Er bekam noch eine Chance: Statt ihn in den Knast zu schicken, erzählte der Staatsanwalt ihm von der Möglichkeit, gemeinnützige Arbeit zu leisten. Richtig glücklich war der gebürtige Portugiese, dass er sogar unter mehreren Einrichtungen wählen konnte. Er entschied sich für die Tagespflege Poppenbüttel. „Ich hatte das Gefühl, dass die mich brauchen können“, sagte Teixeira. Inzwischen fühlt er sich dort so wohl, „dass ich am liebsten von hier aus in Rente gehen würde“.

Übrigens ist das in der Tagespflege Poppenbüttel schon der zweite Fall, in dem gemeinnützige Arbeit statt Knast in eine Festanstellung mündete. Und das, obwohl Tagespflege-Leiter Janas keinen Schmusekurs fährt: „Wer nicht mitarbeitet oder nicht reinpasst, ist auch schnell wieder draußen.“

So ein Happy End wie bei Teixeira ist natürlich selten. Aber auch die kleinen Erfolge sind es wert, lieber zu schwitzen als zu sitzen. „Viele Langzeitarbeitslose kommen völlig geduckt hier an“, sagt Halka Voss, in der Justizbehörde mit zuständig für die Vermittlung von gemeinnütziger Arbeit, „und wenn sie wieder gehen, sind sie zehn Zentimeter größer, weil sie etwas erreicht haben.“ Die gemeinnützige Arbeit habe für einige „regelrecht eine therapeutische Wirkung“.

Keine Frage: Die Hamburger Zahlen sind gut, aber es könnte noch besser sein. Denn bisher werden die zahlungsunwilligen oder -unfähigen Täter erst angeschrieben, wenn ihre Zahlung nicht erfolgt ist. Angeschrieben, wohlgemerkt. Hätte der Staatsanwalt Aarao Teixeira nicht von der gemeinnützigen Arbeit erzählt, wäre er nie in der Tagespflege, sondern doch hinter Gittern gelandet. Und so ergeht es einer ganzen Reihe von Menschen. Denn die meisten Nicht-Zahler haben oft massive Probleme, ihr Leben auf die Reihe zu bekommen – und dazu gehört oft, dass sie aus Angst ihre Post gar nicht lesen.

Gesetz zur gemeinnützigen Arbeit lässt auf sich warten.

Die ehemalige Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin SPD) brachte unter anderem deshalb einen Gesetzesentwurf auf den Weg, um gemeinnützige Arbeit alternativ zur Geldstrafe als eigenständige Sanktion zu verhängen. Ob rechts oder links – die meisten Justizminister unterstützten sie darin. Dass man von dem Entwurf momentan wenig hört, liegt daran, dass er in der vergangenen Legislaturperiode nicht über die erste Lesung im Bundesrat hinauskam. Aus formalen Gründen muss das Gesetz jetzt neu eingebracht werden.

So bleibt es bislang dabei, dass der Richter bei der Verurteilung den Delinquenten auf die Möglichkeit zur gemeinnützigen Arbeit nur hinweist. Nur wirklich fitte Leute schaffen es, sich in der Justizbehörde direkt bei der Abteilung Soziale Dienste zu melden, die die gemeinnützige Arbeit vermittelt.

Vielleicht wissen noch zu wenige, dass sie dort nicht nur Strafe, sondern auch Hilfe erwartet. Denn die Sozialarbeiterinnen versuchen zumindest, in Notfällen an soziale Einrichtungen und Beratungsstellen weiterzuvermitteln. Und was die gemeinnützige Arbeit anbelangt, haben die Mitarbeiterinnen einen großen Ehrgeiz: „Wir achten darauf, dass jeder dahin kommt, wo er seinen Fähigkeiten und Interessen gemäß am meisten gebraucht wird“, sagt Sozialarbeiterin Halka Voss.

Das müsste eigentlich auch klappen. Immerhin kann man in Hamburg in 400 sozialen, kirchlichen oder staatlichen Einrichtungen mitarbeiten. Und vielleicht geht es dem einen oder anderen ja so wie Aarao Teixeira: „Meine Probleme sind natürlich noch nicht alle gelöst“, sagt der Hausmeister. „Aber ich habe wieder Halt und Zuversicht gewonnen. Ich werde es jetzt schon schaffen.“

Birgit Müller

Solo für zwei

Die Zwillinge Otto und Jirí Bubenícek tanzen bei John Neumeier

(aus Hinz&Kunzt 124/Juni 2003)

Da weiß man doch sofort, welcher der Zwillingsbrüder Bubenícek welcher ist: Der da im blauen T-Shirt, der da so ruhig und manierlich mit seinen Tänzerkollegen am Kantinentisch sitzt und parliert, muss Otto sein, Erster Solist am Hamburg Ballett, Entdeckung von John Neumeier. Und der da, der gerade reinkommt, sich schwungvoll hinsetzt und gleich den ganzen Tisch zum Lachen bringt, ist natürlich sein Zwillingsbruder Jirí, ebenfalls Erster Solist am Hamburg Ballett und natürlich auch eine Entdeckung von John Neumeier. Denn Otto, so weiß der Experte, ist der Zurückhaltendere von beiden, der oft die melancholischeren oder tieferen Rollen bekommt, Jirí der Quirligere, der jetzt auch eigene Choreografie-Projekte hat.

Pustekuchen, natürlich ist es genau umgekehrt. Aber später beim Gespräch in der Bibliothek des Ballettzentrums rückt alles wieder an seinen Platz. Jirí, der gerade eine Miniskusoperation hinter sich hat, trommelt mit den Fingern auf die Tischplatte, antwortet schnell und man spürt, da will einer ganz schnell wieder auf die Bühne. Otto dagegen sinniert den Bruchteil einer Sekunde länger – und kommt deswegen oft nicht ganz so schnell zu Wort.

Zehn Jahre sind die 28-jährigen eineiigen Zwillinge jetzt bei John Neumeier in Hamburg. Der Ballettchef hatte die Brüder einige Zeit zuvor bei einem Wettbewerb in Lausanne entdeckt. Neumeier saß mit in der Jury, die beiden gewannen den ersten Preis, und Neumeier bot ihnen an, in seine Ballettschule nach Hamburg zu kommen. Aber die beiden zeigten gutes Selbstbewusstsein. „Wir gingen in Prag schon auf eine gute Schule“, sagt Jirí. „Die wollten wir zu Ende machen.“

Nach dem Konservatorium, beide waren inzwischen 18 Jahre alt, fragten sie nochmal bei Neumeier an und wurden ins Ensemble aufgenommen. Wieder mal ein Abschied. Das kannten die Gebrüder Bubenícek schon seit ihrer Kindheit. Otto fiel er immer besonders schwer.

Die beiden Brüder stammen aus einer tschechischen Zirkusfamilie. Bis sie acht Jahre alt waren, fuhren sie mit ihren Eltern, Akrobaten, mit den anderen Artisten und Tieren durch die Lande. Unterrichtet wurden sie mit acht anderen Kindern in einer Art Zwergenschule. „In der ersten Reihe saßen die Erstklässler, in der zweiten die Zweitklässler, in der dritten die Drittklässler“, zählt Jirí auf. Und so weiter. Für die Geschwister gabs allerdings kein Undsoweiter, sondern ihren ersten großen Abschied. Sie sollten auf eine richtige Schule gehen – und tanzen lernen. „Darauf legte unser Vater großen Wert“, sagt Jirí. Ballett galt zumindest in ihrer Familie nicht etwa als affektiert und als nur etwas für Mädchen. „Unser Vater war der Meinung, dass man so am besten eine elegante Haltung und Körperbeherrschung lernt.“

Richtig Lust dazu hatten die Jungs zuerst trotzdem nicht, denn sie mussten ihr Zirkusleben aufgeben und nach Prag zu ihrer Großmutter übersiedeln. „Das war zwar toll“, sagt Otto, aber er erinnert sich immer noch daran, dass die Eltern mal fünf Monate lang auf Tournee in Japan waren. „Ich hab sie schon sehr vermisst.“

Trotzdem: Das Tanzen wurde zur großen Leidenschaft. Prag zu verlassen und weg in die große Welt zu gehen, „war immer unser Traum“, sagt Jirí heute. Unbekümmert sagt er das. Auch den Umzug in den Westen hat er gut gewuppt. „Ich habe gerade anfangs meine Freunde sehr vermisst“, sagt Otto. „Und auch, dass ich nicht mehr in meiner Sprache sprechen konnte.“

Nicht nur in dieser Zeit waren sich die beiden eine große Stütze. Schließlich verbringen sie den ganzen Tag in der Ballettschule zusammen. Getrennt waren die Brüder höchstens mal für einen Monat. In den Ferien. Und selbst da reißt die innere Verbindung nicht ab: Vor ein paar Jahren waren sie beide – wieder mal – getrennt im Urlaub. Otto in Monte Carlo und Jirí in Florida. „Wir riefen gleichzeitig bei unserer Mutter an, der eine auf der einen Leitung, der andere auf der anderen, um sie zu fragen, wie es dem jeweils anderen geht.“ 

Wohnen tun die beiden allerdings nicht zusammen. Otto lebt in der Nähe der Schule in Hamm, Jirí in Winterhude. Und worauf alle Geschwister neidisch sein können: „So etwas wie Eifersucht gibt es zwischen uns nicht“, sagt Jirí, und sein Bruder nickt. Nicht mal in puncto Frauen. „Wir haben einen unterschiedlichen Geschmack“, sagt Otto. „Jirí hat immer ruhigere Freundinnen, ich eher verrückte.“ Davon hat Otto allerdings gerade genug. „Ich bin momentan Single.“ Natürlich streiten sich die beiden auch mal, „allerdings nur über die Arbeit.

Wir sind schließlich zwei ganz unterschiedliche Persönlichkeiten.“ Und selbst eine Trennung können sich die beiden vorstellen. „Wenn wir beide Frauen haben“, sagt Otto. „Es ist schließlich leichter, nur für zwei Menschen zu entscheiden als für vier.“ Jirí hofft, dass das bald der Fall sein wird. Er wünscht sich eine Familie. Und: „Ich bin auch bereit, mein eigenes Leben zu leben. Und ich glaube jetzt schon manchmal, dass wir ein zu enges Verhältnis haben.“

Auf der Bühne allerdings kann es beiden nicht eng genug sein. „Ich will nicht besser sein als Otto“, sagt Jirí über gemeinsame Auftritte. „Aber ich will ihm ganz nah sein, nur mit ihm kann ich eine richtige Harmonie herstellen“, sagt er. „Deswegen können wir hervorragend synchron tanzen.“ Besonders macht sich das beim Pas de Deux bemerkbar. „Das ist schon sehr speziell“, sagt Jirí. Nicht zuletzt deshalb, weil diese Schrittfolge für Zwei normalerweise ein Mann und eine Frau tanzen.

Vorerst allerdings freuen sich die Brüder auf ihren Wiedereinstieg ins aktive Tanzen. Denn nicht nur Jirí war krank, sondern, wie es sich für einen Zwilling gehört, auch Otto. Wenn er auch etwas völlig anderes hatte: eine Entzündung am Fuß. In „Peer Gynt“ wird Otto den Eros tanzen und sein Bruder die Aggression. „Eine Pause, wie wir sie jetzt hatten, ist manchmal ganz wertvoll“, sagt Jirí. „Denn wer tanzt, lebt manchmal zu wenig – und ist erschöpft.“

Dazu braucht man unbedingt ein Privatleben. Dabei ist es ganz nützlich, dass die beiden auf der Straße nicht unbedingt erkannt werden. Nicht so wie eine von Ottos Freundinnen: eine gewisse Juliette, Ex-Superstar, die früher übrigens auch mal im Ballettzentrum tanzte. „Die muss jetzt ständig Autogramme geben“, sagt Otto. „Wer ein Privatleben hat, bekommt wieder neue Impulse“, sagt Otto und folgt Jirí in den Übungsraum. „Und wer erfüllt ist, dem merkt man das auch auf der Bühne an.“

Birgit Müller

Das Fest im Meer

Der Komponist Jörn Arnecke zur Uraufführung seiner ersten Oper – und über den Klang der Wirklichkeit

(aus Hinz&Kunzt 124/Juni 2003)

Plötzlich, ein magischer Moment. Mitten in diesem vollkommen unglamourösen Probenraum, wo Kreidelinien noch nicht mal ahnen lassen, wie später das Bühnenbild aussehen wird, wo das Licht hart ist und die Luft verbraucht, wo es natürlich noch kein Orchester gibt und das ganze „Fest im Meer“ noch als ein ziemlich loses Gebilde erscheint aus Texten und Tönen. Trotzdem: Als die beiden Mezzosoprane ein Duett anstimmen, als dann der Rest des Ensembles einfällt – da ereignet sich das Wunder Oper. Im Gesang erzählen die Stimmen etwas von unserem Leben, das in Worten allein nicht zu fassen ist.

In der Ecke, hinter der Pianistin, dem Dirigenten und dem Regisseur, sitzt still lächelnd derjenige, der maßgeblichen Anteil hat an diesem Wunder: Jörn Arnecke, 29, Komponist. Er widerspricht so ziemlich jedem Wunderkind- oder Wirrkopf-Klischee, das man über diesen Beruf haben kann. Schmal, blond, freundlich, unprätentiös wie seine verwaschenen Jeans. Einer, der mit dem Fahrrad fährt, gerne mit seiner Freundin ins Kino geht, interessiert Zeitung liest und über Politik diskutiert.

So wie andere in diesem Alter eben, nur dass Jörn Arnecke als Zehnjähriger begann zu komponieren: „Weil meine große Schwester Klavier spielte, wollte ich das auch lernen, und dabei habe ich dann auf meinem Keyboard angefangen so rumzuprobieren, was schön klingt.“ Er erzählt das, wie andere von ihrer Modellbauleidenschaft sprechen, und offenbar war es auch so – spielerisch und frei. „Da gab es keinerlei Erwartungsdruck, meine Eltern haben mir einfach einen geschützten Raum geboten, für den ich ihnen heute noch dankbar bin.“ So wie andere Kinder sich ihre eigene kleine Fußball- oder Eisenbahnwelt aufbauen, war es bei ihm die Musik – und in dem Maße, wie er sich im Leben entwickelte, habe es auch seine Musik getan. „Sie hat mich als Person bestärkt und auch von bestimmten Hemmungen befreit.“

Konsequent freiwillig bekam er zuerst Unterricht beim Kirchenkantor seiner Heimatstadt Hameln, nach dem Zivieldienst studierte er an der Hamburger Musikhochschule Komposition und Musiktheorie, später war er Stipendiat am Pariser Conservatoire National Supérieur. Er gewann mehrere bedeutende Nachwuchs-Preise, unter anderem bei der Komponisten-Werkstatt der Hamburgischen Staatsoper, die ihm anschließend den Auftrag erteilte, eine Oper zu komponieren.

Am Anfang stand eine Romanvorlage, ausgewählt von dem jungen Regisseur Christoph von Bernuth, mit dem der Komponist schon früher zusammengearbeitet hat. Daraus wurde ein Libretto geschrieben – die endgültige Textfassung für die Oper. Die zeitgenössische Geschichte „Das Fest im Meer“ kommt Jörn Arneckes Anspruch entgegen, neue Kompositionen müssten sich mit „unserer Wirklichkeit“ befassen. Damit meint er nicht nur offensichtliche Bezüge wie das Thema HIV, sondern Grundsätzliches: „Wie treffen wir heute Entscheidungen, wenn wir ständig mit unzähligen Möglichkeiten konfrontiert sind – das fängt ja schon im Joghurtregal an. Wie definieren wir Liebe, und was sind wir bereit, dafür zu tun? Wie finden wir zu einer wahrhaftigen Haltung? Solche Fragen versuche ich in Musik umzusetzen.“

Er vermeidet Phrasen, wenn er über solche Dinge spricht, sucht nach präzisen Formulierungen. So sorgfältig, wie er auch beim Komponieren nach den treffenden Tönen sucht. Dabei fühlt er sich keiner bestimmten „Schule“ oder irgendeinem Trend verpflichtet. Allerdings legt er, anders als viele zeitgenössische Komponisten, besonderen Wert auf die menschliche Stimme, „vielleicht, weil bei uns zu Hause viel gesungen wurde“.

Ansonsten zählt für ihn nur, „kein billiges Gefühl zu vermitteln und keine Klischeefolien zu verwenden“ – was in einer so lauten Welt, in der so ziemlich jede musikalische Äußerung irgendwann als Werbe-Jingle recycelt oder zumindest als Cover-Version verbraten wird, eine schwere Aufgabe ist. „Genau deshalb brauchen wir Komponisten, die unverbrauchte Klänge finden“, sagt Jörn Arnecke entschieden, „und die brauchen zuerst einmal Stille.“

Das meint er ganz wörtlich. Während er komponiert, hört er keine andere Musik, stöpselt das Telefon aus und zieht sich auch schon mal in ländliche Einsamkeit zurück. Doch im Alltag geht er dafür als ein Hörender durch die Welt, sammelt Geräusche und Klänge wie andere Menschen Gerüche oder Bilder. „Das ist natürlich häufig Musik, vor allem Klassik, manchmal auch Pop, aber auch Stimmen von Menschen, oder etwas ganz Banales wie das nächtliche Klacken meines Heizungsrohrs.“

Für Jörn Arnecke war dieser Auftrag vor allem „ein großes Glück“. Aber natürlich ist es für einen jungen Komponisten auch ein enormer Karriereschritt, der dazu verführen könnte, ein paar Effekte einzubauen, um die Fachwelt zu beeindrucken. „Natürlich nutzt man die Chance zu zeigen, was man handwerklich drauf hat“, sagt er, „aber die Versuchung, sich da eine Visitenkarte zu schreiben, sinkt, je weiter man ins Komponieren eintaucht. Dann entwickelt es seinen eigenen Sog“, beschreibt er die Arbeit der letzten anderthalb Jahre.

Bei einem so langen Werk wie „Das Fest im Meer“ müsse man erst ein Gerüst schaffen, einen Anfang und einen Schluss finden und für jede Figur einen Grundklang komponieren – „ähnlich wie ein Architekt. Und wenn man das hat, bewegt man sich von Zimmer zu Zimmer weiter und schmückt es aus.“ Sehr einsame Gänge seien das, oft voller Zweifel und offener Fragen, sagt Jörn Arnecke, „aber ich kann mir nichts anderes vorstellen, mit dem ich so ausgefüllt wäre.“ Um so mehr habe er die anschließende Probenzeit genossen, wo Dirigent und Regisseur, Orchester und vor allem die Sänger zum Leben erwecken, was bis dahin nur eine Idee war: „Wenn sich die Intensität, die man beim Komponieren angestrebt hat, bestätigt, wenn die Töne plötzlich etwas enthalten, was man vorher selbst nicht gewusst hat, dann geht einem schon das Herz auf.“ Magische Momente, wie sie nur die Musik bereithält.

Sigrun Matthiesen