Dartreportage: Zu Gast bei Karl-Heinz

Eine ungewöhnliche Begegnung in der Alsterdorfer Straße

(aus Hinz&Kunzt 122/April 2003)

Hein Gas präsentiert die Dart-Reportage: Hamburg hat viele unbekannte Ecken. Mit Häusern voller Geschichte und Menschen mit besonderen Lebensläufen. Um sie zu finden, werfen die Reporter einen Dartpfeil auf den Stadtplan. Die Geschichten erzählen von viel menschlicher Wärme oder dem Mangel daran. Diesmal: die Alsterdorfer Straße.

Ich stehe im Regen – und will nicht mehr. Nichts ist los. In der Alsterdorfer Straße zwischen Sengelmannstraße und Hindenburgstraße wird nur gewohnt. Ein paar alte Patriziervillen stehen hier, mit grünen Parks drumherum. Sonst Reihenhäuser, wie überall in Hamburg. Mit Wäscheleinen und Satellitenschüsseln auf den Balkons. Keine Geschäfte, in denen sich die Hausfrauen zum Klönen treffen. Keine Kneipen, in denen die Männer Fußball gucken. Und es ist niemand auf der Straße. Manchmal sieht man einen Menschen die schützende Wohnung verlassen, dann heißt es rennen, bevor er sein Auto erreicht und wegfährt, zu spannenderen Orten. An vier Tagen bin ich immer wieder hingefahren. Doch mein Notizblock bleibt beunruhigend leer.

In der Redaktion klang die Idee gut. Ein Wurf mit dem Dartpfeil auf Hamburgs Stadtplan, und eine Geschichte über den getroffenen Ort finden. Einfach hin, ein bisschen plaudern und die vielen Schicksale und Anekdoten, die einem dort unzweifelhaft zufliegen, aufschreiben. Denn Geschichten gibt es überall – angeblich.

Meine Verzweiflung wächst, da sehe ich plötzlich zwei Spaziergänger. Sie geben ein seltsames Bild ab. Sie stellen sich als Karl-Heinz und Volker vor. Karl-Heinz sieht zerbrechlich aus neben seinem hochgewachsenen Begleiter. Langsam und vorsichtig sind die Bewegungen des kleinen Mannes mit dem dünnen weißen Haar. Als er lacht, durchziehen unzählige Falten sein Gesicht. Er ist alt geworden in Alsterdorf. 68 Jahre ist er, und das ist „uralt“. „Ich denke, Karl-Heinz ist der älteste Mensch mit Down-Syndrom in Europa“, sagt der Betreuer.

Vielleicht liegt es daran, dass sie Mitleid mit mir haben, weil es regnet. Vielleicht liegt es auch nur daran, dass ich mittlerweile irgendwie glaubwürdig erklären kann, warum ich in der Alsterdorfer Straße stehe. Auf jeden Fall darf ich mitkommen und mir anschauen, wie und wo sie leben. Karl-Heinz wohnt in einer alten weißen Fachwerk-Villa. Sie steht in einem hügeligen Garten mit Tannen. Sie hat einen Fachwerkgiebel und auf der Freitreppe wächst Moos. Eine alte Pferdekutsche parkt in einem verrotteten Unterstand neben dem Haus. Vor einem Jahr ist er hergezogen. Das Haus, in dem er vorher wohnte, wurde abgerissen. Es stand auf dem Gelände der „Evangelischen Stiftung Alsterdorf“, die fast alle noch „Alsterdorfer Anstalten“ nennen. Doch die Anstalten verändern sich, deswegen musste Karl-Heinz’ Haus weichen. Auf dem Stiftungsgelände entsteht der „Alsterdorfer Markt“, mit Büros, Geschäften und Wohnhäusern. Er soll das neue Zentrum des Stadtteils werden.

In der Villa leben neun Menschen, aber die meisten sind gerade unterwegs, als ich komme. Das Leben spielt sich im Wohnzimmer ab. Es tobt nicht gerade, denn die Bewohner der Villa sind alle schon etwas älter. Der Fernseher läuft. Am Couchtisch sitzt Marion, vor ihr ein „Mensch ärgere dich nicht“-Spiel, die Figuren sind schon aufgestellt. Sie wartet nur noch auf einen Mitspieler, woraus wohl nichts wird, weil ich da bin, und man sich unterhalten muss. In einer Ecke sitzt Jonny und fragt mich immer wieder misstrauisch, ob ich seinetwegen da bin.

Gerahmte Fotos an den Wänden erzählen von gemeinsamen Ausflügen, Gartenfesten und ausgezogenen Bewohnern. Über die Jahre ist einiges zusammengekommen. Die Wohngruppe ist eine der ersten gewesen, die aus dem Gelände der Stiftung ausgegliedert wurde. „Jetzt wird wohl ganz Alsterdorf entvölkert“, befürchtet Betreuer Volker. Das ist Teil eines neuen Konzeptes, das die behinderten Menschen besser integrieren soll. „Community Care“ heißt es. Die behinderten Menschen sollen unter Nichtbehinderten wohnen und unter Leitung eines Betreuers auch in herkömmlichen Betrieben arbeiten. Klingt gut, aber Volker ist skeptisch. „Gut kompatible Leute kommen dann in die Wohngebiete“, sagt er, „die schweren Fälle werden dann wohl nach weit draußen verfrachtet.“

Vereinsamung droht auch in den Wohngebieten, wenn die Integration nicht funktioniert. Und das ist nicht unwahrscheinlich. In den 20 Jahren, in denen in der Villa geistig behinderte Menschen untergebracht sind, blieben die Kontakte mit den Nachbarn äußerst spärlich. „Wer will schon mit Behinderten zu tun haben?“ fragt Volker. Auf dem Stiftungsgelände war das anders. Dort gibt es eine eigene Infrastruktur, mit Läden, Werkstätten und Ärzten. Ein Ghetto, sagen die einen. Eine Stadt in der Stadt, die anderen.

Hier jedenfalls bleibt die kleine zusammengewürfelte Wohngruppe unter sich. Streitigkeiten, Reibereien und Unzufriedenheit mit den Mitbewohnern bleiben bei den unterschiedlichen Charakteren nicht aus. Karl-Heinz betont in so einem Moment, dass seine Haare nur deswegen grau sind, weil „ihn die Jungs immer ärgern“. „Auch hier hat sich niemand ausgesucht, mit wem er zusammenlebt“, stellt der Betreuer klar. Außer Marion, die einzige Frau in der Villa, sie ist mit einem anderen Bewohner liiert, sogar verlobt, schon ziemlich lange. Umständlich zieht sie den dünnen goldenen Ring von ihrem runden Finger. „Joachim“ steht drinnen, und „9.2.96“. Sieben Jahre – eigentlich Zeit für eine Heirat. Marion lacht, reibt Daumen und Zeigefinger aneinander: „Zu teuer!“ Später, als sie mir ihr Zimmer zeigt, lerne ich ihre zweite große Liebe kennen. Elvis, sein Bild hängt über ihrem Bett. Und ihr Hobby – eine umfangreiche Autogrammkartensammlung.

Volker und seine Kollegen verlassen die Villa jeden Abend. Von 20 bis neun Uhr sind die Bewohner allein. Am schwarzen Brett hängt die Telefonnummer des Betreuers, der Bereitschaftsdienst hat. Aber nur zwei der Bewohner sind in der Lage zu telefonieren. „Es ist immer ein Spagat: Einerseits will man größtmögliche Selbstständigkeit ermöglichen, andererseits Risiken vermeiden“, kommentiert Volker. Er ist froh, dass nur einer der Bewohner auf seinem Zimmer raucht. Bald soll die Betreuung in den Wohngruppen noch weiter reduziert werden. Dann kommen Betreuer nur noch zu festen Terminen vorbei, um konkrete Probleme mit den Bewohnern durchzusprechen.

Volker vermutet Kostengründe. Die geräumige Villa, die Betreuung – alles nicht umsonst zu haben. Deswegen muss die Wohngruppe demnächst auch in neue Häuser umziehen. Die Zimmer sind kleiner, und mehr Menschen können auf geringerer Fläche untergebracht werden. Dann wird eine der letzten Villen in der Alsterdorfer Straße abgerissen, Platz für ein modernes Wohnhaus geschaffen.

Auch Karl-Heinz zeigt mir sein Zimmer. Es ist im Erdgeschoss, der alte Mann würde die Treppen nicht mehr schaffen. „Das schönste Zimmer im ganzen Haus“, meint Volker anerkennend. Weiße Wände, eine hohe Decke und viel Platz. Der Blick aus dem Fenster geht auf die Gewächshäuser hinterm Haus, in denen Mitbewohner Klaus Zierpflanzen anbaut und auf dem Winterhuder Markt verkauft. Kein Lärm von der Straße dringt hierher. Ein Haufen Stofftiere auf dem Schrank, über dem Bett hängen Lebkuchenherzen. „Karl-Heinz ist der Beste“ steht mit weißem Zuckerguss verschnörkelt drauf geschrieben, daneben ein Kalender mit Katzenfotos.

Karl-Heinz setzt sich auf die bunte Bettdecke. Er hält kurz inne und erzählt dann von seiner Gartenlaube. So nennt er sein ehemaliges Domizil auf dem Anstaltsgelände. Viele Bäume wuchsen vor seinem Zimmer, das rundherum Fenster hatte. Er hatte das Gefühl, mitten im Wald zu sitzen. Das vermisst er. „Dabei ist es hier doch viel schöner!“, redet Volker auf den 68-Jährigen ein, „viel heller.“ Die alten Bäume vor dem Fenster im alten Haus schluckten alles Licht. Der alte Mann sagt nichts, lächelt nur etwas ratlos auf seinem Bett in dem hellen großen Zimmer.

Marc-André Rüssau

Ein ganz normaler Held

„Jesus von St. Pauli“: Streetworker Erich Esch

(aus Hinz&Kunzt 122/April 2003)

Um den Hals von Erich Esch baumelt ein langes Band. Daran, gut sichtbar, ist ein Kreuz befestigt. Der 59-Jährige trägt seine religiöse Überzeugung deutlich vor sich her. „Jesus von St. Pauli“ nennen die Leute den Streetworker deswegen, der im Schanzenviertel arbeitet und am Schanzenbahnhof auch einen Kiosk betreibt. Die Kunden bekommen dort alles – nur keinen Alkohol, überhaupt keine Drogen. Noch vor zehn Jahren hätte Esch wohl selbst am lautesten gelacht, hätte man ihm eine solche Zukunft vorausgesagt. Damals war er obdachlos und drogenabhängig. Und sein Leben schien keinen Pfifferling mehr wert. Aber er hat den Teufelskreis durchbrochen.

Abgeschrieben, auf verlorenem Posten, war Erich Esch schon als er auf die Welt kam. Sicher ist, dass er ausgesetzt wurde. Unsicher ist, wo und wann genau. Denn Erich Esch war ein Findelkind. Die Schwestern, die ihn fanden, schätzten „so Pi mal Daumen“, dass er drei Monate alt sein müsse. Das Amt legte sein Geburtsdatum auf den 28. Januar 1944 fest. Ausgesetzt wurde er – vermutlich – in Gardelegen in der ehemaligen DDR. Kompletter Fehlstart ins Leben.

Und so ging es weiter: Im Waisenhaus bei Moers wurde er oft geschlagen und mit neun Jahren von einem Erzieher vergewaltigt. „Und alles unter dem Mäntelchen des Christentums“, sagt Esch. Kurz darauf begann er, Alkohol zu trinken und Aceton zu schnüffeln. Manchmal, wenn er ganz traurig war, legte er sich nachts zu einem anderen Kind ins Bett, weinte und ließ sich trösten. Aber der arme Kerl musste seine Hilfe bitter büßen. „Am anderen Tag habe ich ihn garantiert verprügelt“, so der vermutlich 59-Jährige. „Ich konnte es nicht ertragen, schwach zu sein und Hilfe anzunehmen.“

Dabei habe er sich immer so nach Liebe und Zuneigung gesehnt. „Aber menschlicher Kontakt hat mir regelrecht Schmerzen bereitet“, sagt er. „Körperliche Schmerzen.“ Der Grund dafür war wahrscheinlich die Vergewaltigung. Der Erzieher missbrauchte ihn auch weiterhin. „Ich war ihm hörig. Er war der einzige, der sich um mich kümmerte.“ Kümmerte – das Wort klingt makaber. Denn der Mann schickte Erich auf den Kinderstrich. Sah zu, wie er immer mehr in einen Strudel der Abhängigkeit geriet: Alkohol, Drogen – Erich nahm alles, was er in die Finger bekam.

Mit 17 Jahren eine Verschnaufpause. Er schaffte es, sich von seinem Peiniger und Freund loszusagen, lebte ein paar Jahre bei Pflegeeltern in Moers und machte sich mit ihnen zusammen auf die Spurensuche. Vergeblich. Zwar fand er heraus, dass seine Mutter mit einem Herrn Heilmann verheiratet war, er jedoch wahrscheinlich aus dem Verhältnis mit einem Besatzungssoldaten stammte. Aber Kontakt zu seiner Mutter bekam er nicht. Bis heute nicht.

Immer tiefer driftete Erich in die Sucht und in die Kriminalität. Wenn er gut drauf war, hielt er sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, wenn er schlecht drauf war, lebte er auf der Straße, schnorrte, soff und prügelte sich. Selbst als er einen Saufkumpanen so zurichtete, dass der an den Folgen starb, machte er weiter wie gehabt. Bis 1994. Da ging es ihm körperlich so schlecht, dass er zum Arzt ging. Die Diagnose war tödlich: Leberzirrhose im Endstadium und Magen- und Darmgeschwüre. „Ich mach mich weg“, beschloss er und versuchte, seinem Leben ein Ende zu bereiten. Aber er wurde gefunden und lag im Koma in einem Krankenhaus in Gütersloh. Die Ärzte hatten ihn aufgegeben.

„Dann geschah ein Wunder“, sagt Erich Esch. Er erwachte aus dem Koma – mit einem wahnsinnigen Schrei: „Lieber Gott, wenn es dich wirklich gibt, mach aus mir einen neuen Menschen.“ Aber Esch erwachte nicht nur: „Ich war auf einmal kerngesund.“ Keine Leberzirrhose, keine Geschwüre, nicht mal ein Leberschaden ist zurückgeblieben. Nichts, er war absolut gesund. „Es war ein Geschenk, eine Gnade“, sagt Erich Esch. „Ich war ein neuer Mensch.“ Kein Wunder, feixt er, schließlich sei er nur noch Haut und Knochen gewesen, selbst das Blut wurde ausgetauscht. „Es war alles neu an dem Kerl“, sagt er und deutet auf sich selbst. „Wie Schleudergang in der Waschmaschine“ kam ihm die Runderneuerung vor.

Nie wieder trank er einen Tropfen Alkohol. Von einem Tag auf den anderen änderte er sein Leben. Merkwürdig, alles ging auf einmal wie von selbst. „Ich bekam eine Wohnung und eine Arbeit.“ Drei Jahre lang arbeitete er in einer Arbeitslosenwerkstatt, brachte es dort sogar zum Projektleiter. „Aber irgendetwas fehlte“, sagt er. Den Glauben an Gott hatte er schon gefunden. „Der zog sich sowieso und trotz der Erfahrungen wie ein roter Faden durch mein Leben, er war nur noch nicht festgezurrt.“

Eines Tages hörte er vom Jesus Center in Hamburg. Ein christliches Zentrum in der Schanze, das Drogen- und Alkoholabhängigen hilft. Das faszinierte ihn. Nur zu Besuch wollte er mal wieder nach Hamburg fahren, wo er früher schon jahrelang gelebt hatte. Da saß er dann hinter der Roten Flora, unterhielt sich öfter mit einem drogenabhängigen Mädchen. Fast noch ein Kind war sie. Er brachte ihr Kaffee und hörte ihr zu. Plötzlich packte sie ihn an der Nase und drehte sie ihm um. Das war kein Spaß, das war die pure Verzweiflung. „Du willst mir also wirklich helfen?“, stieß sie ungläubig hervor. Ob er es vorgehabt hatte, weiß Erich Esch gar nicht mehr so genau. Auf jeden Fall wusste er auf einmal, was ihm gefehlt hatte und was er in Zukunft machen wollte: anderen, die in seiner Situation waren, helfen. Er fuhr nur noch einmal nach Gütersloh zurück – um seine Sachen zu packen.

Seit 1999 arbeitet er im Jesus Center, betreibt ausgerechnet den Kiosk am Schanzenbahnhof, an dem er früher selbst gesoffen hat. Allerdings verkauft er heute keinen Alkohol mehr. Buletten, Würstchen, Getränke gibts zu günstigen Preisen – und vor allem hört er all den Junkies und Alkis am Platz zu.

Eines Tages traf er einen jungen Mann wieder, den er sofort wiedererkannte: Der alte drogen- und alkoholabhängige Esch hatte ihn als Kind zum Trinken verführt. „Er musste mir am Kiosk Bier holen, dafür durfte er mittrinken.“ Der „neue“ Esch ging zu ihm hin und bat um Vergebung. Der junge Mann hatte ihn auch sofort wiedererkannt. „Er schaute mich nur mit großen Augen an – und weinte.“ Weinte, weil er in seinem Leben schon viel auf den Kopf bekommen hatte, aber niemand war bislang auf die Idee gekommen, sich dafür bei ihm zu entschuldigen.

Solche Begegnungen gehen Erich Esch unter die Haut. Auch wenn ihm ein Junkie oder Alki zitternd die Hand auf seinen Arm legt und sagt: „Danke!“ Egal wofür, für ein Gespräch, für eine Suppe oder nur für eine Tasse Kaffee. „Das konnte ich früher nicht, mich bedanken, ich war da wie verstockt.“

Die Junkies und Trinker der Umgebung lieben ihn oder schätzen ihn zumindest. Auch wenn sie selbst nicht gläubig sind. Auf jeden Fall, weil man sich auf sein Wort verlassen kann, weil er ihre Sprache spricht und auch nicht erwartet, dass andere das gleiche glauben wie er. Obwohl: Wenn er predigt, „dann bekommen die Jungs biblisch schon was auf den Sack“, sagt er. Und bei Totenfeiern am Kiosk lässt er auch gerne mal „Großer Gott wir loben dich“ singen. Das hört sich unglaubwürdig an? Esch lacht. „Von wegen! Die singen alle mit – ich wette, das wird noch zum Schanzenschlager.“

Birgit Müller

Geborene Wilde

Sau rauslassen im Lehmitz auf der Reeperbahn

(aus Hinz&Kunzt 122/April 2003)

Gleich werden sie wieder dort oben auf dem Tresen stehen, die Gitarren in den Händen und unten das Publikum direkt vor den Füßen. Partytime im Lehmitz auf der Reeperbahn, auch diese Nacht spielt nachher die Band so, als wäre sie live im Fernsehen. Noch gehört der Tresen nur dem Publikum und all den vielen Bierflaschen. Doch bald springen dort die Musiker umher und versuchen, dabei nicht auszurutschen in glitschigen Pfützen. Mit Cowboystiefeln, sagt Otto aus der Band, darfst du nie dort hochsteigen. Und immer schön im Auge behalten, wo gerade erschöpfte Häupter schlafen.

Dem Burschen, der hier vorne auf einem Barhocker hängt, ist längst der Kopf durch die Hände und bis auf den Tresen gerutscht. Auch sein Schal klebt in einer Lache verschütteter Reste von Bier und Tequila. Morgen ist großer Fußball im Viertel. Aber heute, hofft Rudi, der Mann neben dem Kopf im Bier, „woll’n wa nur lustig sein“. Auch er trägt schreiendes Rot über dem Pullover, ein Trikot seines Berliner Lieblingsvereins. Und bestimmt ganz doll puppenlustig kommt ihm inzwischen der Abend vor, so angestrengt wie er jetzt versucht, mit den Augen bloß noch etwas Halt zu finden irgendwo an der gegenüberliegenden Wand.

Dann rutscht auch Rudi vom Hocker; und nachdem er seinen Körper wieder gerichtet hat, belohnt er sich erst mal mit neuem Bier. „ßvei Wlaschen“, befiehlt Rudi der Bedienung, die sogleich versteht, und dann beschließt er mit starrem Blick auf den willenlos betäubten Kopf links: „Schaff ich ooch alleene.“ Auf der Reeperbahn, nachts um halb elf im Lehmitz. Alle sind sie wieder erschienen an diesem Samstag, die Trinker und die Träumer, erlebnishungrige Pistengänger aus den Szenevierteln ebenso wie vereinsamte Herzen aus entfernteren Vororten. Junge und ältere Menschen, manche aus gutem Hause und andere, die schon länger ohne wirkliche Heimat sind. Und jedes zweite Wochenende auch die auswärtigen Fußballfans. Die schon mit Schals und Shirts verkleidet angereist kommen aus Berlin, Frankfurt oder Braunschweig.

Es ist wieder einmal überfüllt im engen Raum; nur wer frühzeitig erscheint, hat vielleicht Aussicht auf einen der Barhocker. Deren Sockel stecken starr verankert im Betonboden, und auch beim Spiel mit dem Tischfußballgerät gleich an der Eingangstür verhindern Gitterstäbe vor dem Münzeinwurf Manipulationen. Der Kicker ist mit einer dicken Glasplatte versiegelt, was sich immer wieder als ganz praktisch erweist. Verschüttete Biere können so niemals das Spielfeld verkleben. Sie fließen lediglich seitwärts ab, nur ab und zu auf Hosen oder Schuhe.

Der Laden ist wie ein Handtuch geschnitten, keine hundert Quadratmeter groß. Längs durch den Raum windet sich ein wuchtiger Tresen in Form zweier Hufeisen. Dazwischen ein paar schmale Korridore mit Platz für das Publikum. Bier wird in Flaschen ausgeschenkt, und die Bedienung kommt manchmal kaum nach mit der Beseitigung des Leerguts.

„Tequila!“, singt Offel, ein Wort Text nur in diesem Song der „Champs“ aus den fünfziger Jahren, einer schnellen und rockigen Instrumentalnummer. Offel ist Sänger und Gitarrist der Hausband im Lehmitz, und das Stück ist heute der Opener, ein klassischer Warmmacher zu Beginn ihres Auftritts. Genau genommen eröffnet die Hausband jede Samstagnacht mit „Tequila“, so wie sie das auch später an den Abenden bei jedem weiteren Set macht. Ein Gläschen Tequila wird dann jedem aus der Band gereicht, auch gemeint als Trinkanregung für das Publikum.

Der Berliner Fan mit dem Schal um den Hals hat diese Aufforderung nicht mehr nötig. Schwerfällig versucht er, ganz langsam den Kopf zu heben. Und sinkt doch gleich wieder kraftlos zurück zu seinen leeren Flaschen. Rudi sitzt kerzengerade schwankend und sucht Blickkontakt mit der Wand.

Oben auf der Tresenbühne covern sich derweil Otto und Offel, die zwei Gitarristen, durch die Geschichte der Rockmusik, von Hendrix zu den Doors, über die Chilli Peppers zurück zu Chuck Berry. Davor ergibt sich das Publikum trinkend und rauchend, lärmend oder schlafend der Nacht. Draußen könnte es tote Vögel regnen – vermutlich bliebe das Leben im Lehmitz davon gänzlich unberührt.

Jan sitzt am Schlagzeug, aufgebaut auf einem winzigen Fleckchen Raum direkt beim Abgang zum Klo. „The Devil“ nennen sie ihn, weil er die Trommeln so schnell schlägt wie jemand aus einer anderen Welt. Er ist der jüngste im Quartett, 25 Jahre alt, und er trommelt immer dann, wenn Jörg, Lehmitz-Besitzer und ebenfalls Schlagzeuger, pausiert. Er ist glücklich, dass bisher noch niemand die Idee hatte, auch ihn inmitten seiner Trommeln über dem Tresen zu platzieren. „Bei meinem ersten Auftritt“, sagt Jan, „da hab ich gedacht: Wer ist hier nicht durchgeknallt? Und was ist normal?“

Die musikalische Magie des „Roadhouse Blues“ von den „Doors“ zieht an diesem Abend eine junge Frau hinauf auf den Tresen. Da tanzt und rappt sie jetzt ganz ohne Scheu. Neben sich die zwei Jungs mit den Gitarren, dort unten die anderen, ihr Publikum. „Ich wollte, dass mich alle mal sehen“, sagt sie später, „alle haben plötzlich zu mir nach oben geschaut. Das war ein schönes Gefühl.“ Wenn nicht Samstagnacht, wann sonst schon kann der Mensch auch mal ein wenig seine Moral vergessen? Am Montag wird sie wieder die unauffällige Studentin sein, und ihr blonder Freund gesteht ganz schnell, doch immer noch irritiert: „Klar, ich fand das schon ganz gut. Aber eifersüchtig war ich auch.“

Und die Musiker? Wie spielt es sich dort oben auf dem Tresen vor 70, manchmal mehr als 100 Leuten, von denen nur ein Teil wegen der Band gekommen ist? „Oft kriegen wir sie zu fassen mit unserer Musik“, sagt Offel, der 34-jährige Sänger. Und Otto, der kahl geschorene 44 Jahre alte Gitarrist, fügt hinzu: „Bei einigen tut es schon weh, zu sehen, wie fertig sie sind. Die haben ein Scheiß-Leben hinter sich und meist auch noch vor sich. Aber Anerkennung kriegen wir irgendwann von jedem.“

So wie jetzt von dem jungen Mann mit dem langen, schwarzen Haar. Den ganzen Abend hat er vorne am Tresen gesessen, inmitten all der anderen und dabei doch nur für sich. Ein wenig bierschwer fällt ihm nun das Gehen, nachdem er aufsteht, das ist nicht zu übersehen. Doch dann ergreift er vor der Bühne das Mikrofon und singt mit Werner, dem Bassisten, erstaunlich stimmsicher „Born to be wild“. „Mir gefällt, wie die Band sich und die Musik präsentiert“, sagt er später, „zum Quatschen könnte ich auch zu McDonalds gehen.“

„Man muss sich arrangieren können, wenn man so eng zu dem Publikum steht“, sagt Otto irgendwann, „man schwitzt den Leuten ja direkt in die Bierflasche.“ Früher hat er schon auf den ganz großen Bühnen gestanden, unter anderem mit seiner eigenen Gruppe „Ottodox und die Reformierten“ oder auch bei „Charly Schreckschuss“ in der Bluesband. Sie alle sind professionelle Musiker, basteln gerade an neuen Gruppen oder helfen aus in befreundeten Kapellen. „Die Arbeit hier hilft uns, künstlerische Routine zu bewahren“, sagt der 39-jährige Werner, der früher mit seinem Bass bei „Cats“ im Orchestergraben gegenüber auf der anderen Straßenseite anzutreffen war.

Trotz anderer Träume kommen die Musiker gerne jede Samstagnacht ins kleine verräucherte Lehmitz. Der da vorhin mitgesungen hat, sagt Otto, der hat Spaß gemacht. „Aber ob wir nun dort stehen und Musik machen oder nicht“, fügt Otto nach einer Weile hinzu, „wer im Leben einfach nur noch röcheln kann, der wird das sicher auch ohne uns tun.“

Peter Brandhorst

Neustart: Kopfüber in ein anderes Leben

Drei Geschichten über einen Neubeginn

(aus Hinz&Kunzt 122/April 2003)

Alles auf Sieg

„Es geht um den Erfolg“, sagt Torwart Heinz Müller, „wer auf dem Platz sportlich erfolgreich ist, der verdient irgendwann auch gutes Geld.“ Wenn der 24-jährige Fußballprofi von seinem Neustart beim Zweitligisten FC St. Pauli spricht, dann versucht er zunächst, Gefühle zu unterdrücken. So sei halt das Business, sagt der Torwart.

In der Winterpause war er vom Bundesligisten Arminia Bielefeld an das Millerntor gewechselt zum scheinbar hoffnungslos abgeschlagenen Tabellenletzten der 2. Liga. In Bielefeld saß er nur auf der Bank oder Tribüne. „Bei Pauli habe ich die Chance zu beweisen, was ich kann.“ Deshalb, so Müller, sei es für ihn keine Frage und eine rational begründete Entscheidung gewesen, den Wechsel zu wagen. Obwohl manche Beobachter befürchteten, auch mit dem neuen sportlichen Umfeld gebe es für ihn keinerlei Aussicht auf Erfolg.

Dass die Mannschaft in der Rückserie zunächst hoffnungsvoll begonnen hatte, galt unter anderem als Erfolg des neuen Torwarts. Mittlerweile steckt das Team nach dem glücklichen Neustart wieder tief in der sportlichen Krise. Der Abstieg ist nahe – trotz der Leistung des Keepers. Die Fans und die Presse haben ihn schnell in ihr Herz geschlossen. Und der Torwart sagt: „Das war schon richtig, diese Veränderung zu wagen.“ Bis auf weiteres: Zumindest der Start ist geglückt.

Im Leben privat oder beruflich neu zu starten, mag von außen betrachtet manchmal wie ein dramatischer Schritt erscheinen. Das Eintauchen in Neues soll helfen, eine zunehmend als untragbar empfundene Last zu überwinden. „Man muss im Leben sehen, dass man durchkommt, darf nicht den Glauben an sich selbst verlieren“, sagt Torwart Müller nüchtern. Und: „Gerade als junger Spieler wird man oft einfach ins kalte Wasser geworfen.“ Das, so meint er, sei auch ein großer Reiz an der neuen Aufgabe beim FC St. Pauli – gemeinsam dafür kämpfen, nicht unterzugehen.

Ein Neustart also für ihn ausschließlich unter sportlichen Gesichtspunkten? Nein, antwortet der junge Profi, „das ist Stress vor allem für die Seele.“ Seine Freundin ist vorerst in Bielefeld geblieben, beendet dort ihre Ausbildung, und in Hamburg hat er privat noch keine neuen Freunde. „Ich spiele Fußball“, sagt Müller, „und im Fußball gibt es keine Freunde, das ist hartes Geschäft.“ Heute bist du der König, fügt er noch hinzu, und vielleicht schon morgen bloß noch der Depp. Im Augenblick gehört ihm die Krone.

Annette Bitter

Die große Freiheit

„Das ist super, bombig, klasse!“, freut sich Kai. Der 30-jährige Hinz & Kunzt-Verkäufer ist vor zwei Wochen in seine neue Wohnung gezogen. Ein Zimmer, Küche, Balkon – für ihn allein. Als Neustart will er das Ende seiner Wohnungslosigkeit zwar nicht verstanden wissen. „Ich werde wohl nicht die nächsten 20 Jahre darüber reden.“ Aber klar, der Gegensatz zu seiner Einzelzelle im Knast, zum Leben auf Platte und zu seiner letzten Unterkunft in einem Hotel am Nobistor ist gigantisch.

„In meiner Wohnung habe ich meine Ruhe. Hier gibts keine Kakerlaken. Ich kann aufs Klo gehen, ohne Angst, mir irgendwas wegzuholen. Ich hab ’ne Küche, in der ich mir jeden Tag was koche, und es ist mein Ding, ob die sauber ist oder nicht.“ Die Wohnung hat eine große Fensterfront, sagt Kai, da kommt viel Licht rein, so dass er sich nicht eingesperrt fühlt. Einen tollen Nachbarn habe er außerdem.

Einen echten Neustart plant Kai trotzdem – und mit der Wohnung ist der Grundstein für sein Vorhaben gelegt: „Wenn du 30 bist, fängst du was Richtiges an mit deinem Leben, habe ich mir geschworen.“ Nun ist es soweit. Beim Berufsinformationszentrum war er schon. Jetzt will er sein Fachabitur Sozialpädagogik machen. Ein Jahr wird er dafür brauchen und danach – man kann ja schon mal träumen – vielleicht Sozialpädagogik studieren. „In so ’nem Berberheim ist es immer laut, da kommt man nicht mal zum Pennen“, sagt Kai. „Wie soll man da arbeiten oder lernen?“

Kai meint, dass er schon lange sein Abitur hätte machen können, und auch sein Studium hätten ihm die Eltern finanziert. „Ich bin nämlich ein verdammtes Bonzenbalg“, sagt er und grinst. Aber dann war ihm das Kiffen wichtiger als Schule oder Uni. „Jetzt will ich mir was Neues aufbauen“, sagt er ernst. Und damit nichts dazwischenkommt, soll kein Foto von ihm in der Zeitung erscheinen. „Es müssen ja nicht gleich alle wissen, was der neue Typ da in der Wohnung für ’ne Geschichte hat.“

Annette Bitter

Ende eines Traums

„Noch nie war ich den Wurzeln der Unterhaltungskultur so nah“, sagt Ulrich Waller über seinen Neustart als künstlerischer Leiter des St. Pauli Theaters. Es werde es keine „Kammerspiele im Exil“ geben, sondern einen eigenen, „dem Ort angemessenen Umgang mit den Formen des Unterhaltungs- und Volkstheaters“. Gerade weil rund um die Reeperbahn so viel geboten wird, wolle er mit anspruchsvollen eigenen Produktionen ein neues Publikum „auf die Meile führen und verführen“.

Das klingt euphorisch und lässt fast vergessen, dass Waller die Kammerspiele nicht freiwillig verließ. Doch, da sei auch Wehmut, schließlich seien die Kammerspiele „ein Traum“ gewesen. „Man lässt dieses Haus mit seiner 85-jährigen Tradition zurück und weiß es nicht wirklich in guten Händen.“

Da ist noch immer die Wut zu hören, die ihn wohl auch zu seinem Neustart getrieben hat. Denn der kampferprobte Theatermann ist kein Typ für Dauerklagen. Seine Einschätzung, „dass man sich auch zu Tode verhandeln könne“, sieht er dadurch bestätigt, dass selbst der kompromissbereite Dominique Horwitz am Ende aufgegeben habe. Da versucht Waller doch lieber auf seine Weise zu retten, was zu retten ist. Die Menschen, die zum Erfolg der Kammerspiele beigetragen haben, sollen möglichst auch auf St. Pauli eine neue Heimat finden: „Ich werde versuchen, meine Familie mitzunehmen!“

Ungemütlich findet er vor allem die finanzielle Unsicherheit seiner neuen Arbeit. Anders als die Kammerspiele muss das St. Pauli Theater bisher ohne Subventionen auskommen. So gesehen, ist das Wasser sehr kalt, in das er springt. „Da kann man nur hoffen, dass man schnell wieder spürt, dass man schwimmen kann!“, sagt er tapfer und gibt dann selbst vor, an was er sich zukünftig wird messen lassen: „Wenn es Thomas Collien und mir gelingt, auch das St. Pauli Theater zu einem charismatischen Ort zu machen, das wäre mein größtes Glück.“

Sigrun Matthiesen

Neustart: Wir haben einen Traum

Vieles neu bei Hinz & Kunzt

(aus Hinz&Kunzt 122/April 2003)

Uwes Traum: Einmal Helgoland

Wenn diese Zeitung erscheint, bin ich noch gar nicht 60. Aber ich werde es am 22. April. Große Geburtstagswünsche habe ich nicht, habe ich nie gehabt. Wer sollte mir schon groß was schenken? Aber einen Traum hat ja wohl jeder. Meiner ist, nein war: eine Schiffsreise nach Helgoland. Ich habe die Lange Anna im Fernsehen gesehen und diese bunten, kleinen Häuser, ich nenne sie die „Papageiensiedlung“.

Als mir die Redaktion von den Fotos erzählte und mich nach meinem Traum fragte, da wusste ich erst gar nichts – und dann fiel es mir wieder ein: Helgoland. Ich hatte nie daran gedacht, mal wirklich dahin zu kommen. Immer fehlte das Geld. Ich war früher ja auch noch spielsüchtig. Als die mir dann sagten, dass wir wirklich und wahrhaftig nach Helgoland fahren, habe ich, das muss ich ehrlich sagen, fast geweint. Das war ein richtiger Schock. Ich nach Helgoland – und nicht alleine, sondern mit den beiden Fotografen Martin und Mauricio, ein richtiger Ausflug also.

Morgens um 8 Uhr holten sie mich ab. Meine erste Schiffsreise – das war wahnsinnig. Wir hatten gutes Wetter, die Sonne schien, ich war richtig aufgeregt. Die Lange Anna und die netten Häuser in Natur zu sehen, das war umwerfend. Martin und Mauricio haben mich ganz schön gescheucht: berg-auf, bergab. So hab ich auf jeden Fall viel gesehen. Nachts um 22 Uhr war ich wieder zu Hause. Ich fiel nur so ins Bett und war sofort weg. Also, ohne zu lügen, das war der schönste Tag, seit ich bei Hinz & Kunzt bin – und das ist schon lange, mehr als neun Jahre.

Uwe Dierks, 59 Jahre

Das neue Gesicht

Haben Sie’s gemerkt? Hinz & Kunzt hat ein neues Gesicht. Und damit meinen wir nicht nur unseren Verkäufer Uwe, der auf der Titelseite prangt und der schon immer davon träumte, einmal nach Helgoland zu fahren.

Wir werden in diesem Jahr zehn Jahre alt und fragen uns, was aus unserem eigenen Traum eigentlich geworden ist. Dem Traum, so vielen Obdachlosen wie möglich eine sinnvolle Aufgabe zu geben. Ihnen den Weg zurück in die Gesellschaft zu ebnen und gegen soziale Kälte in dieser Stadt anzugehen. Vieles ist uns gelungen, manche Missstände müssen wir wieder und wieder benennen. Deshalb haben wir zehn Geburtstags-Wünsche, die wir von diesem Heft an jeden Monat an die Öffentlichkeit richten. Der erste Wunsch: mehr Krankenbetten für Obdachlose.

Bei unserer Arbeit stehen Obdach- und Wohnungslose im Vordergrund. Deshalb haben wir uns gefragt: Warum bringen wir sie nicht aufs Titelblatt? Die Hinz & Kunzt-Verkäufer sind unsere Promis. Sie sind überall präsent, tragen zum besonderen Bild der Stadt bei. Daraus entstand die Idee, unsere Verkäufer mal nicht als Obdachlose zu zeigen, sondern sie nach ihren Träumen zu fragen und diese fotografisch umzusetzen. Dass sich mancher Traum sogar verwirklichen lässt, daran hatten wir zunächst gar nicht gedacht…

Mit dem Titelbild-Konzept geht auch unser verändertes Layout an den Start, kreiiert vom neuen Layouter Martin Kath: größere Fotos, aufgeräumtere Seiten, übersichtlichere Heftstruktur. Bei so viel Neuem lag es nahe, den Schwerpunkt dieser Hinz & Kunzt-Ausgabe unter das Motto „Neustart“ zu stellen.

Neu ist auch die Dart-Reportage. Die Reporter werfen mit geschlossenen Augen einen Dartpfeil auf den Stadtplan. Dort, wo er stecken bleibt, muss der Schreiber eine Geschichte suchen. Die ersten Reportagen schreiben übrigens Journalistik-Studenten, unter Leitung von Dr. Rudolf Großkopff (ehemals Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt).

Schon mal was von der Kunzt-Kommission gehört? In dieser Kommission „sitzen“ Literaten, Musiker, Kinder, Sportler und Hinz & Künztler, die abwechselnd kleine Kulturkolumnen schreiben. In diesem Heft empfiehlt Jurai, das Zoologische Museum zu besuchen, Schriftstellerin Tina Uebel rät zur Lektüre des „Mädchenbuches“ von Sven Amtsberg, und Ex-Box-Champion Jürgen Blin stellt junge Boxer vor, deren Namen man sich dringend merken muss…

Tatkräftig unterstützen Hamburger Krimi-Autoren Hinz & Kunzt: Sie schenken uns Kurzgeschichten. Darunter sogar Erstveröffentlichungen – wie die von Gunter Gerlach.

Sie merken: Uns hat dieser Neustart wahnsinnig Spaß gemacht. Jetzt kommt’s nur noch darauf an, dass Sie ihn genauso spannend finden.

Birgit Müller

Nr. 1: Mehr Betten für kranke Obdachlose

Zehn Jahre Hinz&Kunzt – zehn Geburtstags-Forderungen

(aus Hinz&Kunzt 122/April 2003)

Darum geht es:

Wer Fieber hat, gehört ins Bett. Für Menschen, die auf der Straße leben müssen, gelten andere Gesetze: Sie können sich nirgends auskurieren, ob bei Grippe oder offenen Beinen. Denn ein Fall fürs Krankenhaus ist das nicht. Zwar betreibt die Caritas eine Krankenstube für Obdachlose. Aber die hat nur 14 Betten – viel zu wenig für die mindestens 1281 Menschen, die laut der jüngsten Zählung der Sozialbehörde auf der Straße leben. Pflegedienstleiter Klaus Scheiblich: „Wir sind immer überbelegt.

Die Situation heute:

Obdachlose, die ein Bett ergattert haben und gepflegt werden müssen, sind trotzdem nicht aus dem Schneider. „Die häusliche Krankenpflege ist an die Bedingung geknüpft, dass es einen Haushalt gibt“, erläutert AOK-Sprecherin Renate Hillig die aktuelle Gesetzeslage. Diese wird strikt ausgelegt: Selbst Kassen-Mitglieder, die lange in einem Nachtasyl wie dem Pik As oder in einem Hotelzimmer leben, aber keine eigene Küche haben, haben bei schweren Krankheiten keinen Anspruch auf häusliche Pflege – ein Umstand, den laut Hillig auch manch Senior in einem Altenheim zu spüren bekommt.

Auch Obdachlose, die nicht krankenversichert sind und für deren Behandlungskosten eigentlich das Sozialamt aufkommt, gehen nach dieser Definition leer aus: „Krankenhilfeleistungen sind laut Gesetz entsprechend den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung zu entrichten“, sagt die Sprecherin der Sozialbehörde, Anika Wichert, und gesteht: „Da gibt es eine Lücke.“

Pflegen & wohnen (p&w), Betreiber der Übernachtungsstätte Pik As, führt derzeit Gespräche, um Pflegekosten in den Übernachtungsstätten erstattet zu bekommen. „Der Bedarf ist da“, so Sprecher Kay Ingwersen. „Es ist immer ein fürchterlicher Kampf um den Einzelfall“, ergänzt ein ehemaliger Sozialarbeiter.

Immerhin: Die Sozialbehörde unterstützt die Krankenstube für Obdachlose mit 280.000 Euro jährlich, 230.000 Euro beträgt schon heute der Eigenanteil der Caritas. Die Krankenkassen zahlen nichts, dabei waren laut Caritas allein im vergangenen Jahr 27 Prozent der Krankenstuben-Patienten bei der AOK versichert. Eine vom Hamburger Diakonischen Werk 2002 vorgelegte Studie belegt, dass sogar 60 Prozent der Wohnungslosen Mitglied einer Krankenkasse sind.

Die Zukunft:

Künftig wird alles noch schlimmer: Vom Jahr 2004 an brauchen auch diejenigen ein Bett, die sich bisher im Krankenhaus auskurieren konnten. Denn Krankenhäuser sind künftig gesetzlich verpflichtet, Behandlungen nicht mehr nach Krankenhaustagen, sondern nach so genannten Fallpauschalen (DRG) abzurechnen.

Das vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen überwachte System hat zum Ziel, Behandlungskosten bundesweit zu vereinheitlichen, Leistungen transparent zu machen und teure Liegezeiten im Krankenhaus zu verkürzen. Aus wirtschaftlicher Sicht und für das Gros der Patienten, die schneller nach Hause entlassen werden, um sich dort in vertrauter Umgebung auszukurieren, ist diese Regelung von Vorteil. „Für Obdachlose und alleinstehende Wohnungslose ist sie fatal“, so die Ärztin Dr. Frauke Ishorst-Witte, die in der Tagesaufenthaltsstätte Bundesstraße (TAS) eine Sprechstunde für Obdachlose anbietet. Sie müssen auf die Straße entlassen werden.

Eine soziale Indikation, die es Ärzten bisher erlaubt hat, auf Probleme eines Patienten einzugehen und ihn länger als aus medizinischer Sicht erforderlich im Krankenhaus zu behalten, ist künftig kaum mehr möglich. Aufwändige Gespräche und Zeitverluste, die durch wenig kooperative Patienten entstehen, können nicht abgerechnet werden. Obdachlose gelten aber als besonders schwierige – und somit künftig unwirtschaftliche Patienten.

Doch darf Wirtschaftlickeit auf Kosten der Patienten gehen? Für Lungenentzündung hat eine US-Studie vor und nach Einführung der Fallpauschalen ergeben, dass die Verweildauer im Krankenhaus tatsächlich um 35 Prozent zurückging, die Sterblichkeit dort um 15 Prozent sank und die Krankenhauskosten um 25 Prozent. Dafür aber stieg die Sterblichkeit außerhalb des Krankenhauses innerhalb der ersten 30 Tage um 35 Prozent.

„Es ist notwendig, das ambulante System jetzt schon auszuweiten“, so Dr. Ishorst-Witte – und auf finanziell sichere Beine zu stellen. Denn: „Wohnungslose haben so viele Probleme, da sind manche selbst mit der regelmäßigen Einnahme ihrer Medikamente überfordert.“ Die Ärztin plädiert für eine stärkere Vernetzung zwischen niedergelassenen und Krankenhausärzten und der Obdachlosenhilfe: „Ärzte sollten sich mit der Caritas-Krankenstube in Verbindung setzen und, wenn die kein Bett haben, zumindest die Mobile Hilfe oder die TAS informieren.“ Manch Rückfall oder Krankenhausaufenthalt, der wegen Verschleppung einer Krankheit nötig wird, könnte vermieden werden.

Schon heute liegt die Lebenserwartung Obdachloser bei nur 44,5 Jahren, so eine Studie des Instituts für Rechtsmedizin an der Hamburger Uniklinik. Das sind 30 Jahre weniger als der Bevölkerungsdurchschnitt in Deutschland.

So sollte es laufen:

– Mehr Krankenstuben-Betten für Obdachlose, wo geschultes Personal auch mit schwierigen Patienten umzugehen weiß.

– In Übernachtungsstätten muss häusliche Pflege möglich sein und finanziert werden.

– Krankenkassen und Sozialbehörde müssen auch bei Obdachlosen die Kosten für häusliche Pflege übernehmen.

– Stärkere Vernetzung zwischen niedergelassenen Medizinern, Krankenhausärzten und der Obdachlosenhilfe.

Annette Bitter

Betreuen, verfolgen, sperren

Eine kleine Chronik der Arbeitsmarktpolitik

(aus Hinz&Kunzt 122/April 2003)

27. Februar

„Suche eine Herausforderung“, schreibt ein Arbeitsloser nach 120 erfolglosen Bewerbungen auf ein Plakat und mietet eine drei mal dreieinhalb Meter große Werbefläche an der Ost-West-Straße. Kosten der ungewöhnlichen Anzeige des 34-jährigen Werbekaufmanns: 550 Euro. Resonanz: 120 Anrufe, „fast durchgängig von Medienvertretern“, sowie 60 bis 70 Arbeits-Angebote per E-Mail, „dabei acht von zehn auf freiberuflicher Basis, etwa als Finanzberater“. Zwischenstand vier Wochen später: „Bei zwei bis drei Sachen bin ich im Endspurt.“

Ein anderer Arbeitsloser versteigert sich im Internet und verkündet das per Pressemitteilung, um auf seine Qualifikation als Kommunikationswirt aufmerksam zu machen. Der Fernsehkanal „Neun Live“ kündigt einen „inhaltlichen Qualitätssprung“ an: Er will in einer neuen Show Arbeitslose vermitteln.

1. März

Unter dem Titel „Arbeit ist für alle da“ erscheint das Buch von Florian Gerster, Chef der Bundesanstalt für Arbeit (BA). „Neue Wege in die Vollbeschäftigung“ (Untertitel), so die Kritiker, zeige das Buch aber nicht.

12. März

BA-Chef Gerster bezeichnet den Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit als „Illusion“. „Das kann man sich nicht bei vielen Menschen leisten“, so der Behörden-Leiter auf einer Veranstaltung. Je nach Statistik gelten ein Drittel bis die Hälfte aller 4,7 Millionen Menschen ohne Job als langzeitarbeitslos. CSU-Chef Edmund Stoiber fordert, die Sozialhilfe für Arbeitsfähige um 25 Prozent zu kürzen – ein Alleinstehender ohne Job müsste dann von rund 230 Euro monatlich leben. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhilfeinitiativen teilt mit, dass sie aus Geldnot ihre Arbeit einstellen muss. Ihr wurden die Bundeszuschüsse gestrichen.

14. März

„Niemandem wird künftig gestattet sein, sich zulasten der Gemeinschaft zurückzulehnen“, sagt Bundeskanzler Gerhard Schröder in seiner Regierungserklärung und kündigt massive Kürzungen an: Arbeitslose bis 55 Jahre sollen nur noch zwölf Monate, Ältere nur noch 18 Monate Arbeitslosengeld erhalten.

Derweil wachsen die Haushaltslöcher bei der BA mit den Arbeitslosenzahlen. Bis Ende Februar hat die Behörde 1,5 Milliarden Euro mehr ausgegeben als eingenommen, so der „Tagesspiegel“. Im Vorjahr habe das Minus zum gleichen Zeitpunkt bei 666 Millionen Euro gelegen.

17. März

Das Arbeitsamt Lübeck lässt nach Alkohol riechende Arbeitslose künftig pusten. Wer mehr als 0,5 Promille im Blut hat, bekommt die Hilfe für den Tag gekürzt. Begründung: Er sei „nicht arbeitsfähig“. Weigert sich ein Betroffener, zum Amtsarzt zu gehen, streicht ihm das Amt für zwei Wochen die Unterstützung.

Kritiker zweifeln an der Rechtmäßigkeit des Vorgehens, ein Sprecher des Hamburger Arbeitsamts hält von dem Vorgehen wenig: „Wir wollen die Leute nicht drangsalieren.“ Am gleichen Tag stellen gewerkschaftlich organisierte Arbeitsamts-Mitarbeiter eine Erklärung ins Internet. Da die BA dieses Jahr Arbeitslosengeld-Einsparungen in Höhe von 2,89 Milliarden Euro fordere, laute das neue amtsinterne Zauberwort „Verfolgungsbetreuung“. Jede Möglichkeit zur Verhängung von Sperrzeiten solle genutzt werden. „Es werden Hitlisten eingerichtet mit dem Ziel zu schauen, wer in welcher Zeit wie viele Sperrzeiten verhängt.“

18. März

Nach Plänen des Wirtschaftsministeriums sollen Arbeitslose unter 25 Jahren, die einen Job oder eine Weiterbildung verweigern, die Hilfe komplett gestrichen bekommen. Im Gegenzug erklärt die Regierung nicht zum ersten Mal, sie wolle jedem jungen Menschen zu einem Arbeits- oder Ausbildungsplatz verhelfen. Derzeit sind bundesweit 580.000 junge Leute arbeitslos gemeldet. Die Zahl der Lehrstellen sinkt, bundesweit fehlen dieses Jahr mindestens 100.000 Ausbildungsplätze. Wegen der Kürzungen bei der überbetrieblichen Ausbildung fallen vermutlich weitere 80.000 Lehrstellen weg.

Ulrich Jonas

Neustart: Ali Turans teurer Name

Das wahre Märchen vom großen Konzern, der einen kleinen Mann um seinen Nachnamen bitten musste

(aus Hinz&Kunzt 122/April 2003)

„Bezahlen Sie einfach mit Ihrem guten Namen!“ Dieser Werbeslogan hat für Ali Turan aus Rothenburgsort seit ein paar Wochen einen neuen Klang. Genau genommen seit der Weltkonzern Volkswagen seine neue Familienkutsche vorgestellt hat und dafür ihm, dem 26-jährigen Autoteilehändler, eine sechsstellige Summe bezahlen muss. Denn das Auto heißt fast so wie Ali – und der hatte seinen Familiennamen in allen Varianten schützen lassen, so wie das sonst die Werbe- und Marketingstrategen der großen Konzerne tun.

Dabei ist der 26-jährige Ali Turan alles andere als ein „Global Player“, sondern ziemlich „local“. Denn seine Firma mit kleinem Verkaufsraum, vollgeparktem Hof und Werkstatt ist ein Ort, wo man mit einem Auto samt seiner Beulen und Macken gut aufgehoben ist. Im Regal liegen Scheinwerfer, Batterien und andere Ersatzteile. Der Chef, eher klein und kräftig, im dunklen Anorak, umrundet den Verkaufstresen, begrüßt einen Kunden und geht mit ihm auf den Hof. Sekunden später beugt er sich sich fachmännisch über eine geöffnete Motorhaube. Hinten in der kleinen Halle steht ein ausgebauter Motorblock neben einem aufgebockten Golf, an einem Mercedes beulen zwei junge Männer in blauen Overalls gerade die Tür aus, daneben lernt ein Azubi, ein Rad zu wechseln. Mit der chromglänzenden Werbewelt, in der Autos wie fliegende Teppiche über kurvige Panoramastraßen gelenkt werden, hat das hier nichts zu tun.

1998 übernahm Ali die Werkstatt von seinem Vater – da hatte er seine Einzelhandelskaufmann-Lehre gerade beendet und liebäugelte mit einem Betriebswirtschaftsstudium. Die erste Zeit als Chef war alles andere als leicht: „Ich hatte Ärger mit dem Finanzamt, die wollten eine riesige Steuernachzahlung von mir – mehr als ich bis dahin je verdient hatte.“ Schließlich pfändeten sie alle Konten, „und dann kamen noch Gerüchte auf, die Werkstatt Turan würde schlecht arbeiten.“ Er ging den Gerüchten nach und stellte fest, „dass es nicht um uns ging, sondern um eine andere Werkstatt, die Touran heißt.“

Kein Wunder eigentlich, denn in der Türkei, aus der Alis Eltern stammen, ist der Name ungefähr so verbreitet wie Mayer und Meyer. Ali beschloss, seinen Familiennamen schützen zu lassen. Den Tipp hatte ihm ein Schulfreund gegeben. Als dann im März 2002 ein Fax von VW kam, hielt er das für einen Scherz dieses Freundes. „Ich habs einfach weggeschmissen.“ Doch ein paar Tage später hatte er einen Brief aus Wolfsburg in den Händen: Wir freuen uns, Ihnen mitzuteilen, dass wir planen, unseren neuen Van „Touran“ zu nennen. Als Gegenleistung für die Rechte an Ihrem Namen bieten wie Ihnen ein Auto an. Etwas in der Art schrieben sie ihm. „Ich habe abgelehnt, schließlich stehen hier genug Autos auf dem Hof.“

Ali Turan grinst, und man ahnt, dass er kein einfacher Verhandlungspartner ist. VW wurde das erst langsam klar. Der Mann mit dem potenziellen Markennamen fuhr nämlich einfach in den Urlaub, nachdem er Angebote von 3000 bis 30.000 Euro kurzerhand ausgeschlagen hatte. „Mein Name ist mir einfach mehr wert“, versichert Ali Turan. Dabei guckt er nicht nur treuherzig, sondern meint das wirklich ernst. „Mir ist nicht egal, wo überall Turan drauf steht, bei einem Staubsauger hätte ich das für kein Geld der Welt gemacht!“

Im Urlaub bekam er plötzlich Anrufe von VW-Mitarbeitern, die Türkisch sprachen – was überflüssig war, denn der Mann mit dem türkischen Allerweltsnamen spricht fließend Hamburgisch. Experten könnten vielleicht sogar heraushören, dass er in Rothenburgsort geboren und aufgewachsen ist. Irgendwann im Laufe des Sommers ist es wohl auch in Wolfsburg klar gewesen, dass man sich entweder nach einem anderen Namen umsehen sollte oder endlich ein handfesteres Angebot auf den Tisch legen muss. Man kann darüber nur mutmaßen – denn VW spricht nicht darüber. Jedenfalls hat Ali Turan im vergangenen August einen Vertrag unterschrieben, in dem er eine sechsstellige Summe für seinen Namen bekommt. Wie hoch sie genau ist, darf er nicht sagen.

Ist er jetzt ein reicher Mann, der seine Werkstatt demnächst zumacht und in die Sonne fliegt? Ungläubig schaut er einen an, dann beschreiben seine kräftigen Hände einen großen, unbestimmten Kreis, der von den Azubis bis zu den Ersatzbatterien reicht: „Ohne Arbeit? Das ist nichts für mich, ich kann überhaupt nicht still sitzen.“ Nein, auch den alten Traum vom Studium wolle er nicht unbedingt verwirklichen. „Gerade weil das Geld wie ein Geschenk gekommen ist, will ich etwas Solides damit machen.“

Erst mal hat er seine Schulden bezahlt und „einen riesigen Fernseher gekauft“. Bei diesem Satz grinst er wie ein Kind, das einen Bonbonladen plündern durfte. Aber gleich sieht er wieder aus wie ein erwachsener Mann, spricht davon, dass er sich Immobilienangebote unterbreiten lasse, um vielleicht doch wegzuziehen aus der Eiffestraße, „irgendwohin ins Grüne“. Weil das besser sei für seinen Sohn.

Während er erzählt, kommen immer wieder Leute rein, Kunden und Angestellte, er grüßt, lacht, stellt Fragen und gibt Antworten auf Türkisch und Deutsch. Offensichtlich ist er auch für seine Leute kein anderer geworden. Muss er jetzt Schnorrer und Schmeichler fürchten? Wieder ein verständnisloser Blick und eine knappe Antwort: „Mit solchen Leuten bin ich nicht befreundet!“ Doch ja, natürlich kämen jetzt manchmal Bittbriefe oder dubiose Geldanlage-Angebote. Aber Ali Turan bleibt gelassen: „Ich werde erst spenden, wenn ich etwas gefunden habe, bei dem ich sicher bin, dass es solide ist und das Geld was bewirkt.“ Ansonsten vielleicht etwas mehr Urlaub als bisher. „Aber nicht zu lange, sonst suche ich mir dort eine Werkstatt und arbeite da ein bisschen mit“, lacht er. Sein Unternehmen ausbauen? „Vielleicht ein bisschen, aber nicht zu groß, das macht nur Probleme.“

Offensichtlich sind Ali Turans Träume längst nicht so groß und teuer, wie das, was sich Marketingstrategen bei VW für ihre Werbespots ausdenken. Deshalb konnte der Autoteilehändler aus Rothenburgsort auch ganz gelassen mit dem Weltkonzern aus Wolfsburg verhandeln.

Sigrun Matthiesen

Zwei Große im Schauspielhaus

Der Schauspieler Edgar Selge und der Statist Frank Kienitz stehen im „Menschenfeind“ gemeinsam auf der Bühne

(aus Hinz&Kunzt 122/April 2003)

„Ich will doch nur eins“, sagt Edgar Selge nachdrücklich, „um meiner selbst willen geliebt werden – und erfahre doch zu wenig Liebe.“ Ganz so persönlich, wie das jetzt klingen mag, meint Selge das allerdings nicht. Die Rede ist vom „Menschenfeind“, den der 54-Jährige gerade im Schauspielhaus gibt. Der Wunsch nach besonderer und einzigartiger Beachtung macht Alceste fast verrückt.

Besondere Beachtung erfährt allerdings ein ganz anderer. Alcestes Diener, gespielt von dem Statisten Frank Kienitz, der hinten auf der Bühne so groß über die Kulissenhecke hinausragt, dass einem ganz unheimlich zumute wird. Frank Kienitz ist in diesen Minuten auch ganz mulmig. Ein leichtes Gefühl der Panik beschleicht ihn, undeutlich zu sprechen, seinen Text zu vergessen oder gar seinen Einsatz zu verpassen. Als Alcestes Diener dringt er ein in diesen illustren Kreis, und der Zuschauer sieht, was er längst ahnt: Hier kommt ein ganz Großer. Frank Kienitz ist 2,20 Meter groß, und er spielt das Bindeglied zwischen der Außenwelt und dem Kreis um Alceste und Celimène. „Ich bin das Sinnbild für das Unheil, das überall hereinkommt“, sagt Frank Kienitz. „Keine Abgeschiedenheit ist groß genug.“

Dass er wegen seiner Größe abschreckend wirkt, hat Frank Kienitz schon häufig erlebt. „Die Menschen tuscheln, drehen sich nach mir um oder machen blöde Sprüche“, zählt er seine Erfahrungen auf. Bis 1996 sind ihm solche Erlebnisse tief unter die Haut gegangen. 1996 ist sein persönliches Wendejahr: Der Groß- und Außenhandelskaufmann wurde fürs Theater entdeckt. Er suchte in einer Buchhandlung gerade ein Geburtstagsgeschenk für seine Frau. Da sprach ihn der künstlerische Leiter vom Schauspielhaus an, „ob ich nicht irgendwo mitmachen will“. Frank Kienitz, gewohnt, dass sich die Leute über ihn lustig machten, wollte schon lospoltern.

Nach dem Motto: „Was wollen Sie von mir? Lassen Sie mich in Ruhe!“ Der 42-Jährige weiß immer noch nicht, was ihn damals geritten hat, dann doch nachzufragen… Auch Edgar Selge ist gewissermaßen entdeckt worden. Als Kind. Im Gefängnis. Sein Vater war nämlich der Direktor, und die Gefangenen suchten noch Mitspieler in ihrem Theater. Der kleine Edgar war ideal, zumindest vor seinem Stimmbruch. Auf Frauenrollen war er abonniert. Und genoss es. Hauptsächlich, weil er sich mal so richtig hervortun konnte. Denn ihn nervte, dass er bei seinen älteren Brüdern keine Anerkennung fand.

„Immer wurde ich den Kleinen zugeschlagen.“ Komik und Imitation, das merkte das Kind schnell, „sind Waffen und gleichzeitig Eintrittskarten in die Welt der Älteren“. So schnell fuhr dem Jungen, seit er mit den Großen auf der Bühne stand, jedenfalls „keiner mehr übers Maul“. Bis für Frank Kienitz das Gleiche galt, dauerte es ein Weilchen. Er ging also ins Schauspielhaus und fragte nach der Rolle. Einen Riesen sollte er spielen, ausgerechnet, neben Zwergen und Verkrüppelten, in einer Inszenierung von „Kasimir und Karoline“. Und was er nie geglaubt hätte: „Es machte mir wahnsinnig Spaß.“ Auf einmal war es ihm egal, das zu spielen, worunter er sein Leben lang gelitten hatte. Das lag wohl am Regisseur, glaubt er. „Der hat mir nahegebracht: Warum sollte ich seltsamer oder unnormaler sein als andere?“

Ja, warum eigentlich? Früher, da hatte ihn seine Größe allerdings klein gemacht. Ließ ihn in Deckung gehen vor anderen Menschen. Am liebsten hätte er sich in ein Mauseloch verkrochen. Seine Eltern, beide auch sehr groß, konnten ihm nicht helfen, im Gegenteil. Ihre Devise: bloß nicht auffallen. Einmal, da wagte er den Ausbruch, nahm an einem Wettbewerb teil und ließ sich zum größten Mann küren. Aber die Eltern freuten sich nicht über seinen Sieg, waren regelrecht sauer. Dabei hatte sich Frank so nach diesem Sieg gesehnt. Einmal jedenfalls wollte er belohnt und anerkannt werden. War wohl wieder nichts. Und so blieb er erst mal in seinem Gefängnis.

„Gefängnis“ – Edgar Selge lässt das Wort auf der Zunge zergehen. „Das ist ein Grundgefühl, das ich nicht mehr loswerde.“ Allein die Vorstellung, in einem Raum zu sitzen, der keine Türklinken hat, mit „schwedischen Gardinen“ vor den Fenstern. „Ich wusste als Kind schon, was es heißt, wenn die Tür zugeschlossen wird und man nicht mehr rauskommt.“ Frank Kienitz hat sein Gefängnis inzwischen verlassen, weitgehend jedenfalls. Ausgerechnet der Riese in „Kasimir und Karoline“ hat ihm das ermöglicht. Inzwischen hat er noch andere kleine Rollen gespielt. Einen Vorzeitmenschen beispielsweise, seine erste Sprechrolle.

„Wir brauchen keinen Fortschritt“, sagt Kienitz – das waren seine Worte im Stück, allerdings auch seine einzigen. Der Diener im „Menschenfeind“ ist für ihn tatsächlich ein Fortschritt. Mehrere Sätze muss er sprechen – und das auch noch in einem Stück, mit dessen Protagonisten er sich total identifiziert. Edgar Selge, sagt er, spreche ihm als Mensch und Rolle direkt aus der Seele.

Selge schätzt den großen Mann ebenso: „Er hat etwas Kostbares, was einem als Berufsschauspieler unter der eigenen Rauheit und Professionalität manchmal verloren geht.“

Besonders liebt Frank Kienitz den Satz: „Ich will erkannt und unterschieden sein.“ Das fordert Menschenfeind Alceste nicht nur von seiner Celimène, sondern auch vom Rest der Welt. Frank Kienitz kann diese Worte auswendig, mindestens so gut wie seinen eigenen Text. Auch Edgar Selge liebt das Stück. „Der Egoismus und der Wunsch nach besonderer Beachtung schlagen irgendwann in jeder Gesellschaft durch und bedrohen jede Gemeinschaft“, ist eine seiner Interpretationen. „Dem entkommt man nicht.“

Zum Schluss wünscht sich Alceste in die Wüste. Aber dieser Wunsch bleibt Illusion. „Es gibt keinen Wunsch, der außerhalb der Gesellschaft erfüllbar wäre“, sagt Selge. „Wir müssen miteinander zurechtkommen.“

Diesen in sich widersprüchlichen Alceste dem Publikum nahezubringen, das versucht er bei jeder Vorstellung aufs Neue. Das ist ja der Reiz beim Theater: „Eine gute Premiere heißt noch gar nichts“, sagt er. „Bei jeder Vorstellung muss man die Zuschauer erwischen.“ In diesem Stück ist der Anfang für ihn die Hürde. „Den würde ich am liebsten zweimal hintereinander spielen.“ Dann dieses Glück, die Entspannung, wenn der Funke übergesprungen und der Schlussapplaus aus vollem Herzen kommt. „Ich spüre, ob die Zuschauer einem die Gedanken schon von der Stirn ablesen.“

Der Schlussapplaus ist auch der große Moment von Frank Kienitz, dem Statisten. „Wenn die Zuschauer klatschen, habe ich das Gefühl, dass ein Teil davon mir gilt.“ Nach der Vorstellung entschwindet Edgar Selge wieder – bis zum nächsten Mal. Er probt in Frankfurt die „Frankfurter Verlobung“. In dem Stück spielt er einen Alt-68er, und Joschka Fischer kommt zumindest indirekt auch vor. Was bei Frank Kienitz als nächstes auf dem Spielplan steht, ist ungewiss. Er hofft, dass er bald wieder ein Angebot bekommt. Klar ist nur, dass er demnächst wieder bei „Kasimir und Karoline“ in Zürich und Berlin dabei ist. Das Drama bleibt sowieso für immer sein Lieblingstück. „Ich brauche den Namen des Stückes nur zu hören, dann kribbelts im Bauch“, sagt er. „Das ist wie mit der ersten Liebe, die vergisst man nie.“

Birgit Müller