Barbaras Hummer-Welt

Eine Entdeckungsreise in die Keller des Fischmarkts

(aus Hinz&Kunzt 123/Mai 2003)

Hein Gas präsentiert die Dart-Reportage: Hamburg hat viele unbekannte Ecken. Mit Häusern voller Geschichte und Menschen mit besonderen Lebensläufen. Um sie zu finden, werfen die Reporter einen Dartpfeil auf den Stadtplan. Die Geschichten erzählen von viel menschlicher Wärme oder dem Mangel daran. Diesmal: die Große Elbstraße.

Benommen von der fischigen Salzluft, stolpere ich ziellos zwischen pompösen Designer-Bauten und tristen, schäbigen Häusern durch die Große Elbstraße. Ein Lkw donnert dicht an mir vorüber. Achtern teilt ein Ozeanriese majestätisch das Elbwasser in Back- und Steuerbord. Kreischende Möwen streiten über seiner Heckwelle um aufgewirbelte Fischfetzen.

Am gegenüberliegenden Hafenkai rollen hochbeinige Containerbrücken, wie von Geisterhand gesteuert, exakt über blaue Eisencontainer. Doch den Star dieser Reportage sehe ich nicht. Denn Barbara Pötke arbeitet unter Land, im Keller XII des Altonaer Fischmarkts. Nur wenige Meter unterhalb der Fischbaracken-Tristesse beginnt hier eine andere Welt: die Welt der Barbara Pötke. Die Welt der Hummer.

Es ist mehr Zufall, dass ich ausgerechnet die Treppe zur Großen Elbstraße 210 erklimme. Und großes Glück, dass mich Betriebsleiter Jörg Pöhlmann mit „Hummer-Bärbel“, wie sie von ihren Kollegen gerufen wird, bekannt macht: „Unsere Barbara ist genau die Richtige für Sie. Eine absolute Koryphäe. Selbst die renommierte Hummeraufzuchtstation auf Helgoland bittet sie immer wieder um Rat.“

Wer Bärbel bei der Arbeit zusieht, dem wird schnell klar, warum sie als Expertin gilt. Denn nicht nur ihre 28-jährige Erfahrung mit Hummern beim Fischgroßhändler Goedeken begründet ihre Kompetenz. Vielmehr lernt sie durch den liebevollen Umgang mit den Gliederfüßern, was keine Versuchsreihe jemals herausbekäme: Sie versteht ihre „Lieblinge“ und weiß, was sie wollen.

Wenn Barbaras weiche Finger die empfindsame Schlundpartie der rotbraunen Hummerleiber kraulen, recken sie sich wohlig aus dem Wasser. Tatsächlich scheinen sie ihr taffes Frauchen in den weißen Schlabber-Hosen zu erkennen. Bärbel beugt sich dann noch tiefer über die Salzwasserbecken und kost die Hummer sanft mit „meine Süßen“. Dann greift sie barhändig zwei Hummerrücken heraus und erklärt fachfrauisch den Unterschied zwischen Männchen und Weibchen.

Schon Barbaras Mutter war bei Goedeken beschäftigt. Das Faible für Fisch scheint bei Familie Pötke also bereits in den Genen verankert, und so erstaunt es nicht, wenn die 52-Jährige strahlt: „Ich bin mit den Hummern verheiratet.“ Für einen Ehegatten bleibt da, nach eigenem Bekunden, keine Zeit. Verwendet Bärbel doch ihr ganzes Geschick darauf, die natürliche Umgebung vor der kanadischen Atlantikküste so naturgetreu wie möglich nachzuempfinden: Die Wassertemperatur beträgt acht Grad Celsius, die Luft ist lediglich zwei Grad wärmer.

Drei Pulloverschichten und feste schwarze Stiefel schützen Barbara vor der Kälte. Eine blau-weiße Wollmütze bändigt ihre langen dunkelblonden Haare und hält den Fransenpony aus dem Gesicht. Gegen kneifende Kampfscheren helfen jedoch nur fest sitzende Gummibänder, die die Zangen zusammenhalten, und eine Menge Erfahrung. Deshalb überprüft Bärbel, wie jeden Morgen um sechs, die 15 Wasserbecken auf kraftlose Tiere und gelöste Gummis. Denn nicht nur Barbaras rechter Unterarm wurde bereits Opfer einer Kneifattacke. Die kannibalischen Hummer stürzen sich auch auf geschwächte Artgenossen und „versauen“ anschließend mit ihren Fäkalien das saubere Salzwasser. Normalerweise scheiden die Tiere während ihres Bassinaufenthalts nämlich gar nichts aus: Sie werden einfach nicht gefüttert, denn so bleibt die Wasserhygiene am ehesten erhalten.

Bevor ein Hummer bei Bärbel im Becken landet, wird er vor der kanadischen Küste aus dem Atlantik gezogen. Der Transport von Toronto bis in die Große Elbstraße dauert per Flugzeug zwei Tage, bis zur Verarbeitung vergehen maximal weitere sieben. Denn Frische ist in Bärbels Branche oberstes Gebot.

Täglich frische Aufträge meldet der Flachbildschirm an der weißgekachelten Wand. Gourmets aus ganz Deutschland bestellen hier. Heute sind zehn Tütchen zu je 200 Gramm Hummerfleisch angefordert. Also stiefelt Bärbel hinüber zu den Salzwasserbecken, in denen sich an die hundert Tiere gleicher Gewichtsklasse in den Ecken stapeln. Geschickt greift Barbara einige heraus und setzt sie auf den Boden.

Die Krustentiere genießen es, frei über die Kacheln fegen zu dürfen, bis sie aufgrund von Sauerstoffmangel langsam „schlaff“ werden. Denn Hummer besitzen Kiemen, sie brauchen das Wasser, um atmen zu können. Dies mag brutal klingen, doch Hummerexpertin Barbara ist sicher, dass ihr „Trick“ für die Gliederfüßer angenehmer ist, als bei vollem Bewusstsein in das kochende Wasser geschmissen zu werden: „Als ich unerfahren war, habe ich das noch gemacht. Einige Hummer versuchten dann aus dem Kochtopf heraus zu springen. Schrecklich. Heute lasse ich sie vorher dösig werden, dann bekommen sie vom Abkochen gar nichts mehr mit.“

Und so fischt Bärbel die „betäubten“ Hummer nach einigen Stunden aus den Ecken und sammelt sie in einem Sieb. Sie lehnt sich gegen die schwere Eisentür und trägt ihre dösigen „Lieblinge“ hinüber zum Verarbeitungsraum. Doch diese Tür ist für Bärbel nicht nur eine Tür, nicht nur eine Möglichkeit von einem Raum in den nächsten zu gelangen. An dieser Tür legt Barbara ihre Gefühle ab. Die reglosen Tiere in ihrem Sieb sind jetzt bestellte Hummerware, 200-Gramm-Tütchen, und nicht mehr ihre „Süßen“. Ein Glück, dass Barbara scheinbar so rigoros zwischen beiden Bereichen trennen kann: „Sonst würde das jemand anders machen. Und der wäre sicher nicht so rücksichtsvoll“, sagt sie, und es klingt fast, als wolle sie sich bei den Tieren entschuldigen. Also versenkt Bärbel das Sieb mit den dahindämmernden braunen Hummern im schäumenden Wasser des riesigen Kochbassins und schließt den Deckel. Nach zehn Minuten wuchtet sie die nun wunderschön rotleuchtenden Tiere heraus und schreckt sie, „wie Frühstückseier“, unter kaltem Wasser ab.

Doch nicht alle Hummer landen in Keller XII zwangsläufig unterm Messer. Der schöne Leo genoss für sechs Jahre das angenehme Leben eines Hummer-Dressmans. „Wie ein treuer Hund“ flitzte er jeden Morgen zur Schaubeckenscheibe, um sein Frauchen zu begrüßen. Und abends schien es Bärbel, als wolle er sie nach Hause begleiten. Als Leo weiter wuchs und seine dritte Häutung nicht überlebte, begrub Barbara ihren „Liebling“ im heimischen Garten in Bergedorf.

Einen neuen Leo hat sie derweil noch nicht gefunden, und so legt sie die Hummerleiber auf ihre Papierunterlage und beginnt die noch dampfenden Tiere zu zerteilen. Mit geübten Schlägen knackt sie die harten Panzer, Fleischstückchen spritzen durch den Raum, ein Fetzen bleibt auf ihrer Stirn kleben. Tack, tack, tack klingt der Dreiertakt, mit dem ihr kleines schwarzes Messer über die Hummerscheren tanzt. Als sich schließlich ein weiß-roter Fleischberg angesammelt hat, holt Barbara die 200-Gramm-Plastiktütchen und portioniert die Delikatesse nach Augenmaß.

Gegen 16 Uhr säubert „Hummer-Bärbel“ ein letztes Mal den Arbeitsplatz, sagt ihren Lieblingen „Gute Nacht“ und löscht das Licht. Für die Tiere ist die Dunkelheit das Signal zur Beutejagd, und so beginnen sie triebgesteuert in ihren kleinen Bassins umherzuwuseln, auch wenn es gar nichts zu erlegen gibt. Manchmal schleicht Barbara dann mit der Taschenlampe durchs Dunkel und beobachtet ihre „Süßen“. „Wenn es den Tieren gut geht, geht es auch mir gut“, verabschiedet sie sich und stellt das letzte Tütchen mit Hummerfleisch in den Styroporkarton.

Jannika K. Schulz

Hafen: Im Namen des Herrn unterwegs

Die Seemannsmission hilft Seeleuten an Bord und an Land

(aus Hinz&Kunzt 123/Mai 2003)

Wenn Kurt Robert Drobnik mit seinem Wagen durch den Hafen brettert und Autofahrer als Idioten oder Schlimmeres beschimpft, kann man kaum glauben, dass dieser Mann im Namen des Herrn unterwegs ist. Der 59-Jährige ist Seemannspastor. Etwa 5000 Schiffe hat er in den vergangenen Jahren besucht.

Morgens um sieben Uhr startet seine Tour. Die beste Chance, gesprächsbereite Seeleute anzutreffen, ist beim Frühstück. Dass viele Menschen an Bord ein Gespräch brauchen, davon ist der ehemalige Militärpfarrer überzeugt. Schließlich werden auf See doppelt so viele Selbstmorde verübt wie an Land. „Das Leben auf einem Schiff ist wie ein Leben im Gefängnis, auch wenn einen niemand dazu gezwungen hat“, sagt Drobnik. „Immer dieselben Menschen, immer zusammengepfercht.“ Zudem sind die Liegezeiten heutzutage so kurz, dass die Männer kaum noch von Bord kommen. „Da ist nichts mit Seemannsromantik, Land und Leute kennen lernen. Die meisten sind nur deshalb an Bord, weil sie Geld verdienen müssen.“

Das erste Schiff an diesem Morgen ist ein Containerriese. Der erste Offizier, ein Japaner, ist noch ziemlich jung und ganz irritiert über den Besuch. Der Seemannspastor muss sogar seinen Ausweis zücken, bevor er ins Innere des Schiffs vordringen darf. „Das ist mir ja noch nie passiert“, brummt Drobnik. Neuer Ärger wartet in der Mann-schaftsmesse. Die paar Seeleute, die gerade frei haben, stehen um einen Mann herum, der Geld in der Hand hält. Das sieht im ersten Moment aus wie ein Glücksspiel. Da ist der Pastor völlig uninteressant.

Drobnik schimpft vor sich hin und macht auf dem Absatz kehrt. „Der verkauft Telefonkarten“, sagt Drobnik genervt. Und das zu horrenden Preisen. „Ich hätte denen die Karte drei bis vier Dollar billiger geben können.“ Telefonieren spielt an Bord eine zentrale Rolle – es ist die beste Verbindung in die Heimat und zur Familie, die die meisten ein halbes bis ein ganzes Jahr nicht sehen.

Heimweh und Einsamkeit sind denn auch die häufigsten Probleme, die die Männer an Bord haben. Aber auch schwere Schicksalsschläge müssen sie normalerweise allein bewältigen und sind dann froh, einen Menschen zu haben, dem sie ihr Herz ausschütten können.

Wie etwa der philippinische Koch auf dem nächsten Containerschiff. Er sitzt in der Messe und trinkt einen Abschiedskaffee mit einem Freund und Kollegen. Der wird heute von Bord gehen, der Koch bleibt noch ein paar Monate. Traurig sieht er aus, und Kurt Robert Drobnik sieht ihm gleich an, dass ihn nicht nur der Abschied von seinem Kollegen schmerzt.

Zeit ist knapp an Bord, deshalb kommt er gleich zur Sache. Ob er verheiratet sei und Kinder habe, will er wissen. Stolz erzählt der Mann von seinen drei Kindern, aber sein Blick ist verhangen. „Er ist Witwer“, assistiert der Freund. Stockend erzählt der Koch, dass seine Frau vor drei Jahren gestorben sei. Drobnik nickt – und erzählt von sich. Seine erste Frau ist bei einem Autounfall gestorben. Mit den Toten könne man aber auch nach dem Tod im Gespräch bleiben, durch das Gebet.

Der Koch hängt an den Lippen des Pastors. Jeder im Raum spürt: Das ist sein Thema. „Du musst wieder eine neue Frau in dein Leben lassen“, hilft Drobnik. „Deine Kinder brauchen wieder eine Mutter.“ Schuldgefühle dürfe er nicht haben. „Ihr wart verheiratet, bis dass der Tod euch scheidet – und er hat euch geschieden.“ Mit Sicherheit sei seine Frau nicht böse darüber – im Gegenteil.

Der Koch nickt, lächelt. Drobnik macht noch einen kernigen Witz. Die Seeleute lachen. Der Abschied ist herzlich.

Doch Drobnik kann auch anders. Vor einiger Zeit traf er einen ägyptischen Seemann. Er spürte gleich, mit dem stimmt etwas nicht. „Er redete wirr, ich hatte den Eindruck, dass er selbstmordgefährdet ist.“ Mit keinem Wort kam er auf die Probleme des Mannes zu sprechen. Im Gegenteil. Er vermied jeden Tiefgang. Stattdessen sprach er mit ihm über die ägyptische Hochkultur. Der Mann wurde immer stolzer. „Ich verstärkte ihn positiv“, sagt er fachmännisch. „Ich wollte nur, dass er bis Alexandria nicht über Bord springt. Mehr konnte ich für ihn nicht tun.“ Er informierte auch den Kapitän nicht. „Warum? Dann halten alle den Seemann für eine Pflaume – und er verliert auch noch seinen Job.“

Freundliche Begrüßung auf dem nächsten Schiff. Der italienische Offizier begleitet den Pastor sogar in die Messe. Auf dem Weg dorthin spricht Drobnik ein paar Philippinos an. Keiner kennt den Seemannsclub, der nur ein paar Meter entfernt ist, keiner war bislang von Bord, obwohl der Frachter schon zwei Tage da ist. Die Messe ist leer, der Offizier lässt extra einen Seemann kommen. Der grinst zwar, aber eher aus Verlegenheit. Sprechen will er eigentlich nicht. Auch er war noch nicht von Bord. „Keine Zeit, keine Zeit“, sagt er leise.

Drobnik vermutet, dass er keine Interna ausplaudern soll. Beispielsweise, dass hier nicht tarifgerecht bezahlt wird oder sonstige Dinge an Bord schief laufen. Ob er in solchen Fällen die Gewerkschaft einschalte? „Auf keinen Fall, dann bekommen die an Bord ja erst recht Ärger.“

Mitleid ist seine Sache nicht. Er will, dass es den Seeleuten durch seinen Besuch besser geht, dass sie fähig sind, weiterzumachen – nicht mehr und nicht weniger. Schließlich musste er das selbst schmerzhaft lernen, nicht erst beim Tod seiner ersten Frau. Mit 17 Jahren hatte er einen schweren Unfall, bei dem er sein Bein verlor. Nicht Mitlied half ihm damals, sondern Härte. Als er beim ersten Mal mit Krücken hinfiel und sich verzweifelt ins Bett verkriechen wollte, herrschte ihn der Pfleger an: „Du machst sofort einen neuen Versuch oder ich trete dir in den Hintern.“ Drobnik machte also weiter…

Zur Seemannsmission, deren Geschäftsführer der Pastor heute ist, gehört auch eine Unterkunft am Krayenkamp, gegenüber vom Michel. „Mutter“ des Hauses ist die 54-jähige Gisela Weber. Sie kümmert sich zum Beispiel darum, wenn Abu Bakari, ein Stammgast, verzweifelt ist. Seit 1982 fährt der Ghanaer auf deutschen Schiffen, seit Jahren für dieselbe Reederei. Wie jedes Jahr musterte er im Dezember ab und bekam ein Schreiben, dass er im April wieder dazusein habe.

Das war er auch, aber die Reederei brauchte ihn nicht und stellte ihm auch die Bescheinigung nicht aus, mit der er Arbeitslosengeld hätte beantragen können. Jetzt wartet Bakari im Seemannsheim und hofft, dass andere ihm mal was abgeben, wenn sie kochen. Die Seemannsmission stundet ihm die Miete.

Abu Bakari ist nicht der einzige, der in der Mission darauf wartet, endlich wieder an Bord gehen zu dürfen. Der Chilene Juan etwa ist 30 Jahre lang bei derselben deutschen Reederei gefahren. Auch er ist extra wieder nach Hamburg gekommen, weil er wieder anheuern sollte. Keiner hatte es für nötig gehalten, dem Maschinisten zu sagen, dass sein Schiff inzwischen ausgeflaggt wurde und er jetzt von einem billigeren Mann aus China ersetzt wird.

Für mindestens ein Drittel der Bewohner ist der Traum von der Seefahrt endgültig ausgeträumt. Sie sind zu alt, zu teuer, nicht fit genug für die moderne Seefahrt oder haben Alkoholprobleme. Viele von ihnen sind durch die Seefahrt völlig entwurzelt. Ihr Zuhause ist inzwischen das Seemannsheim geworden. Und hier können sie auch für immer vor Anker gehen. Dafür hat die Seemannsmission gesorgt.

Nr. 2: Hausbesuch statt Räumung

Zehn Jahre Hinz&Kunzt – zehn Geburtstagsforderungen

(aus Hinz&Kunzt 123/Mai 2003)

Darum geht es:

Arbeitslosigkeit, Krankheit, Scheidung, Tod eines Familienangehörigen: Es gibt viele Gründe dafür, im Leben plötzlich aus der Bahn geworfen zu werden. Dann ist auf einmal nichts mehr wichtig – auch nicht die monatliche Mietüberweisung. Gut 2500 Hamburger werden Jahr für Jahr aus ihren Wohnungen geräumt, zumeist weil sie ihre Miete nicht mehr zahlen (können). Sie landen in städtischen Notunterkünften – oder auf der Straße.

Die Situation in Hamburg:

Zwar richtete die Stadt Anfang der neunziger Jahre „Bezirksstellen zur Wohnungssicherung“ ein, die den Betroffenen schnell helfen und so Zwangsräumungen verhindern sollen – etwa durch Schuldnerberatung, befristete Mietübernahme oder Verhandlungen mit dem Vermieter. Doch sind die rund 40 Mitarbeiter der sieben Bezirksstellen hoffnungslos überlastet. 6000 bis 7000 neue Räumungsklagen zählen die Hamburger Gerichte jedes Jahr.

Eine Bezirksstellen-Mitarbeiterin kommentiert ihre Arbeitssituation: „Hausbesuche machen wir nur selten. Kündigungen reiche ich ungelesen an die Sozialämter weiter. Wir reagieren erst, wenn eine Klage eingereicht wird – aus Kapazitätsgründen.“ Schon vor anderthalb Jahren räumte die zuständige Referentin der Sozialbehörde ein: „Das Personal reicht nicht aus.“

Prävention sei wichtig, sagte dann Sozialsenatorin Birgit Schnieber-Jastram (CDU) zum Amtsantritt und versprach mehr Geld für die Räumungs-Verhinderer. Auf neue Mitarbeiter warten die Bezirksstellen aber bis heute vergeblich. Im Gegenteil, die Arbeitsbedingungen haben sich verschlechtert: „Wir haben kein Geschäftszimmer mehr. Deshalb können wir Termine nicht mehr schnell vergeben“, so die Bezirksstellen-Mitarbeiterin frustriert.

Die Folgekosten dieser Politik sind hoch: Zwischen 2500 und 5000 Euro jährlich zahlt die Stadt für die Unterbringung eines wohnungslosen Menschen. Rund 3000 Hamburger (ohne Flüchtlinge) leben in den städtischen Notunterkünften, viele von ihnen seit Jahren. Und: Je länger sie dort leben, desto schwieriger gestaltet sich der Weg zurück in eigene vier Wände. Nur jeder zehnte Bewohner einer Notunterkunft, so der Senat, habe vergangenes Jahr den Sprung zurück in die Wohnung geschafft. Tendenz: sinkend.

Wie andere es besser machen:

„Zwangsräumungen? So etwas gibt es bei uns nicht mehr“, sagt Peter Reiss, Leiter der Fachstelle für Wohnungsnotfälle in Duisburg. In der 535.000-Einwohner-Stadt haben die Behörden schon lange begriffen, dass Vorbeugung nicht nur viel besser, sondern auch viel billiger ist als Nichtstun: mindestens zehn Mal billiger, hat der gelernte Bankkaufmann und Sozialarbeiter Reiss ausgerechnet. Mehrere Millionen Euro habe die Stadt auf diese Weise gespart.

„Hausbesuch statt Räumung“ lautet die Devise in Duisburg, und die wirkt. „Wir bekommen sofort Wind davon, wenn jemand Schwierigkeiten hat“, erklärt einer der 45 Fachstellen-Mitarbeiter das ebenso einfache wie einleuchtende Erfolgsrezept: schnelle, umfassende und unbürokratische Hilfe für die Mieter in Not. „Im Haushalt hast du ganz andere Chancen, an die Menschen ranzukommen“, so der Duisburger „Akuthelfer“. Ergebnis der Präventionspolitik: Nur noch knapp 100 statt früher 2500 Menschen leben in städtischen Notunterkünften. Das Vorzeige-Modell wird inzwischen von vielen Städten nachgeahmt.

Die Zukunft:

Hamburg bastelt seit Jahren erfolglos an einer „Neustrukturierung des Hilfesystems“. Senat, Bezirke, Wohnungswirtschaft und Parteien finden einfach keinen gemeinsamen Nenner. Es geht vor allem ums Geld: Wer soll die präventive Sozialarbeit bezahlen, der Senat oder die Bezirke? Und wie lassen sich die Wohnungsunternehmen in die Pflicht nehmen, damit sie wieder mehr Wohnungen an Sozialschwache vermieten?

Die internen Papiere hören sich gut an und könnten aus Duisburger Feder stammen: „Die Prävention soll über die Fachstellen so verstärkt werden, dass Kündigungen und Räumungsverfahren durch die Vermieter zum frühestmöglichen Zeitpunkt abgewendet werden, um einen drohenden Wohnungsverlust zu verhindern“, heißt es in einem der vielen Konzeptentwürfe, die über die Behördenschreibtische gewandert sind. Ein fertiger Entwurf soll nun den Bezirken vorliegen, der muss dann mit den Änderungswünschen durch den Senat. „Richtigen Dissens gibt es nicht mehr“, sagt die Sprecherin der Sozialbehörde. „Es geht nur noch um Details – und um die Frage der Finanzierbarkeit.“ Sie hofft im Sommer Ergebnisse vorstellen zu können. Aber versprechen kann sie das nicht.

So sollte es laufen:

– Mehr Mitarbeiter in den Fachstellen, damit das „Frühwarnsystem“ funktioniert.

– Hausbesuche müssen die Regel sein und nicht die Ausnahme.

– Die Mitarbeiter der Fachstellen müssen eigenständig mit den Vermietern verhandeln dürfen und dafür eigene Etats bekommen.

– Die Fachstellen müssen Zugriff auf freie Wohnungen haben.

– Keine Zwangsräumung ohne vorherigen Schlichtungsversuch.

Ulrich Jonas

Tagebuch eines Seitenwechsels

„Kurzweilig, spannend, schockierend“: Was Beiersdorf-Manager Volker Holle in einer Woche bei Hinz & Kunzt erlebte

(aus Hinz&Kunzt 123/Mai 2003)

Warum ich mir Hinz & Kunzt ausgesucht habe? Die Zeitung war mir – wie vielen in Hamburg – natürlich ein Begriff. Mit dem Problem Obdachlosigkeit hatte ich mich allerdings bisher nicht näher beschäftigt. Für mich war „der Obdachlose“ ein Mensch, der es nicht schafft, sein Leben in die eigene Hand zu nehmen und etwas daraus zu machen.

Montag: Mein erster Tag bei Hinz & Kunzt. Ein ungewöhnlicher Arbeitstag, es fängt schon damit an, dass Anzug und Krawatte im Schrank bleiben, ich halte Pullover und Jeans für angebracht. Auch der Wagen bleibt zu Hause. Ich fahre nach langer Zeit mal wieder mit Bahn und Bus. Stephan Karrenbauer, So-zialarbeiter und mein „Betreuer“ für die nächsten fünf Tage, zeigt mir die Räume. Kleine Büros, Computer der vorvorletzten Generation, spartanische Möblierung – Welten von meinem Arbeitsambiente entfernt.

9 Uhr: Die ersten Verkäufer kommen herein. Eigentlich hatte ich erwartet, kritisch beäugt zu werden, aber ganz im Gegenteil: Ich werde gleich angesprochen. Diese Direktheit, aber auch die Bereitschaft, auf meine Fragen einzugehen, erlebe ich in den nächsten Tagen ständig. Die Möglichkeit zu reden, vom eigenen Leben zu berichten, scheint für viele sehr wichtig zu sein. Ebenso, wie hier eine Anlaufstelle für Probleme zu haben, seien es Schwierigkeiten im Umgang mit Behörden, Vermietern oder Rechtsstreitigkeiten.

11.45 Uhr: Verkäuferversammlung. Ich wundere mich über die friedliche Atmosphäre, die übrigens in der gesamten Woche zu spüren ist. Allerdings wird auch sehr strikt auf die Einhaltung der Hausordnung geachtet (z.B. Alkoholverbot). Die Redaktion stellt die neue Ausgabe vor. Kritik wird laut, weil die März-Ausgabe vor Monatsende vergriffen war und nicht nachgedruckt wurde. Dadurch konnten einige Verkäufer zwei Tage lang nicht verkaufen. Für viele, die täglich kommen und nur kleine Mengen verkaufen – gerade so viel, dass sie mit dem Geld über die Runden kommen – ist ein Tag ohne Zeitung hart. Ich erfahre aber auch die Schwierigkeit, die Auflage genau planen zu können. Ein Nachdruck in geringer Auflage ist überproportional teuer und wird durch den Verkaufserlös nicht gedeckt.

12 Uhr: Die Zeitungsausgabe beginnt. Geduldig stehen die Verkäufer am Tresen Schlange, bis sie dran sind. Ein elektrischer Geldzähler und ein computergestützes Erfassungssystem erleichtern die Arbeit. Ich setze mich an einen der Tische und komme ins Gespräch mit R. Er hat sich 50 Exemplare geholt, steht immer an der Paul-Roosen-Straße. Wie vielen anderen, hat das Projekt ihm geholfen: R. hat mittlerweile eine Unterkunft. Er verkauft immer so viel, um genug Geld für Schnaps und Zigaretten zu haben.

„Ganz anders als mein Bild vom Obdachlosen“

Dass Verkäufer auch aus der Alkoholabhängigkeit aussteigen, ist wohl, zumindest kurzfristig gesehen, die Ausnahme. Der Verkauf zwingt aber dazu, seltener zu trinken, da Verkäufer nicht alkoholisiert sein dürfen, sonst wird ihnen der Ausweis entzogen. Auf dem Heimweg stelle ich fest, dass ich meine Umgebung genauer als bisher betrachte. Vielleicht entdecke ich ja schon bald bekannte Gesichter.

Dienstag: Heute findet mein erster Einsatz „vor Ort“ statt. Ich begleite Elke, 37, zu ihrem Standplatz. Sie ist gelernte Verkäuferin, hat zusätzlich eine sozialpädagogische Ausbildung und kommt aus gut situiertem Elternhaus. Sie hat schon früh mit Alkohol angefangen. Kurz nacheinander verlor sie Wohnung und Arbeit und lebte dann auf der Straße. Unterstützung vom Sozialamt möchte sie nicht, weil dann ihre Eltern zahlen müssten. Mittlerweile hat sie eine kleine Wohnung – und sie hat aufgehört zu trinken. Sie träumt davon, irgendwann mal wieder im sozialen Bereich arbeiten zu können. Sie strahlt Zuversicht und eine positive Lebenseinstellung aus und passt so gar nicht in mein Bild vom typischen Obdachlosen.

Ich stehe drei Stunden mit ihr auf ihrem Platz, einer zugigen Verbindung zwischen U-Bahn und Einkaufspassage. Trotz warmer Jacke wird mir kalt, der Rücken fängt langsam an zu schmerzen. Es muss hart sein, den ganzen Tag auf einer Stelle zu verbringen. Einige Leute bleiben stehen und unterhalten sich mit ihr, Stammkunden, die sie zum Teil seit Jahren kennt. Im Laufe der Zeit ergeben sich sogar Freundschaften, erzählt Elke. Viele dieser Stammkunden sind ältere Frauen, auch das hatte ich nicht erwartet. Ich verstehe, wie wichtig es für viele Verkäufer ist, durch den Verkauf der Zeitung eine Regelmäßigkeit in die Woche zu bringen, so etwas wie eine richtige Berufstätigkeit eben.

19.30 Uhr: Ich fahre mit dem Mitternachtsbus mit. Es geht über die Reeperbahn zur Roten Flora bis zur Mönckebergstraße. Aber auch einzelne Schlafstellen werden aufgesucht. Bei unserer Ankunft strömen aus allen Richtungen Obdachlose herbei. Besonders beliebt sind heißer Kakao mit viel Zucker und süße Backwaren. Junkies haben, so erzählen die Ehrenamtlichen, einen besonders hohen Bedarf an Kohlenhydraten und decken diesen durch Zucker. Das passt zu meinen Beobachtungen, dass kaum ein Obdachloser ein halbwegs gesundes Gebiss hat. Einigen Obdachlosen merkt man die Dankbarkeit an, andere sind eher fordernd und meckernd.

Für mich hat diese Fahrt den Charakter einen alternativen Standrundfahrt. Mir war vorher nicht bekannt, wie viele Obdachlose es in Hamburg gibt und wo sie sich nachts aufhalten. Die Funktion des Busses sehe ich zwiespältig. Ich finde, der Bus erfüllt eher eine Service-Funktion und schwächt damit die Eigenverantwortung. Auf der anderen Seite wird aber dem Obdachlosen menschliche Wärme vermittelt – für viele vielleicht der wichtigste Aspekt.

„Den Mitternachtsbus sehe ich zwiespältig“

Mittwoch: Am Nachmittag besuchen wir das Wohnprojekt Wartenau, wo für Hinz & Künztler übergangsweise Zimmer zur Verfügung stehen, bis der Betroffene eine feste Bleibe gefunden hat. In einem kleinen Zimmer liegt M., Mitte 60, in seinem Bett. Er ist seit Anfang an bei Hinz & Kunzt, kann jetzt aber nicht mehr verkaufen, ist ans Bett gefesselt und wird von einem Pflegedienst betreut. Der Fernseher läuft die ganze Zeit und ist sein einziger Kontakt zur Außenwelt.

Donnerstag: Zum ersten Mal sehe ich das Landessozialamt in der Kaiser-Wilhelm-Straße, das für Obdachlose zuständig ist, von innen. Vor dem Eingang steht eine Gruppe mit Bierflaschen in der Hand. Wartezeiten von vier bis fünf Stunden sind nicht ungewöhnlich. Der Warteraum ist voll besetzt. Auffallend, dass die dort Wartenden sich nicht unterhalten, sondern nur resigniert vor sich hin starren. Kein Aufbegehren, nichts. Die meisten haben sich wohl in ihr Schicksal ergeben.

Später treffe ich Herbert, Mitte 50, gelernter Dachdecker, der es bis zum eigenen Bauunternehmen brachte und damit Erfolg, Geld, eine große Wohnung – also eigentlich alles hatte. Dann kam von einem auf den anderen Tag der Sturz ins Bodenlose. Sein Kompagnon verschwand mit den Firmengeldern, seine Lebensgefährtin, mit der er 22 Jahre zusammen war, verließ ihn. Eine Enttäuschung, die tief sitzt und ihm noch heute anzumerken ist. Immerhin hat er inzwischen wieder eine kleine Wohnung in Altona. Er erzählt mir von seinen Albträumen in der ersten Zeit. Er träumte, man habe ihm seine Tasche gestohlen – für einen Obdachlosen wohl das Schlimmste, was passieren kann, wenn der Rest von dem, was man überhaupt noch hat, abhanden kommt.

Herbert passt auch überhaupt nicht in mein Bild vom Obdachlosen. Genauso wenig wie Jürgen vom Vertrieb. Mit ihm fahre ich zum AK Altona. Im Krankenhaus besuchen wir Peter, 32. Er liegt mit Geschwüren an den Beinen im Bett und würde am liebsten schnell dort abhauen. Er ist schwer alkoholkrank und braucht Medikamente, um die Entzugsschmerzen auszuhalten. Wir überbringen Grüße, Tabak und Süßigkeiten. Er freut sich sichtlich, etwas „von draußen“ zu erfahren.

Freitag: Mein letzter Tag. Es ist schon in Stück Berufsalltag für mich geworden, jeden Morgen hierher zu kommen und mittlerweile vertraute Gesichter zu sehen – ich könnte es durchaus noch länger aushalten. Mein Resümee des „Seitenwechsels“: sehr kurzweilig, sehr spannend, manchmal schockierend, oft frustrierend. Das zielorientierte Problemlösen klappt in der Regel hier nicht. Die Messlatte für Erfolge orientiert sich eher an den kleinen, machbaren Schritten. Und dann gibt es immer einzelne Lichtblicke: Menschen, die es geschafft haben, Arbeit zu bekommen, ihre Schulden abzubauen und ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen.

Für mich persönlich hat die Woche eine Art Bewusstseinserweiterung gebracht. Ich habe die schockierende Erkenntnis gewonnen, dass Obdachlosigkeit eigentlich jeden treffen kann und dass es den typischen Obdachlosen nicht gibt: zu unterschiedlich sind die Menschen und ihre Geschichten.

Volker Holle, 39, ist studierter Pharmazeut und Qualitätsmanager für medizinische Produkte bei Beiersdorf.

Seitenwechsel für Manager
Vermittelt von der Patriotischen Gesellschaft hospitieren Manager jeweils eine Woche in sozialen Einrichtungen. „Seitenwechsel“ startete im Oktober 2000. Seitdem haben 145 Führungskräfte aus 32 Hamburger Unternehmen teilgenommen. Informationen: www.seitenwechsel.com

Tatort Hafen

Der Zöllner Volker Biermann über die „Schwarze Gang“ und Rauschgift-Schmuggler

(aus Hinz&Kunzt 123/Mai 2003)

Eine Sommernacht. Niemand beachtet das kleine Motorboot, das sich dem kolumbianischen Frachter im Hafen nähert. Lautlos gleitet ein Taucher ins Wasser. Er weiß, was er sucht: einen anderthalb Kubikmeter großen Kasten, der an der Außenhaut des Schiffes montiert ist. Einige Zeit später taucht der Mann im Neoprenanzug auf – mit dem Kasten. Jetzt wird es hektisch an Bord.

Der Komplize hievt die Beute an Deck. Das Sportboot verschwindet wieder in der Nacht. An Land werden die Männer den Kasten aufschweißen und rund 60 Kilogramm Marihuana bergen. Die Schmuggler sind über alle Berge, aber der Zollbeamte Volker Biermann und seine Kollegen von der Schwarzen Gang stehen nicht mit leeren Händen da. Offensichtlich wurden die Männer gestört. Denn später finden die Rauschgiftfahnder den Neoprenanzug und die aufgeflexte Kiste. Eindeutige Hinweise auf die Arbeitsmethoden der Schmuggler. Und was die Tricks der Rauschgiftmafia angeht, kommt den Fahndern noch ein Zufall zu Hilfe: Ein Seemann hat ausgepackt.

Was nur selten geschieht. Wer sich mit dem organisierten Verbrechen einlässt, weiß, dass er besser schweigt. „Wer auspackt, ist dran“, sagt Biermann. Wer den Mund hält, kann sich halbwegs sicher sein, dass seine Kinder weiter unbehelligt zur Schule gehen dürfen und der Familie kein Härchen gekrümmt wird.

Früher suchte der 52-Jährige in den Seezollhäfen nach Schnaps, Zigaretten und sonstigen verbotenen Waren. „Man kann sich vorstellen, dass wir im Hafen nicht gerade beliebt waren“, sagt er. Dann allerdings wurde das Drogenproblem immer größer. 1986 wurde eine zusätzliche Abteilung, die „Rauschgiftgang“, gegründet. Einsatzgebiet ist der Freihafen. Bevor Volker Biermann beim Zoll anfing, fuhr er 14 Jahre lang zur See. Angefangen hat er als Schiffsjunge, später dann sein Kapitänspatent gemacht. Biermann ist übrigens kein Einzelfall: Fast alle 15 Kollegen in seiner Gang sind Seeleute. Ist ja auch sinnvoll: „Wir kennen uns an Bord der Schiffe aus und wissen, wo man etwas verstecken kann.“

Immer wieder finden die Beamten Päckchen in Luken oder im Maschinenraum. Wobei die Suche im Maschinenraum durch den Geruch von Schmieröl deutlich erschwert wird. Der Einsatz von Spürhunden ist dabei fast unmöglich. „Da verlieren die Hunde die Witterung“, sagt Biermann. Häufig wird der Stoff im Laderaum unter den Holzgrätings versteckt, eine Art Holzfußboden mit Hohlraum, damit die Luft zirkulieren kann. „Dort fanden wir oft auch so genannte Schmuggelwesten“, erzählt Biermann. Das sind Westen mit Taschen im Futter, sodass Pakete unauffällig transportiert werden können. Besonders beliebt ist das im Winter. Wer mit einer solchen Weste bei Schichtwechsel mit dem Pulk den Hafen verlässt, hat beste Chancen, nicht erwischt zu werden.

Meistens ist nur einer aus der Mannschaft in den Schmuggel verwickelt, so die Erfahrung der „Schwarzen Gang“. Wenn Biermann von diesen Männern spricht, schwingt Mitgefühl in seiner Stimme. „Ich bin so lange zur See gefahren und weiß, wie arm die Menschen in den betreffenden Ländern sind, so ohne jede Perspektive.“ Deswegen seien sie auch anfällig, wenn sie ein Angebot bekämen: Rund 3000 Dollar bekommen die Schmuggler oft für ihren ersten Job. Dass sie danach nie wieder aussteigen können und für immer in den Händen der Mafia sind, ist ihnen meistens nicht klar. „Das Schlimme ist, dass wir immer nur die Kleinen erwischen“, sagt Biermann. „Und die Großen lässt man laufen.“

Neuerdings wird auch der Seekasten gerne als Versteck genutzt, eine Öffnung in der Außenhaut, wo das Kühlwasser für die Maschine angesogen wird, oder der Schlingerkiel (eine Art Stabilisator) des Schiffes: „Da können wir nichts machen, da müssen wir Polizeitaucher anfordern.“ Oder die Drogenpakete werden nicht im Hafen, sondern schon irgendwo auf der Elbe außenbords geworfen. Gut verpackt und beispielsweise an einen leeren Bohnerwachska-nister gebunden, der als Auftrieb fungiert. Ein Motorboot nimmt die Fracht auf, und die Schmuggler lagern die Ware in Erddepots im Alten Land. „Klappe zu, Grasnarbe drauf, und keiner kann etwas erkennen.“

Die Suche nach den Drogen ist wie die Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen. Biermann „nervt es, dass die Schnaps- und Zigarettengang zwei bis drei Mal in der Woche fündig wird“ – und seine Gang alle zwei bis drei Monate mal einen Coup landet. Immerhin ist seit 1996 auch eine Containerprüfanlage im Einsatz. Mit der kann ein ganzer Container geröntgt werden. „Ein geschultes Auge kann durch diese Technik die Ladung identifizieren und Abweichungen von den Zollpapieren feststellen“, sagt Biermann.

Nicht immer haben die Beamten so viel Glück wie neulich. Die Schwarze Gang hatte einen Tipp bekommen. Auf einem bestimmten Schiff sollte Rauschgift zu finden sein. Und dann fuhr ein schwarzer Mercedes in den Freihafen, und ein elegant gekleideter Mann fragte, ob ein bestimmter Container – der just an Bord besagten Schiffes stand – schon da sei. „Es fragen zwar viele Spediteure nach ihren Containern, aber diesen Mann kannte keiner.“

Ein Mitarbeiter in der Umschlagsfirma verständigte die Schwarze Gang. Vorsichtshalber hatte er sich auch gleich die Autonummer seines Besuchers gemerkt. „Wenn es um Rauschgift geht, hält der ganze Hafen zusammen wie eine Familie. Das ist völlig anders als früher in der Schnaps- und Zigarettengang“, sagt Biermann. „Denn jeder Schauermann, jeder Festmacher, jeder Schlepperfahrer und jeder Hafenarbeiter hat Kinder – und jeder von denen hat ein großes Interesse daran, dass wir auftreten“, sagt Volker Biermann. „Auch wenn wir selten erfolgreich sind, so zeigen wir doch Flagge.“

Birgit Müller

Vom Leichten und Schweren

Der Schauspieler Peter Franke über „Die Jungs mit dem Tüdelband“ und den Abschied von den Hamburger Kammerspielen

(aus Hinz&Kunzt 123/Mai 2003)

„Das waren brilliante Entertainer: Frech, ein bisschen obszön, ein bisschen politisch, haben die beiden als ,Fietje und Thetje‘ ihr Publikum mit Liedern und Sketchen unterhalten, ohne es je zu verraten.“ Voller Hochachtung, geradezu schwärmerisch spricht der Schauspieler Peter Franke über seine Kollegen, die Gebrüder Wolf. Mit ihrer bodenständig-lokalpatriotischen Revue „Rund um die Alster“ feierten sie ab 1911 internationale Erfolge, in Hamburg besaßen sie das Operettenhaus an der Reeperbahn und zwei weitere Theater. Bis 1933. Dann verhängten die Nazis Auftrittsverbot. Die Theater wurden enteignet. Flucht, Exil, Vergessen. Übrig blieb ein Lied: An der Eck steht nen Jung mit nem Tüdelband.

Das kennt noch heute fast jeder Hamburger, „aber die allermeisten denken, es sei von Heidi Kabel“, bemerkt Peter Franke trocken. Ihm selbst, 62-jähriger leidenschaftlicher Wahlhanseat, war es ja auch nicht anders ergangen, bis er vor ein paar Jahren gemeinsam mit Regisseur Ulrich Waller den Filmemacher Jens Huckeriede traf. Der wusste, dass ein gewisser Ludwig Isaac, Künstlername Wolf, das Lied vom Tüdelband geschrieben und 1917 erstmals gemeinsam mit seinem Bruder Leopold im Hamburger Biebercafé vorgetragen hatte.

Zwei von dreizehn Kindern eines Fleischers aus der Neustadt seien die beiden gewesen. Ludwig, der unbedingt als Sänger Karriere machen wollte, begann auf Rummelplätzen, überredete dann seine Brüder Leopold und James, als „Trio Wolf“ aufzutreten. 1906 wird daraus ein Duo, weil James in der Bismarckstraße einen Zeitungskiosk eröffnet. 1926 stirbt Leopold an einem Herzinfarkt, sein Sohn James übernimmt von nun an seinen Part bei den Gebrüdern Wolf.

Der Filmemacher hatte geforscht, erzählte, wie das Publikum den beiden „plietschen Hamburger Jungs“ in den zwanziger Jahren zu Füßen lag – und wie sie kaum zehn Jahre später als Juden verfolgt wurden. Die Lieder, die sie berühmt gemacht haben, dürfen sie unter den Nazis nicht mehr singen – sie seien zu hamburgisch für ein jüdisches Gesangsduo.

„Je mehr wir erfuhren, umso klarer war für uns, dass wir diese Geschichte auf die Bühne bringen müssen“ erinnert sich Peter Franke. Mit Unterstützung von Jens Huckeriede und dem Museum für Hamburgische Geschichte spürten sie den in aller Welt verstreuten Nachlass der Gebrüder Wolf auf, stöberten durch Briefe, Tagebücher, Notenblätter und Programmzettel.

Im Januar 2002 war es dann soweit: Uraufführung der Gebrüder-Wolf-Story „Die Jungs mit dem Tüdelband“. Buch und Regie Ulrich Waller, auf der Bühne zwei Stunden lang Gerhard Garbers und Peter Franke. Als Fietje und Thetje singen sie die Gassenhauer der Gebrüder Wolf, natürlich das Tüdelband, „Mariechen mein Viehchen“ oder „Snuten und Poten“, das sich auf ein einstiges Hamburger Traditionsgericht aus Schweinepfoten und Schnauzen mit Sauerkraut bezieht, über das Peter Franke tapfer sagt, man könne es wirklich essen.

Doch zwischen diesen Döntjes und Spottversen, den Kalauern und dem Klamauk wird er immer wieder ernst. Ganz beiläufig erzählen Fietje und Thetje dann über James Wolf, den Kioskbesitzer, der 1943 mit seiner Frau in Theresienstadt ermordet wurde. Sie erinnern an den talentierten Sänger Ludwig, der, mit einer Nicht-Jüdin verheiratet, in den Hütten der Neustadt untertauchte. Und an James, den Jüngeren, dem es gelingt, mit seinem Bruder Donat nach Shanghai zu fliehen und von dort nach San Francisco. Donats Frau und die Kinder schaffen es nicht mehr, sie werden von den Nazis nach Riga deportiert und 1941 ermordet.

„Dieses Wechselbad ist für uns auf der Bühne eine Herausforderung, aber vor allem fürs Publikum“, sagt Peter Franke. „Aber das Faszinierende ist: Es funktioniert! Die Leute haben geweint, und am Ende fast 20 Minuten geklatscht.“ Nicht nur in Hamburg, sondern auch in anderen Städten, in denen das Stück zu sehen war, habe er jedes Mal diese Erfahrung gemacht, dass man den Zuschauern eben sehr wohl so etwas zumuten könne. Für ihn, den ein Journalist treffend als „Rampentiger“ bezeichnet hat, ist das eine große Bestätigung und eine kleine Genugtuung.

Schon als Kind im Internat hat er kleine Stücke geschrieben und aufgeführt, später spielte er sich aus Kneipen- und Kellertheatern auf die großen Staatsbühnen und hat dabei immer an „offensives Theater“ geglaubt. „Manche Schauspieler haben regelrecht Angst vor den Zuschauern, aber ich wollte mich immer ans Publikum ranspielen“, resümiert er. Deshalb liebt er Dario Fo, dessen Stücke er fürs deutschsprachige Theater entdeckte, mehr als die psychologisierenden Figuren eines Strindberg.

Mit dieser Vorliebe fürs Direkte, manchmal Derbe, für „das Leichte, das so schwer ist, wenn man es ernst nimmt“, eckte er bei manchem bedeutenden Regisseur an. Schließlich fühlte er sich im Stadttheater nicht mehr recht zu Hause und verließ 1994 das Thalia-Ensemble. „Es gab zu wenig Kontakt zum Publikum, aber auch untereinander. Ein gleichberechtigtes Miteinander, wo man sich auch mal gegenseitig kritisiert und das für mich Theater ausmacht, war in so einem Großbetrieb gar nicht mehr möglich“, meint er heute.

Diese Nähe, die er braucht wie den Wind zum Segeln, fand er in kleineren Privattheatern wie den Kammerspielen wieder. Er hofft, sie in Zukunft auch im St.-Pauli-Theater zu finden, „da, wo diese Art von Unterhaltung ja schließlich ihre Wurzeln hat“. Und natürlich hat er sie immer gehabt bei den Liederabenden in seiner Ottenser Stammkneipe: „Da bekommt man sofort mit, wer wann lacht, und weiß, jetzt hat man gepatzt – oder man war gut.“ Eine Erfahrung, die ihm die Gebrüder Wolf sicher bestätigt hätten. Deshalb ehrt es sie ebenso wie Gerhard Garbers und Peter Franke, wenn das Publikum bei der Zugabe den Refrain vom Jung mit nem Tüdelband mitsingt – singt, und nicht grölt.

Wo Männer malochen

Obdachlose bauen ein Containerdorf

(aus Hinz&Kunzt 123/Mai 2003)

Sanft gleitet der gläserne Aufzug in die Höhe. Das blitzblanke High-Tech-Gerät, mit dem die Fahrgäste dem Bahnsteig der U-Bahn Hamburger Straße entgegenschweben, wirkt wie von einem anderen Stern, so unvermittelt wächst es direkt neben einer Brachfläche aus Sand und Schutt aus dem Boden. 250.000 Euro hat das Ding gekostet – mehr als das Containerdorf für Obdachlose, das auf der Brachfläche entstehen soll.

Eine Handvoll Männer in verbeulten Jeans und Turnschuhen schlurft dort umher, manche tragen Rauschebart, andere ein Käppi gegen die Sonne auf dem Kopf. Alle haben Werkzeug in der Hand. Dazwischen wuselt ein kleiner, strubbeliger Hund hin und her – und wieder zurück zu einem ebenfalls strubbeligen, weißhaarigen Mann. Das ist Michael Struck, 54, Herrchen von Strolchi und Sozialarbeiter bei Neue Wohnung, einer gemeinnützigen GmbH der Wohnungslosenhilfe, die schon in Altona erfolgreich ein Container-Projekt für Obdachlose betreibt.

Strucki – wie ihn hier alle nennen – hat seinen Arbeitsplatz auf das städtische Gelände hinter dem frisch renovierten U-Bahnhof Ham-burger Straße verlegt. Hier bauen er und Kollegen gemeinsam mit Obdachlosen und Ex-Obdachlosen das neue Containerdorf auf. 17 Menschen sollen sich dort nach Monaten auf Platte wieder an ein Dach über dem Kopf gewöhnen können.

„Das hier ist der Feldherrenhügel“, sagt Struck grinsend und zeigt auf den klapprigen Tisch mitten auf dem rund 1200 Quadratmeter großen Platz. Darauf liegt – von Steinen am Wegfliegen gehindert – der Dorf-Grundriss. Elf weiße Wohn-Container mit Fenstern und bunten Türen stehen schon, dazwischen jeweils ein Container, in dem Nasszellen entstehen.

„Hier hab ich was zu tun“

Gerade mischt Kurt, der bei Neue Wohnung in Altona wohnt, mit einer Maurerkelle Zement in einer Schubkarre an. Die Fundamente für die letzte Container-Reihe müssen gegossen werden. „Wir lernen ja aus unseren Fehlern“, sagt Michael Struck. „In Altona haben wir die Dinger einfach in den Sand gesteckt, und nach dem ersten Regen haben die Bewohner die Türen nicht mehr aufgekriegt.“

Fehler sollen in Barmbek nicht passieren, und so messen Bernd Weber, Angestellter bei Neue Wohnung, und der Architekt Ulrich Fahr akribisch die Abstände für die letzte Container-Reihe aus. „Herr Weber, hast du genug Band?“, ruft Fahr quer über den Platz. „Zieh mal bisschen strammer, was ist das für ein Schlabberkram!“ – da reißt auch schon die Leine. Die Prozedur beginnt von vorn.

Der Ton ist ruppig-freundschaftlich, jeder wird geduzt. „Mich nennen sie nur noch Moosi“, sagt Olaf und lacht, „seit ich die Moosbänder zwischen die Container geklebt habe“. Mit 64-Jahren ist er der Älteste auf der Baustelle. Olaf wohnt im Wohnprojekt für Obdachlose Wartenau, aber „hier hab ich wenigstens was zu tun“. Hinz & Künztler Kalle, der gerade Bauschutt und Müll in einen blauen Sack stopft, pflichtet ihm bei. Auch er wohnt derzeit bei Neue Wohnung in Altona, „aber bevor ich da rumhänge, pack’ ich lieber hier mit an.“ Ehrenamtlich, versteht sich.

Natürlich wäre der Bau des Dorfes schneller erledigt, wenn nur Firmen beschäftigt würden. „Aber das Geld haben wir nicht“, sagt Struck, „und die Männer haben Lust zu helfen.“ Harte Verhandlungen um das Grundstück und der strenge Winter verzögerten lange den Beginn der Baumaßnahmen. Jetzt wird ordentlich rangeknufft. Und wann ist das Dorf fertig? „Es ist fertig, wenn es fertig ist“, so Struck. „Aber wir beeilen uns“, sagt er schnell, „wir brauchen die Übernachtungsplätze ja sehr dringend.“ Schließlich hatte Senatorin Birgit Schnieber-Jastram (CDU) nach ihrem Amtsantritt im September 2001 die Finanzierung von 60 Einzel-Übernachtungsplätzen in dezentraler Lage versprochen. Seither ist nichts passiert.

Kaffeepause. Pausen sind wichtig, besonders für Leute wie Kurt. Vor zwei Jahren erkrankte der muskulöse Mann schwer. „Ich kämpfe immer noch“, so der einstige Bergmann und zeigt auf eine lange Narbe am Hals, „die Arbeit macht Spaß, aber ist ganz schön schwer“. „Du solltest dir lieber mal einen Hut aufsetzen, oder willst du eine braune Glatze bekommen?“, necken die anderen, die nicht wollen, dass er sich überanstrengt. Und dann: „Wer hat denn den Kaffee gekocht? Der ist ja ungenießbar!“

Einen ordentlichen Kaffee gibt es bei Uwes Imbiss. Uwe thront in seiner Holzbaracke, die direkt an das Neue Wohnung-Grundstück angrenzt, streicht über seine Schürze und sagt: „Alle waren dagegen, dass das Containerdorf hierher kommt. Ich auch.“ Man hatte schlechte Erfahrungen mit Obdachlosen gemacht, die in den öffentlichen Toiletten der U-Bahn gehaust hatten. Dann sei der Bahnhof renoviert worden, und alle waren froh, dass die Obdachlosen verschwanden.

Inzwischen ist Uwe dem Projekt gegenüber positiver eingestellt. Bei runden Tischen erklärte Michael Struck den Nachbarn das Konzept der Neuen Wohnung. Dass es einen Nachtdienst geben werde, der vor allem im Sommer für Ruhe sorgt. Dass sich ein Sozialarbeiter um die Leute kümmert und sie bei Alkoholproblemen oder Schulden an nahe gelegene Beratungsstellen für allein stehende Wohnungslose vermittelt. Dass die Container hübsche Dächer bekommen und das Gelände begrünt werden soll. „Das hört sich alles ganz vernünftig an“, meint Uwe. „Und wenn’s gut läuft, warum nicht.“

„Das Eis ist gebrochen“

Kaum zurück auf der Baustelle, serviert Olaf einen großen Becher heißen Kaffee. „Uwe hat uns aufgezogen, wir würden wohl keinen Kaffee kochen können“, sagt er und lacht. Die Kommunikation zwischen den neuen Nachbarn funktioniert offenbar. Mit anderen ist das schwieriger: Gerade verlässt ein braun gebrannter Mann aus der Wohngegend das Grundstück mit den Worten: „Die gehören doch alle ins Lager.“ „Manche Menschen werden sich durch nichts überzeugen lassen“, schnaubt Struck.

Doch der Lichtblick folgt schon Minuten später: Herr Rademann aus dem Wohnhaus nebenan schaut vorbei. „Begeistert bin ich nicht, dass die Container hierher kommen“, gibt er zu, „aber wir wollen mal abwarten.“ Rademanns Füße stecken in grünen Gummistiefeln, er arbeitet im Garten und braucht Sand. Den borgt er sich jetzt bei Neue Wohnung, und die geben gern. „Da ist das Eis doch gebrochen, wenn sich jemand etwas borgt“, freut sich Michael Struck.

Inzwischen brennt die Mittagssonne vom Himmel. Die Männer haben die Jacken ausgezogen und keine Zeit mehr für Gespräche. „Wolln’ uns mal wieder ins Arbeitsgetümmel stürzen“, sagt Olaf. „Aber du kannst ja mal wieder vorbeikommen“ – sprichts und schultert die Schaufel.

Annette Bitter

Zurück auf die Straße

Ende des Winternotprogramms

(aus Hinz&Kunzt 123/Mai 2003)

Das Winternotprogramm ist vorbei. Kirchencontainer, Wohnschiffe und Notquartiere in Fachhochschulen schließen ihre Türen. Für hunderte von Obdachlosen heißt es jetzt: Zurück auf die Straße. Denn selten zuvor schienen die Aussichten auf eine eigene Wohnung so schlecht zu sein wie in diesem Jahr.

„Es sieht ganz düster aus. Die großen Wohnungsgeber sträuben sich immer häufiger, Sozialhilfeempfänger aufzunehmen“, sagt Sigrid Hochdörfer vom Verein „Trotzdem“, der Haftentlassenen hilft, eine Wohnung zu finden. „Wahrscheinlich denken die, wer den ganzen Tag zuhause hockt, der randaliert schnell mal. Und die Saga ist ja zur Zeit auf einem totalen Sanierungskurs.“ Da passen Problemmieter wie ehemalige Obdachlose, Haftentlassene und Sozialhilfeempfänger nicht mehr ins Bild.

Das Integrationsprojekt unterhält 30 Übergangswohnungen für Haftentlassene und schaffte es bislang noch, zwischen 67 und 70 Prozent der Ex-Knackies in eigene feste Wohnungen zu vermitteln. „Aber es wird immer schwieriger“, sagt Sigrid Hochdörfer. Im zweiten Halbjahr 2000 fanden noch 19 Männer mit Hilfe des Vereins eine eigene Wohnung, 2001 waren es nur elf. Zahlen für das vergangene Jahr liegen noch nicht vor.

Ähnliche Erfahrungen macht auch das Bodelschwingh-Haus, eine stationäre Einrichtung des Diakonischen Werkes, in der 70 Männer vorübergehend wohnen können: Die Männer würden im Schnitt zwei bis drei Monate länger im Bodelschwingh-Haus wohnen. Einfach deshalb, weil sie trotz großer Anstrengung keine eigene Wohnung finden. Dieser Trend verschärfe sich in den kommenden Monaten noch, weil das Winternotprogramm ausgelaufen sei. Dann werden die etwa 215 Männer und Frauen, die den Winter über in zusätzlich eingerichteten Notunterkünften hausten, zusätzlich auf den Wohnungsmarkt drängen.

Doch den Beratungsstellen bleibt oft nichts anderes übrig als die Leute an Notlösungen wie das Pik As zu vermitteln. Der Traum von der eigenen Wohnung bleibt für viele ein frommer Wunsch. Denn die Vermittlungszahlen der sieben Beratungsstellen für Personen mit Wohnungsproblemen sprechen eine deutliche Sprache: Konnten die Sozialarbeiter vor fünf Jahren noch 40 Prozent der Wohnungslosen bei der Saga oder der Gesellschaft für Bauen und Wohnen GWG unterbringen, waren es im Jahr 2001 nur noch 20 Prozent.

Besonders dramatisch macht sich die Weigerung der stadteigenen Wohnungsunternehmen in der Beratungsstelle Billstedt bemerkbar. Dort nahmen Saga und GWG im Jahre 1998 fast 90 Prozent aller Menschen auf, die die Beratungsstelle der Caritas in Billstedt und Bergedorf vermittelt hatte. Im Jahr 2001 waren es nur noch acht Prozent. Für das vergangene und das laufende Jahr erwarten die Sozialarbeiter vor Ort keine Besserung. Und das, obwohl die beiden Wohnungsunternehmen mit insgesamt 134.000 Wohnungen nicht nur wirtschaftlichen Grundsätzen, sondern auch sozialen Aspekten verpflichtet sind.

Da hilft es auch wenig, dass die Organisatoren des Winternotprogramms zumindest keinen Anstieg der Obdachlosenzahlen bemerkt haben: „Die Zahl der Obdachlosen, die im Winternotprogramm Schutz vor der Kälte suchten, ist ungefähr gleich geblieben“, sagt Kay Ingwersen, Sprecher von pflegen & wohnen. Insgesamt wurden auf dem Wohnschiff „Bibby Altona“ in Neumühlen vom 1. November 2002 bis Anfang April dieses Jahres 12.400 Übernachtungen gezählt. „Das sind 3100 Übernachtungen weniger als im Vorjahr“, so Ingwersen. Dafür seien im gleichen Zeitraum wesentlich mehr Obdachlose ins Pik As gezogen. „Dort sind wir eigentlich ständig mit Überlast gefahren“, sagt Ingwersen. Obwohl das Pik As eigentlich nur 190 Schlafplätze bereitstelle, seien bis zu 245 Männer pro Nacht dort gewesen. Das Haus sei im Schnitt zu 125 Prozent überbelegt gewesen.

Warum in diesem Winter mehr obdachlose Männer ins Pik As gingen, könne er nur vermuten. Im Vorjahreszeitraum zählten die Mitarbeiter von pflegen & wohnen auf dem damaligen Wohnschiff „Bibby Challenge“ immerhin noch 15.500 Übernachtungen. „Ein Grund könnte sein, dass die ‚Bibby Challenge‘ damals einen großen Schlafsaal hatte, der sehr beliebt war“, so Ingwersen. „Es gab dort insgesamt mehr Platz für den Einzelnen.“ Doch auch das könnte ein Grund für sinkende Zahlen sein, wird in der Szene vermutet: In den vergangenen Jahren hätten Drückerkolonnen das Winternotprogramm der Wohnschiffe missbraucht, um ihre Mitarbeiter kostenlos unterzubringen. In diesem Jahr müssen die Männer auf dem Wohnschiff ihre Ausweise vorzeigen. Es sollen nur noch wirkliche Obdachlose an Bord. Selbst zum Ende des Programms im April seien die Belegzahlen noch immer sehr hoch gewesen. „Das liegt“, so Ingwersen, „auf jeden Fall an dem langen Winter, den wir dieses Jahr hatten.“

Zu einer anderen Bilanz kommen dagegen die Mitarbeiter der Tagesaufenthaltsstätte Bundesstraße, die die Containerplätze vermittelt hat: „Der Andrang war riesig“, sagt Mitarbeiterin Rika Klauzsch. „Am Anfang standen die Männer bis auf die Straße hinaus Schlange. Wir haben absolut steigende Zahlen und hätten noch mehr Kapazitäten gebraucht. Sowohl beim Winternotprogramm als auch bei der Essensausgabe: Zum ersten Male haben wir über das Jahr gesehen mehr als 20.000 Essen ausgegeben.“

Auch Peter Lühr, der Leiter der Beratungsstelle für Haftentlassene in der Kaiser-Wilhelm-Straße, sieht wenig Anlass zu Optimismus: In Hamburg werden täglich fünf Strafgefangene aus der Haft entlassen, die keine Wohnung haben, so Peter Lühr. Die Chancen für diese Männer, in absehbarer Zeit in eine eigene Wohnung zu kommen, hätten sich drastisch verschlechtert. „Die Stadt gibt gern Menschen zu uns in die Haftanstalten ab“, sagt Peter Lühr, „aber wieder nehmen will sie sie nicht.“

Petra Neumann

„Innendrin ein Verlierer“

Wie der verurteilte Mörder Iwan Kirr sein Leben änderte

(aus Hinz&Kunzt 123/Mai 2003)

Wenn Iwan Kirr etwas zu seiner Jugend einfällt, dann ein bestimmtes Wort. „Totalitär. Ich wuchs in einer totalitären Familie und in einem totalitiären Regime auf“, sagt der 36-jährige Rumäniendeutsche. Er sagt das nicht als Entschuldigung, er will seiner Geschichte auf den Grund gehen. Einer Geschichte von Ohnmacht und Wut, Gewalt und Hass.

Als Kind war er Opfer, als Erwachsener wurde er Täter. Erst Jahre nach seiner Verurteilung als Mörder entwickelte er Scham und Schuldbewusstsein und überwand seine immer lauernden Aggressionen. Kirr, der seit 1988 in Hamburg im Gefängnis sitzt, wurde sogar Mitbegründer von „Gefangene helfen Jugendlichen“, einem Projekt zur Gewaltprävention.

Ein Außenseiter war Iwan Kirr schon immer. In Rumänien galten die Deutschen als suspekt. Der Vater, für den Jungen unerreichbar und unberechenbar, schwor die Familie darauf ein, kein Sterbenswörtchen von Gesprächen nach außen dringen zu lassen. Schon eine harmlose Frage von Iwan an seinen Vater, etwa „Warum triffst du dich mit diesem Mann?“, genügte, und sein Vater rastete aus und verprügelte ihn. Das Ergebnis: „Ich hatte kaum Kontakt zu anderen.“

Andere Kinder wurden für ihn zu einer ständigen Bedrohung. „Ich fühlte mich immer angegriffen oder verspottet.“ In ihm brodelte es, ständig stand er unter Spannung, ein Gefühl zwischen Ohnmacht und wilder Aggression. Schon damals griff er zu dem einzigen Mittel, das er kannte: Wer ihn blöd anguckte, wurde vertrimmt.

Die einzigen Freunde, die er hatte, waren die Pferde. „Ich spielte ihnen auf der Flöte etwas vor und sprach mit ihnen.“ Mit zwölf Jahren gewann er die rumänischen Jugendmeisterschaften im Dressur- und Springreiten. Und schon als Jugendlicher ritt er Pferde zu. In gewisser Weise identifizierte er sich mit den Tieren. Als Deutschstämmiger, so glaubt er, bekam er zum Zureiten sowieso die schwächsten Tiere. „Ich versuchte, das Beste aus ihnen herauszuholen.“ So wie aus sich. Aber zwischen den Pferden und ihm herrschte nicht nur reine Liebe. „Ich habe es genossen, dass sie von mir abhängig waren und mir bedingungslos gehorchten.“ Die Kehrseite, trotz aller Siege: „Ich fühlte mich klein und mickrig.“

Als Iwan 15 war, beschloss der Vater zu fliehen – mit ihm. Die Mutter und die Großmutter sollten später nachkommen. Die Ankunft im Westen war für ihn ein Schock. Die Trennung von der Mutter, die Uniformierten an der Grenze, die falschen Papiere, die Odyssee von Lager zu Lager. „Und diese Farben!“ Iwan glaubte, noch nie so viel Buntes gesehen zu haben. „Ich kam aus einer grauen Welt“, sagt er. Und jetzt: Alles war zu haben – sofern man Geld hatte. Auch er wollte etwas vom großen Kuchen abhaben.

Aber vorerst musste er malochen ohne Ende: „Wir mussten Mutti zurückkaufen.“ Denn umsonst wollte Rumänien die Hausfrau nicht gehen lassen. Wer dran glauben musste, waren ausgerechnet Pferde. Iwan ritt Pferde zu; zehn, elf bewegte er am Tag. Aber nicht so, wie er es gewohnt war: Er barrte sie, das heißt, er trieb sie mit Gewalt kurzfristig zu Höchstleistungen an, so dass sie sich gut verkaufen ließen.

„Wir Türsteher waren die Könige der Nacht“

Apropos harte Hand: Iwan fürchtete sie, nämlich die des Vaters, suchte sie aber gleichzeitig. Mit 18 ging er zur Fremdenlegion. Bedingungsloser Gehorsam und der Wille zum Töten wurden antrainiert. Hier konnte Iwan seine Aggressionen legal ausleben. Nach einem Jahr desertierte er zwar, aber nicht wegen der Gewalt in der Legion. „Ich wollte leben wie andere junge Menschen, lachen, ausgehen – und nicht immer gedrillt werden.“

In Hamburg, wo seine Mutter lebte, unternahm er noch einmal einen Anlauf, Abitur zu machen. Aber es ging nicht: „Alles wurde ausdiskutiert, ich war es gewohnt, Sachen zu pauken. Diesem Unterricht war ich nicht gewachsen.“ Und: „Nach der Fremdenlegion konnte ich mit dem pubertären Geplänkel meiner Mitschüler nichts anfangen.“

Es war kein Zufall, dass Iwan Kirr in die Türsteherszene geriet. Denn hier fand er alles, was er suchte: Er hatte Macht, Menschen nach Belieben einzulassen – oder ihnen den Zutritt zu verwehren. Frauen bewunderten ihn, Männer hatten Angst vor ihm. „Wir Türsteher“, sagt Kirr, „waren die Könige der Nacht.“ Aber das genügte trotzdem nicht: „Innendrin fühlte ich mich wie ein Verlierer. Ständig hatte ich das Gefühl, dass sich alle über mich lustig machen.

Kirr fühlte sich völlig im Recht, jedem, der ihn „irgendwie“ ärgerte, „eine reinzuhauen“. Immer tiefer geriet er in die kriminelle Szene, Schlägereien waren für ihn normal, und manchmal trieb er auch Schutzgelder ein.

Eines Tages wurde ein Freund beleidigt. Kirr rastete aus, sah nur noch rot. „Ich hatte das Gefühl, der Mann verhöhnt nicht meinen Freund, sondern mich.“ Er packte zu, wie er es bei der Fremdenlegion an Strohpuppen geübt hatte, der Mann war tot – innerhalb von Sekunden. Nichts, rein gar nichts empfand er nach dem Mord, keine Schuld, kein Entsetzen. „Für mich war der Krieg ausgebrochen – so wie in der Fremdenlegion.“

Im Gefängnis fand sich Kirr blendend zurecht: Hier gilt das Recht des Stärkeren, und zu denen gehörte er allemal. Dann geriet sein Weltbild plötzlich aus den Fugen. Eine Freundin, die während der ganzen Jahre zu ihm gehalten hatte, fragte ihn eines Tages: „Was ist damals eigentlich passiert?“ Diese an sich simple Frage war ein Schock für ihn. „Zum ersten Mal empfand ich so etwas wie Scham und Schmerz.“

Das war 1996, sechs Jahre nach seiner Inhaftierung. Seitdem ist Iwan auf der Suche nach sich selbst. Er fing sogar eine Therapie an, was im Knast oft verpönt ist, etwas für angebliche „Weicheier“. Dabei ist das Gegenteil der Fall. „So hart habe ich noch nie gearbeitet“, sagt Iwan. Immer wieder musste er sich und seine Taten in Frage stellen – und langsam lernen, die Verantwortung dafür zu tragen. „Alleine hätte ich es nie geschafft“, sagt er und meint damit natürlich seine Freundin, die heute seine Lebensgefährtin ist, aber auch seinen Therapeuten Horst Uherek. Beide hielten unbeirrt zu ihm.

Wer ihn von früher kennt, glaubt einen anderen Menschen vor sich zu haben: offen, freundlich, liebevoll. Die unterschwellige Aggression, sonst immer spürbar, ist weg. Aber Iwan, der sich inzwischen im offenen Vollzug auf das Leben draußen vorbereitet, ist auf der Hut vor sich selbst. „Manchmal, da spüre ich sie noch, die Aggressionen“, sagt er. Aber sie überfallen ihn nicht mehr. Alle inneren Alarmanlagen gehen dann an. Und er weiß, wie er sich „runterschrauben“ kann. „Wenn mich jetzt ein Autofahrer ärgert, sage ich mir: Mensch, der hat einen schlechten Tag, vielleicht ist er wirklich ein Idiot. Na und, hat doch nichts mit mir zu tun.“

Hafen: Das Container-Dorf

Wie aus Altenwerder ein Terminal wurde

(aus Hinz&Kunzt 123/Mai 2003)

Manchmal kann Steve Kalinowski es gar nicht fassen, dass sein Traum so schnell in Erfüllung gegangen ist. Fahrer einer dieser Containerbrücken wollte der ehemalige Dachdecker werden. Und jetzt sitzt der 22-jährige Berliner hoch oben in seinem gläsernen Häuschen und überblickt das modernste Containerterminal der Welt: Altenwerder. Dass in dieser Sandwüste einst ein Dorf stand, kann sich der Neu-Hamburger gar nicht vorstellen. Wie auch: Von Altenwerder steht nur noch die Kirche.

„Altenwerder?“, schnaubt Heinz Oestmann. „Für mich heißt das nur noch Sandhausen, alles Spülfläche und Beton.“ Keinen Fuß mehr will der Fischer auf den Boden seiner einstigen Heimat setzen. „Damit habe ich abgeschlossen“, behauptet der 53-Jährige, der inzwischen im Nachbarort Finkenwerder lebt.

Dabei gehörte der Fischer zu den letzten 35 Bewohnern, die sich weigerten, dem Terminal zu weichen. Schließlich lebte seine Familie seit Generationen auf der Elbinsel. Um genau zu sein, seit 1740. Damals waren zwei Vorfahren im Ruderboot von Blankenese nach Altenwerder geflohen, um dem Militärdienst zu entgehen. Absolutes Ödland fanden sie vor.

„Die wenigen Bewohner lebten wie auf einer Hallig.“ Wie die meisten anderen auch wurden die Oestmanns Fischer – im Winter mussten sie mit Schlitten übers Eis zum Festland, wo sie auf dem Hopfenmarkt den Fang verkauften. Es war ein karges Leben. Keiner der Oestmanns wurde jemals wohlhabend oder gar reich.

Das Altenwerder, das Heinz Oestmann, Fischer in der achten Generation, kennen lernte, sah anders aus. In den fünfziger Jahren erlebte das Dorf seine Blütezeit: 2500 Einwohner lebten hier, die meisten arbeiteten im Hafen oder hatten etwas mit Schifffahrt zu tun. Auch bei den Oestmanns gings bergauf. Vater Oestmann hatte sich von Verwandten Geld geliehen und den Bau eines Fischkutters in Auftrag gegeben. „Die ‚Nordstern‘ und ich haben das gleiche Baujahr“, sagt Heinz Oestmann, der immer noch auf dem selben Kutter fährt.

„Der Einschnitt kam, als ich elf Jahre alt war“, sagt Heinz Oestmann. 1961 beschloss die Bürgerschaft, Altenwerder zum Hafenerweiterungsgebiet zu erklären. Die Folge: Bauverbot im Dorf – und der Plan, die Bewohner umzusiedeln. Richtig ernst wurde es allerdings erst 1973: Da beschloss die Bürgerschaft einstimmig und binnen weniger Minuten die endgültige Räumung des Dorfes. Den Bewohnern flatterte ein Brief ins Haus: die Aufforderung, ihre Häuser an die Sadt zu verkaufen. Alle zwei Wochen rückten Bagger an und rissen ein Haus ab.

Bis dahin hatte sich Oestmann „keinen Kopf“ gemacht. „Wer zur See fährt, hat sowieso zwei Zuhause“, sagt er. „Eins an Land und eins an Bord.“ Sein Vater war gestorben, und er hatte mit 20 Jahren den Betrieb übernommen. „Richtig weh“ tat es erst, als er herausbekam, dass seine Mutter das Elternhaus verkauft hatte. „Hinter meinem Rücken!“ Fünf Jahre lang redete der Fischer kein Wort mehr mit ihr.

Die Familie blieb zwar zur Miete in ihrem Haus wohnen, aber der Abschied rückte spürbar näher. Immer mehr Bewohner verkauften ihr Anwesen. Die Natur eroberte sich das Land zurück. „Altenwerder wurde immer schöner, ein richtiger Ökopark“, erinnert sich Oestmann – und die verbleibenden Bewohner rückten immer enger zusammen. Noch mehr als er selbst hing seine Frau Renate an dem Dorf. „Hier kannte jeder jeden, wir gehörten einfach zusammen“, sagt der Fischer. Aber er wollte nicht nur aus Sentimentalität bleiben. Er hatte Existenzangst. „Ich hatte kein Geld, um woanders neu anzufangen. Ich sah einfach keine Perspektive.“

Und er fand es „völlig unsinnig“, dass Menschen Containerterminals weichen sollten. Terminals, auf denen erklärtermaßen mehr Boxen umgeschlagen, aber weniger Menschen arbeiten sollten. Genau das empörte auch andere. Hafen ja, war die Devise, aber nicht auf Kosten der Menschen. Altenwerder wurde für viele ein Symbol für Freiheit und Solidarität, vielleicht ähnlich wie Bambule und die Bauwagenplätze heute.

Der Kampf dauerte Jahrzehnte. Für die Oestmanns bis 1997. Da gab es nur noch eine Handvoll Bewohner, alle bekannt durch Funk und Fernsehen. Beinahe schien es so, als würde sich die Stadt an ihnen die Zähne ausbeißen. Das Leben im Dorf brach immer mehr zusammen. An manchen Tagen waren sogar die Telefonleitungen tot. Alles hielten die letzten Mohikaner aus. Scheinbar jedenfalls. Letztendlich haben alle aufgegeben.

Bei Oestmann waren es ausgerechnet zwei Bäume, die seinen Kampfgeist gebrochen haben. Eines Tages rückten artenarbeiter an und fällten zwei Kastanien in der Nachbarschaft. „Da war für mich Schluss“, sagt Oestmann. Denn an diesen Bäumen hing der Fischer mehr, als ihm je bewusst war. „Als Kinder haben wir hier Kastanien gesammelt. Ich dachte: Wenn die jetzt schon so etwas Schönes abholzen, dann will ich hier auch nicht mehr leben.“

Er tat etwas Ungeheuerliches, fast das Gleiche, wofür er mit seiner Mutter jahrelang nicht mehr gesprochen hatte. Im Januar 1997 schrieb er heimlich an Wirtschaftssenator Erhard Rittershaus einen kurzen Brief: Er solle ihm ein Angebot machen. Schon ein paar Tage später fuhr der Senator in seiner Limousine vor, etwas ängstlich, so schien es Oestmann, ob ihn nicht doch Schläge statt Gespräche erwarteten. Aber Oestmann wars ernst. „Ich wollte nur, dass sie mir zu einem bezahlbaren Preis ein Grundstück anbieten, auf dem ich neu anfangen kann.“ Ritterhaus, so erinnert sich Oestmann, soll platt gewesen sein. „Wie, das ist alles, was sie wollen?“, soll er gesagt haben. Die Verhandlungen gingen zu beider Zufriedenheit aus. Renate Oestmann war allerdings ziemlich sauer auf ihren Mann. Zumindest im ersten Moment. „Wir beschlossen, in Finkenwerder ein Fischrestaurant zu eröffnen – in dieser Idee ging sie völlig auf.“

Ein Happy End hat es trotzdem nicht gegeben. Ein Jahr nach der Eröffnung starb Renate Oestmann an Krebs. Die Freunde von damals hat der Fischer so gut wie nie wieder gesehen. Vielleicht nahm jeder dem anderen übel, wie und wann er verkauft und die Insel mitsamt dem Traum von der Freiheit aufgegeben hat.

Wenn das modernste Terminal der Welt in Altenwerden ganz fertig ist, wird es 14 Brücken für Containerriesen geben – bisher sind es sieben – und eine für Feederschiffe, sagt Steve Kalinowski und setzt sich wieder in sein Führerhäuschen. Eigentlich könnte er jetzt eine ruhige Kugel schieben und „nur“ überwachen, wie seine Brücke die Arbeit erledigt. Aber wie die meisten hier will er ein „richtiger“ Hafenarbeiter sein. Wenigstens eine der beiden „Katzen“ – so werden die Containerkräne genannt – will er selbst bedienen. Regelrecht langweilig findet es Kalinowski, wenn die Katze den Container automatisch hochhebt und eine vorgesehene Bahn in einer vorgesehenen Zeit absolviert. Man spürt seine Begeisterung, wenn er seinen Job erklärt: „Ich picke den Container an – und lass ihn fliegen“.

Birgit Müller