Ein Helfer weniger

Geldnot: Caritas stellt Straßensozialarbeit ein

(aus Hinz&Kunzt 120/Februar 2003)

Man muss sich um Obdachlose dort kümmern, wo sie sich heimisch fühlen. Da kann man am meisten bewegen“, sagt Peter Ludt. Fünf Jahre lang war der 44-Jährige auf Hamburgs Straßen unterwegs und kümmerte sich um die, an denen andere lieber vorbeigehen. 375 Menschen hat er in dieser Zeit betreut, viele über Jahre, so seine persönliche Bilanz – nun ist Schluss. Da sein Arbeitgeber, der Caritasverband, angesichts sinkender Einnahmen sparen muss und auch die Stadt nicht mehr Geld in Straßensozialarbeit investieren will, wechselt Ludt in die Obdachlosen-Krankenstube auf St. Pauli, wo ein Kollege in den Ruhestand geht.

„Bedauerlich“ findet das der gelernte Sozialpädagoge: „Die Obdachlosen werden darunter leiden.“ Anders als die Kollegen innerstädtischer Hilfseinrichtungen, die definierte Zielgruppen wie etwa Alkoholiker betreuen sollen, eilte Ludt mit seinem Auto immer dorthin, wo es gerade brannte – zur Not auch in die Vororte und so lange, wie es eben nötig war. „Ich musste nicht im Minuten-Takt Gespräche führen“, so der Sozialarbeiter rückblickend. „Wenn jemand Hilfe benötigte, konnte ich sagen: Alles andere ist jetzt nebensächlich.“

Doch Ludt weiß: Der Erfolg seiner Arbeit ist nicht in Zahlen messbar. In Zeiten leerer Kassen ist das ein ungünstiger Umstand. Statt seine Stelle zu streichen, würde der Sozialpädagoge – wenn er denn könnte – lieber mehr professionelle Helfer durch die Stadt gehen lassen. „In Frankfurt zum Beispiel kümmern sich sieben Straßensozialarbeiter allein um Obdachlose.“ Langfristig lohne sich das, meint Ludt und erzählt die Geschichte zweier „langjähriger Klienten“, eines Mannes und einer Frau. Kennen gelernt hat er sie vor Jahren auf dem Gerhart-Hauptmann-Platz. Oft hat Ludt mit ihnen gesprochen, immer wieder Hilfe angeboten – schließlich mit Erfolg: „Früher haben sie von Sozialhilfe gelebt“, erzählt der Streetworker. „Heute sind sie miteinander verlobt, haben zwei Kinder, die Frau ist im Mutterschutz und der Mann arbeitet als Lagerarbeiter für eine Zeitarbeitsfirma.“

In Ludts Augen ist das nicht nur eine schöne, sondern auch passende Geschichte: „Man könnte Obdachlose noch weitaus mehr motivieren, etwas für sich zu tun“, glaubt der Profi-Helfer. „Denn meist haben sie einfach nur Angst vor dem nächsten Schritt.“

Ulrich Jonas

Her mit dem Strampler!

In der „Geschwisterschule“ bereiten sich Kinder auf Nachwuchs in der Familie vor

(aus Hinz&Kunzt 120/Februar 2003)

Sonnabendnachmittag in der Geburtshilfe des Allgemeinen Krankenhauses Altona. Die vierjährige Helene hat soeben ein Geschwisterchen bekommen. Es ist rund 50 Zentimeter groß, etwa vier Kilo schwer und bereits bekleidet mit Hemd und Strampler. Der Kopf fällt, wie bei jedem Baby, zurück, wenn man ihn nicht stützt. Aber warum schreit das kleine Kind nicht, als Helene es an einem Arm unbekümmert in die Höhe schwenkt?

Das Geschwisterchen ist eine Puppe. Sie war in einer blauen Tasche, bevor sie das Licht dieses Tages erblickte. Ort des Geschehens ist auch nicht der Kreißsaal, sondern ein Konferenzraum, der mit Luftballons dekoriert ist. Helene besucht die „Geschwisterschule“, einen zweistündigen Kurs für Kinder, die demnächst Bruder oder Schwester bekommen. An der Puppe wird sie nachher erproben, wie man den Nachwuchs anfasst. Und wie besser nicht.

Wenn ein Baby kommt, verändert sich die Welt des älteren Kindes. Bei aller Freude: Es muss die Eltern nun teilen, empfindet vielleicht Konkurrenz und Eifersucht, fühlt sich ausgeschlossen oder ist einfach unsicher, was man mit diesem runzeligen Wesen anstellen soll, das zum Spielen doch nicht taugt.

„Wir zeigen den Kindern ganz praktisch, wie sie mit dem Säugling umgehen können“, erklärt Jasmin Szameitat, die den Kurs in Altona mit drei Kolleginnen leitet. Die künftigen Geschwister lernen, dass sie etwas tun können und nicht abseits stehen müssen. Sie hören, wie wichtig sie für das Baby sind – schließlich können sie all das schon, was ihr Bruder oder ihre Schwester erst noch lernen muss. Das stärkt das Selbstbewusstsein, erst recht mit dem „Geschwisterdiplom“, das sie sich ins Kinderzimmer hängen können.

In den USA sind solche Angebote üblich, in Deutschland noch rar. In Hamburg ist Hilkka Zebothsen, Öffentlichkeitsreferentin beim Landesbetrieb Krankenhäuser, die Mutter der Kurse: „Das Projekt ist mein Baby“. Sie hörte über eine Freundin von der Idee, recherchierte, schrieb ein Konzept. Im Juni fand im AK Wandsbek der erste Kurs statt, weitere folgen seitdem vierteljährlich. Im Oktober begannen monatliche Veranstaltungen im AK Altona. Demnächst will das AK Barmbek starten.

Das kostengünstige Angebot – Wandsbek verlangt 5 Euro, Altona 10 Euro – ist „Marketing fürs Krankenhaus“, sagt Hilkka Zebothsen. Schließlich ist die Geburtshilfe ein Bereich, in dem die Patienten frei zwischen den Häusern wählen; die Kliniken müssen die Zahler umwerben. In Altona haben sich diesmal drei Mädchen (die jüngste zweidreiviertel) und drei Jungen (der älteste acht) zum Diplom eingefunden. Die Eltern bleiben draußen. Einige Kinder halten sich deshalb an mitgebrachte Plüschbären, andere kuscheln sich bei Jasmin Szameitat und ihren Kolleginnen an.

Die anfängliche Zurückhaltung verfliegt schnell. Kinderkrankenschwester Ulrike Vick schlägt ein Buch auf – „Woher die kleinen Kinder kommen“ – und erklärt anhand der Zeichnungen, wie ein Baby in den Bauch der Mutter gelangt und wie hinaus.

Die Kinder kennen sich schon gut aus in der Welt von Scheide und Pipimann, von Samen-Rennbahn und Fruchtwasser. Star der Aufklärung ist der fünfjährige Ciwan, der seine Antworten stets mit einem ausholenden „Also…“ einleitet. Also, er weiß, was eine Nabelschnur ist und dass die Milch in Brusthöhe aus der Mutter kommt. Nur die Dauer einer Schwangerschaft legt er mit zwei Jahren etwas zu großzügig fest.

Theoretisch gerüstet, geht’s in die Praxis. Lilli hat bereits eine der Puppen adoptiert, die erst später auf dem Programm stehen. Sie schleppt das Baby, das halb so groß ist wie sie selbst, während des Ausflugs durchs Geburtshilfezentrum vergnügt mit. Etwas ratlos stehen die Kinder in einem der Geburtszimmer. Auf diesem Bett sollen Frauen unter großen „Bauchschmerzen“, wie Ciwan weiß, ein Kind zur Welt bringen? Das übersteigt – wen wundert’s – das Vorstellungsvermögen.

Da ist Zimmer 113 schon anschaulicher, wo zwei Neugeborene auf dem Arm ihrer Mütter schlafen. Der Junge Bo ist sechs Tage alt, das Mädchen Jette zwei. Leise und mit großen Augen stehen die Kinder vor den Babys und streicheln vorsichtig über die faltigen Händchen. Weiter geht’s zum Kardiogramm, das den eigenen Herzschlag hörbar macht. Beim Geschwisterchen, noch im Bauch der Mutter, soll man ja die Herztöne hören können. Jetzt erfahren die Jungen und Mädchen, dass sie so etwas auch haben – kein Grund also, auf das Baby neidisch zu sein.

Zurück im Konferenzraum: Die Kinder stärken sich mit Fruchtjoghurt und Vitaminsaft von bekannten Kindernahrungs-Herstellern – keine Geburtshilfe ohne Werbegeschenke. Dann dürfen die Kids zur Tat schreiten: Ulrike Vick gibt jedem eine Baby-Puppe, die Kinder legen sie auf weiße Tücher und nehmen den Kampf mit Strampler und Body auf, um bis zur Windel vorzudringen. Wichtigste Lektion: immer den Kopf des Babys stützen. Das gilt auch, als die Kinder die Puppen in eine blaue Plastikwanne legen und waschen spielen. Anschließend: abtrocknen, neue Windel anlegen und die Kleidung wieder antüdeln.

Direkt anstrengend, so ein Geschwisterchen. Verständlich, dass es gelegentlich zu grob unsportlichem Verhalten kommt: Ein Junge stützt sich auf dem Gesicht der Puppe ab. Ein Mädchen wendet sich lieber ihrem Teddy zu, wodurch der Kopf des Babys mit einem unschönen „Klack“ auf dem grauen Teppichboden aufschlägt. Und ein anderer Junge erkundigt sich schon mal nach den Geschenken, die für den Abschluss versprochen wurden.

Freundlich greifen die vier Leiterinnen ein, zeigen, helfen, ermuntern. Als die Eltern zum Abholen kommen, können alle sechs Kinder mit Bravour vorführen, wie sie ein Kleinkind tragen. Alle sind gewachsen in diesem Kurs. Sogar die Puppen: Als Ciwan stolpert und seine Puppe hinfällt, sagt er souverän: „Macht nichts, das Baby ist ja jetzt schon älter.“

Stolz nehmen die Kinder ihre „Diplom“-Urkunde entgegen sowie eine Medaille zum Umhängen, die eine Kollegin aus Pappe und Glitzersternen gebastelt hat. Das Namensschild, das sie für alle Zeiten als wichtige Mitarbeiter des AK Altona ausweist, dürfen sie behalten.

Für den Start ins Geschwisterleben gibt es außerdem eine Tragetasche mit Babyöl, Seife und Creme. Sicherheitshalber ist auch die „Milumil-Schlaflied-Hitparade“ auf CD dabei – falls den Profi-Geschwistern der Nachwuchs doch mal auf die Nerven geht.

Detlev Brockes

Hermanns heilende Hände

Warum der Erfolg des HSV von einem Bayern abhängt

(aus Hinz&Kunzt 120/Februar 2003)

Bambi, Oskar, Bundesverdienstkreuz — immer werden die ausgezeichnet, die sowieso schon im Rampenlicht stehen. Zum Abschluss unserer Serie „Menschen in der 2. Reihe“ stellen wir HSV-Masseur Hermann Rieger vor.

Gerade ist ein verletzter Spieler reingekommen – den muss ich noch behandeln.“ Hermann Rieger steht an der Tür und streckt zur Begrüßung den rechten Ellenbogen in Richtung des Gastes. Der greift dankbar zu, alles besser als Riegers Hände und Unterarme. Die glänzen speckig von Massageöl.

Um 20.45 Uhr ist der Fußballer endlich durchgeknetet, Hermann Rieger hat sich die Hände gewaschen und bittet in sein Reich: den Massage- und Physiotherapieraum für die Profi-Spieler des Hamburger Sportvereins am Trainingsgelände in Ochsenzoll.

Hier stehen Behandlungs-Liegen im HSV-Blau, Rotlicht-Geräte hängen von der Decke des weiß gefliesten Raumes, Verbandsmaterial, Cremes und Tuben stehen auf Fensterbänken, Gymnastikbälle stapeln sich in einer Ecke, gleich daneben eine geräumige Badewanne, durch deren Abfluss gurgelnd Wasser fließt. Es riecht nach Zitrus und Menthol. Alles wirkt steril – bis auf die Pinnwand, an der Autogrammkarten hängen und die Namen der Bundesliga-Profis, die sich am folgenden Tag in die Hände des Masseurs Hermann Rieger begeben – Hollerbach, Hoogma und „TaKa“ für den japanischen Neuzugang Naohiro Takahara. Und dann ist da noch der Fernseher, der unter der Zimmerdecke hängt, und in dem – wie sollte es anders sein – Fußball läuft oder Musik.

Kurz streckt Roda Antar, der eben noch auf der Behandlungspritsche lag, den Kopf zur Tür herein, um sich zu verabschieden. „Tschau Burschi“, ruft Rieger dem libanesischen Fußball-Talent in schönster bayrischer Mundart hinterher.

„Ich bin morgens der erste, der kommt, und abends der letzte, der geht“, sagt der im bayrischen Alpenort Mittenwald geborene Rieger. Um 7.30 Uhr hat sein Arbeitstag begonnen. Jetzt sind seine Augen leicht gerötet, und die Charakterfalten haben sich ein bisschen tiefer in das Gesicht des 61-Jährigen gegraben. Gleich, um 22.30 Uhr, kommen noch zwei verletzte Spieler zur Behandlung – Bernardo Romeo und Stephan Kling. Die brauchen ihre Versorgung für die Nacht, bekommen Salbenverbände. Drei Mal pro Tag werden verletzte Profi-Fußballer behandelt, um den Heilungsprozess zu beschleunigen. „Spieler, die nicht spielen können, sind totes Kapital“, erklärt der Masseur, bei dem diese wirtschaftliche Denkweise wie auswendig gelernt klingt.

„Eigentlich bin ich kein richtiger Arbeiter“, sagt Rieger dann mit Blick auf seine 16-Stunden-Tage, die er nun seit mehr als 20 Jahren beim HSV schiebt. „Ich freue mich jeden Tag wieder, hierher zu kommen“, sagt er, fährt sich mit den kräftigen Händen durchs grau gelockte Haar und lacht. Die Müdigkeit, die man dem muskulösen Mann eben noch ansah, scheint wie weggeblasen.

Rieger hat ohne Zweifel Durchhaltevermögen. „Für diesen Job muss man topfit sein“, sagt der Masseur, der vor allem die vorderen und hinteren Beinmuskeln und die Rückenmuskulatur seiner „hochwertigen Jungs“ bearbeitet. Doch Rieger verdankt seine Kraft offenbar vor allem seiner puren Leidenschaft für den HSV, dem er sich mit Leib und Seele verschrieben zu haben scheint.

Damals, 1978, als Rieger vom 1. FC Bayern München nach Hamburg kam, haben sie dem Ur-Bayern vorausgesagt, er würde es keinen Monat im Norden aushalten. „Aber dann habe ich so viel Spaß gehabt und Erfolge gefeiert mit Stars wie Hrubesch, Kaltz und Keegan, da habe ich das Kündigen einfach vergessen“, erzählt er. So folgte ein Jahr dem nächsten. Heute bekommt der einstige Trainer der Deutschen Ski-Nationalmannschaft nur noch Heimweh, wenn er einen alten Ski- und Bergfilm im Fernsehen sieht – „da bekomme ich richtige Gänsehaut.“

Die Fans des HSV dankten Rieger seinen unermüdlichen Einsatz 1994 mit der Gründung des nach ihm benannten Fanclubs „Hermann’s treue Riege“. „Alles vernünftige Fans, keine Hooligans oder Leute, die mit Bierdosen schmeißen“, sagt Rieger.

Ihren Kult-Masseur als Mensch in der zweiten Reihe zu bezeichnen, werden sie vielleicht als Beleidigung empfinden. Doch Rieger steht dazu: „Ich wirke hinter den Kulissen. Das ist mein Job und das ist es, was ich will.“ Jeder Spieltag sei wie ein großes Finale, auf das er hinarbeitet. „Wenn ich am Freitagabend sagen kann: Der Trainer hat zu viele Spieler, die er einsetzen kann, dann bin ich zufrieden.“

Am Wochenende, wenn „seine Jungs“ dann spielen, sitzt er auf der Bank und leidet fürchterlich. Oder er erlebt die größten Glücksmomente – wie 1979 oder 1982, als der HSV Deutscher Meister wurde.

Zu gerne würde er noch einmal so einen Erfolg feiern, bevor er in Rente geht. „Die jetzige Mannschaft hat so viel Potenzial, vielleicht erleb ich noch eine Meisterschaft“, schwärmt er, und die Augen glitzern. Ein schöner Abschluss wäre das – obwohl Rieger nicht genau weiß, wie er seinen eigenen Abschied vom HSV verkraften wird. „Ich glaub schon, dass es schwer wird“, sagt er nachdenklich.

Wahrscheinlich kehrt er zurück nach Mittenwald in sein Elternhaus, wo auch seine Geschwister leben. Eine Familie hält ihn zumindest nicht in der Hansestadt – sie hätte ihn vermutlich sowieso kaum zu Gesicht bekommen. „Der Tag mit seinen 24 Stunden ist einfach zu kurz“, sagt Rieger. „Ich möchte gerne viel mehr machen.“ In Mittenwald wird er Zeit haben. Was er mit ihr anfangen wird, weiß der Masseur aus Leidenschaft allerdings noch nicht so genau. „Da werde ich wohl erst mal von Hütte zu Hütte springen und überall Grüßgott sagen“, so Rieger, der in seinem Heimatort alle kennt.

Und natürlich wird er alle Auswärtsspiele des HSV besuchen, in München und Stuttgart – „alle die, die ich von dort gut erreichen kann.“

Inzwischen hat Rieger seinen Nachfolger eingearbeitet, „dann kann ich mich peu à peu verabschieden.“ Die Spieler wird er sicher vermissen. Aber im Profi-Fußball gehört Abschiednehmen auch zum Geschäft. Früher seien die Spieler dem Verein sechs oder acht Jahre lang treu geblieben. Heute wechseln sie ihre Clubs immer schneller. „Gerade hat man sich angefreundet, schon verlässt wieder jemand die Stadt“, sagt Rieger, der das oft sehr traurig findet. Schließlich kennt er die Jungs. „Ich bin ja immer da. Die Spieler wissen, dass sie mit Fragen und Problemen zu mir kommen können.“ Und das tun sie auch, bei Stress mit der Familie, in der Beziehung oder der verpatzten Urlaubsplanung. „So cool, wie viele von ihnen tun, sind sie nicht“, sagt Rie-ger, der seinen Schützlingen manchmal auch mit einer kleinen Notlüge über die Runden hilft – mehr verrät er nicht.
Bei Hermann Rieger sind Geheimnisse gut aufgehoben.

Annette Bitter

Hölle und Himmel

Eine wahre Liebesgeschichte, die bei Hinz & Kunzt begann

(aus Hinz&Kunzt 120/Februar 2003)

In Werners Zimmer gibt es eine Eidechse im Terrarium, 15 Karl-May-Bände aus der Jugendzeit, Pos-ter von Doors-Sänger Jim Morrison und eine Spur Zigarettenrauch. Über der Tür hängt ein Schal vom FC St. Pauli.

In Susannes Zimmer gibt es Plakate von Macke und Kandinsky, Aktenordner aus dem Germanistik-Studium, garantiert rauchfreie Luft und einen Plüschleoparden. An der Tür hängtein afrikanisches Stofftuch.

Ziemlich unterschiedlich, diese Zimmer. Gehören aber zu einer Wohnung und zu einem Paar. Werner und Susanne haben sich gefunden. Sie haben die Masken, die man so vor sich trägt, fallen lassen und einander erkannt. Wie es sich für eine wahre Liebesgeschichte gehört, haben die beiden in Abgründe geschaut. Es ging um Leben und Tod.

Diese wahre Liebesgeschichte, die bei Hinz&Kunzt begann, wollen wir hier erzählen. Erfunden sind nur die Namen. Die haben wir geändert, für Werner. „Ich habe 27 Jahre lang harte Drogen genommen und war 13 Jahre im Gefängnis“, sagt Werner, wie andere sagen, sie hätten Dreher gelernt und dann in einem Betrieb in Bahrenfeld angefangen. Sein heutiger Chef weiß von dieser Vergangenheit, aber nicht die Lagerarbeiter und Fahrer, die Werner in der Firma unterstellt sind. Da könnte es „derbe Schwierigkeiten“ geben, meint der 50-Jährige. Vergangenheit da, Autorität weg. Deshalb wollen wir lieber vorsichtig sein.

„Am 8. April sind wir sechs Jahre zusammen“, sagt Susanne präzise. „Für mich sind wir das schon Ende März“, entgegnet Werner. Das wird nachher wieder Diskussionen geben! Wie jedes Mal, wenn der Jahrestag naht. Ob das gut geht? Ja, bei Werner und Susanne geht es schon seit fast sechs Jahren gut (oder sind es zehn Tage weniger?).

Werner, Jahrgang 1952, hat Vorsprung: Er ist 19 Jahre länger auf der Welt als seine Freundin. Andererseits, wendet sie ein, war er – zusammengerechnet – 13 Jahre im Gefängnis, abgeschnitten vom Erleben und Älterwer-den draußen. Jedenfalls sei Werner nicht der typische 50-Jährige, findet Susanne, sein Alter fühle sich eher wie Ende 30 an, und so ist der Unterschied gar nicht mehr so groß.

Im Frühjahr 1970, als in der bürgerlichen Familie Hollmann in München an die Ankunft einer Tochter noch nicht zu denken war, beendete Werner bereits seine Pinneberger Jugendzeit und feierte auf dem Kiez seinen 18. Geburtstag. Da probierte er zum ersten Mal Heroin. Es war grässlich. Zwei Tage später probierte er nochmal. Da war es gut, „zu gut“.

Die Tagesdosis von einem Gramm kostete damals 700 Mark und mehr. Das verdient man nicht mit einer Verwaltungslehre, die man auf Wunsch des Vaters und ohne Freude absolviert. Werners kriminelle Karriere beginnt. Er, der nüchtern nichts anstellen würde und eigentlich einen extremen Gerechtigkeitssinn hat, dealt und klaut. Die Mühle geht los: Knast – Therapie – Knast – Therapie, dazwischen mal eine stabile Phase, als er verheiratet ist, dann wieder Rückfall, Straftaten, Obdachlosigkeit.

Im Februar 1994 hat Werner gerade wieder eine Therapie abgebrochen und landet in der Umgebung, die ihm vertraut ist: am Hauptbahnhof. Da sieht er einen Bekannten das neu gegründete Straßenmagazin Hinz&Kunzt verkaufen. Er spricht ihn an, bekommt eine Zeitung geschenkt und fängt Feuer. Also gleich in die Bugenhagenstraße (wo Hinz&Kunzt damals saß), Verkäuferausweis und die ersten zehn Zeitungen geholt.

Es war die Boom-Zeit von Hamburgs Straßenmagazin. Traumhafte Auflagen, euphorisierende Erlöse. Werner steigt voll ein. Verkaufsplatz am Alsterhaus, Nachschub karrt er im Handwagen heran, und nicht nur einmal in der Woche bezahlen Menschen mit einem 50-Mark-Schein, ohne Wechselgeld zu verlangen. Werner findet ein Zimmer und kann seine Drogen bezahlen, was nicht schön ist, aber immer noch besser, als dafür Straftaten zu begehen. Einige Wochen später lässt er sich ins Polamidon-Programm aufnehmen und bekommt unter ärztlicher Kontrolle die Ersatzdroge.

Anderthalb Jahre später ist er clean, vorerst. Bei Hinz&Kunzt hat Werner inzwischen eine feste Stelle im Vertrieb. Aber wo bleibt Susanne? Sie kommt aus einer Familie, die zusammenhält. Sie ist aufgeschlossen, diskussionsfreudig und gewissenhaft. Ihren 18. Geburtstag feiert sie, wie auch die vorherigen und folgenden, drogenfrei.

In Hamburg beginnt Susanne mit dem Germanistik-Studium und trifft ebenfalls auf das neue Straßenmagazin: Zusammen mit einer Freundin macht sie aus den Lebensgeschichten von Hinz & Kunzt-Verkäufern eine Ausstellung. 1995 wird sie Redaktionsassistentin, als Job neben dem Studium. Endlich kreuzen sich also die Wege von Werner und Susanne. Und was passiert? Nichts. Fast zwei Jahre nichts. Beide machen ihre Arbeit. Das war’s.

Dann gerät Werner aus dem Tritt. Seine 17-jährige Tochter ist bei ihm aufgetaucht, zu der er jahrelang keinen Kontakt hatte. Er müsste erkennen, dass sie heroinabhängig ist. Werner hat sich oft genug im Spiegel gesehen, um zu wissen, was stecknadelkopfgroße Pupillen bedeuten. Aber bei seiner eigenen Tochter will er es nicht wahrnehmen. Werner wird selber rückfällig. Seinen Job bei Hinz & Kunzt gibt er auf. Redaktionsassistentin Susanne besucht ihn mit einer Kollegin: Ob er nicht doch zurückkommen wolle? Sie erinnert sich: „Das war der erste persönlichere Kontakt.“ Wieder Funkstille. Drei Monate später, kurz nach Weihnachten 1996, hat sie „einen seltsamen Spruch“ auf dem Anrufbeantworter, von Werner wohl als Einladung gemeint. „Da war ich breit“, sagt Werner im Rückblick. Bei Susanne schlägt der Notruf ein. Sie will dem ehemaligen Verkäufer helfen.

Sie besucht den abgemagerten Mann, bei dem das Heroin offen auf dem Tisch liegt, einmal, zweimal, mehrmals. „Die starken Gefühle, die sich dann entwickelten, hatte ich so nicht erwartet“, erzählt sie. Werners Mitbewohner merkt es eher als die beiden selbst: Werner und Susanne werden ein Paar – zu ihrer eigenen Überraschung.

Als Werner wieder Polamidon nimmt – ein erster Schritt weg vom Heroin – lockt sie ihn mit Kaffee, Brötchen und guten Worten aus dem Bett, damit er bis 11 Uhr in der Ambulanz ist. Nach zwei Monaten, an seinem 45. Geburtstag, trifft Werner eine Entscheidung: Er wird entziehen. Besorgt sich einen Entgiftungsplatz, reduziert innerhalb von zehn Tagen, in irrsinnigem Tempo, das Polamidon. Die Kontaktsperre zu Susanne weiß er zu umgehen: Als therapieerfahrener Klient macht er den Ärzten klar, wie sinnvoll die Gründung einer Jogging-Gruppe sei. Das bedeutet Ausgang – und die Möglichkeit, zu telefonieren.

Es ist Werners letzte Entgiftung. Er wird selbst dann nicht rückfällig, als im Jahr darauf seine Tochter stirbt, die von den Drogen nicht mehr losgekommen ist. „Darauf bin ich heute noch stolz“, sagt Werner. „Es war der tiefste Punkt“, sagt Susanne.

Gemeinsam geht es aufwärts. Werner findet Arbeit und lernt, dass er gegenüber einer Frau nicht immer seinen Kopf durchsetzen kann und muss. Er gibt, geschwächt durch einen kleinen Rausch, sogar ihrem Drängen nach und lässt sich die langen Haare schneiden. Susanne beendet ihr Studium und ihren Job bei Hinz & Kunzt und findet Arbeit im Multimedia-Bereich. Die beiden ziehen zusammen und richten sich in einer Altbauwohnung in Altona ein.

Schöner als in Susannes Worten lässt sich die Geschichte dieses Paares eigentlich nicht zusammenfassen: „Er hat mich so gepackt, dass ich ihn nicht mehr losgelassen habe.“

Detlev Brockes

Krimi-Autorin Carmen Korn

„Schwarze Hefte“-Autorin mag die menschlichen Abgründe

(aus Hinz&Kunzt 120/Februar 2003)

Während Carmen Korn Morde plant, hat sie ihre Familie im Blick. Das bedingt die Architektur: Die Fünf-Zimmer-Altbau-Wohnung in Uhlenhorst ist hell, hoch und offen. Von ihrem Schreibtisch hat Carmen Korn freie Sicht ins Esszimmer und gleich weiter in die Küche. Sohn Paul büf-felt am langen Tisch englische Grammatik, Tochter Maris (15) isst Spaghetti. „Kann ich den Killer haben?“, fragt der Zehnjährige. Killer sind immer bei seiner Mutter zu finden. Auch die gegen Tinte.

Geboren wurde Krimiautorin Carmen Korn in Düsseldorf, in Köln ist sie aufgewachsen, einige Zeit hat sie in München gelebt und ist dann vor 28 Jahren dem Mann, mit dem sie heute noch zusammen ist, nach Hamburg gefolgt. „Ich hätte nie gedacht, dass ich so lange hier bleiben würde“, sagt sie, „aber ohne Not wechsele ich diese Stadt nicht mehr. Schließlich sind die wichtigsten Dinge in meinem Leben in Hamburg passiert.“ Das war zunächst mal der „Stern“. Sieben Jahre war Carmen Korn dort Redakteurin, Ressort Unterhaltung: „Mein journalistisches Traumziel.“

Wichtig war auch die Geburt ihrer Kinder. Sie sind der Grund, warum Carmen Korn vom „Stern“ wegging – als „späte Mutter“ wollte sie mehr Zeit mit ihnen. Seither schreibt sie zu Hause. Die Frage, ob man einen morbiden Charakter braucht, um sich gerne Verbrechen auszudenken, amüsiert sie. „Hat nicht jeder eine Dunkelkammer, in die er manchmal verschwinden muss?“ Carmen Korn lächelt verschwörerisch. „Gerade wenn man so ein braves Familienleben führt.“

Manchmal, gibt die 50-Jährige zu, nervt sie die offene Altbauwohnung, in der man sich nie richtig zurückziehen kann. Wo immer Lärm aus der Küche zum Schreibtisch dringt. Krimis schreiben als Ventil gegen Aggression. Zugleich hat sie Angst um das Familienidyll. Deswegen bezeichnet sie ihre Bücher als „prophylaktische Buße“: „Was erst mal weggesagt wurde, kann doch nicht mehr in den eigenen kleinen Frieden dringen.“

Als Carmen Korn 1989 das erste Mal aus ihrer Dunkelkammer zurückkam, brachte sie „Thea und Nat“ mit. Die Geschichte einer Frau, die sich von ihrem Freund trennen will, aber aus Mitleid bei ihm bleibt, weil er durch einen von ihr verschuldeten Unfall scheinbar an den Rollstuhl gefesselt ist. Das war kein Krimi, Korn lotete nur ein bisschen die seelischen Abgründe der Menschen aus. „Jetzt werden Sie erleben“, sagte ihr der Journalist Wolf Schneider, „dass Sie ein gutes Buch geschrieben haben und sich keiner dafür interessiert.“ Er irrte. Das Buch hatte gute Presse, und Carmen Korn schaffte, was nur wenigen Debütanten vergönnt ist: Sie verkaufte die Filmrechte. „Thea und Nat“ lief im ZDF.

Mit den Krimis ging es so richtig erst durch einen Anruf von Volker Albers los. Der Herausgeber der „Schwarzen Hefte“ des Hamburger Abendblatts suchte eine Autorin. Carmen Korn schrieb „Der Tod in Harvestehude“. Dafür bekam sie den „Marlowe“-Preis für die beste deutschsprachige Krimigeschichte: „Mein erster und einziger Preis bisher, vorher hab ich noch nicht mal bei den Bundesjugendspielen was gewonnen.“

Verliehen wird der Preis von der Raymond-Chandler-Gesellschaft in Ulm. Carmen Korn sah sich im Rampenlicht, wählte sorgfältig die Garderobe aus – umsonst, die Verleihung fand im kleinen Kreis in der Ulmer Universität statt. Und dotiert war der Preis leider auch nicht. Aber der Vorsitzende der Gesellschaft hielt eine so rührende Laudatio, dass Carmen Korn sie heute noch hervorholt, wenn sie von Selbstzweifeln geplagt wird.

Seither ist Carmen Korn aufs Krimigenre abonniert. Die Schwarzen Hefte „Barmbeker Blues“, „Die Liebe in Hohenfelde“ und „Schlafende Ratten“ folgten. Und auch ihr neues Buch „Tod eines Pianisten“, dessen Skript fertig auf dem Schreibtisch liegt, ist wieder ein Krimi. „Am meisten Spaß habe ich daran, mir die Figuren auszudenken“, verrät die Autorin, „mich interessiert vor allem die Psychologie von Täter und Opfer.“ Wie und ob der Täter gefasst wird, ist nebensächlich – Carmen Korn ist keine Freundin der klassischen „Whodunit“-Geschichten.

Ein bisschen bringt sich die Autorin auch immer selbst ein. So haben viele ihrer Figuren mit Musik zu tun, zum Beispiel als Komponisten oder gescheiterte Sängerinnen. „Musik spielt in meinem Leben einfach eine große Rolle“, sagt die Autorin. Das Klavier ihres Vaters Heinz steht in ihrem Arbeitszimmer. Bis zu ihrem fünften Lebensjahr saß sie unter diesem Klavier und hörte ihrem Vater beim Komponieren zu. Einige seiner Schlager, wie „Mit 17 hat man noch Träume“, hört man heute noch im Radio. Während eines einjährigen Londonaufenthaltes versuchte sie sich in Jazzclubs selbst als Sängerin.

Nur ein Problem hat die Besucherin der Dunkelkammer. „Ich produziere nur sehr ungern Leichen!“, sagt Carmen Korn. Viel lieber würde sie ohne auskommen. In den meisten ihrer Lieblingskrimis wird auch nicht gestorben: „Denken Sie nur an Georges Simenons Bücher außerhalb der Maigret-Reihe – da muss kein Mord passieren, und trotzdem läuft es einem eiskalt den Rücken herunter.“

Da kam ein Angebot vom Erika Klopp-Verlag gerade recht. Einen Kinderkrimi solte die Marlowe-Preisträgerin schreiben, für das Alter von zehn bis zwölf, einzige Auflage: Es darf kein Mord vorkommen.

Als „Der Mann auf der Treppe“ fertig war, gab sie das Manuskript Maris und Paul zum Lesen: „Damit keine Klopse drin sind.“ Außerdem berieten die Kinder Carmen Korn bei Sprache und Musikgeschmack der Protagonisten – zufällig handelte es sich hier auch um ein Geschwisterpaar. Paul war richtig stolz auf das Buch, das Carmen Korn ihm und seiner Schwester gewidmet hat. Er gab jedem Freund, der bei ihm zu Besuch war, ein Belegexemplar mit: „Hier, lies mal, das hat meine Mutter geschrieben.“

Marc-André Rüssau

„Exotisches Mitbringsel“

Wie sich deutsche Männer eine gehorsame Ehefrau suchen

(aus Hinz&Kunzt 120/Februar 2003)

Die Wochenenden sind am Schlimmsten“, sagt Malee Khenchan*. Dann muss Günther* nicht zur Arbeit, und beide sitzen lange 48 Stunden zusammen in der Wohnung. An guten Wochenenden langweilen sie sich nur. An schlechten lässt er seinen Ärger an der Thailänderin aus. „Hinterher geht es ihm besser“, sagt die 25-Jährige. „Er ist den aufgestauten Stress los.“ Dann umarmt er sie und beteuert, wie sehr er sie liebt. Vorher braust Günther auf, schreit und schimpft. Die zierliche Frau versucht ihn dann zu besänftigen – auf Englisch, denn Deutsch kann sie noch nicht. Der 40-Jährige hat seine „Urlaubsbekanntschaft“ erst vor einem halben Jahr geheiratet und nach Hamburg gebracht.

„Malee gehört zu einer Gruppe sehr junger Thailänderinnen, die erst seit ein paar Jahren verstärkt nach Deutschland kommen“, erklärt Pat Mix von der Organisation „Amnesty for Women“. Die 46-Jährige ist selbst Thailänderin, mit einem Deutschen glücklich verheiratet und berät ihre Landsleute in Rechts- und Lebensfragen. Außerdem gibt sie Deutschkurse. „Noch vor kurzem begegneten mir bei meiner Arbeit hauptsächlich Frauen über 30, die bereits Kinder in Thailand haben.“ Jetzt berät sie auch 19-Jährige. Der Leidensdruck in Thailand lässt immer jüngere Frauen das Glück mit einem deutschen Ehemann suchen.

„Amnesty for Women“ kümmert sich um Frauen, die als Migrantinnen nach Deutschland kommen. Meist aus Mittel- und Osteuropa, Südostasien oder Lateinamerika. Im Vordergrund steht dabei der Kampf gegen den Frauenhandel. Denn viele Frauen kommen durch „Heiratsmigration“ nach Deutschland. Vermittelt durch Verwandte und Agenturen oder als exotisches „Mitbringsel“ aus dem Urlaub. Über mangelnde Arbeit kann sich der Verein nicht beschweren. Denn die Lust deutscher Männer auf ausländische Frauen ist ungebrochen.

Bernd Lury von der Hamburger Partnervermittlung „www.lsf-pv.de“, der hauptsächlich Frauen aus St. Petersburg vermittelt, erklärt, warum seine Kunden ihr Liebes- heil im Ausland suchen: „Die Frauen in Deutschland sind zu emanzipiert. Bei denen geht Karriere erst mal vor Familie. Und der Mann muss Geld haben, viel Zeit für die Frau und dann noch gut im Bett sein.“ Natürlich hat die ausländische Frau auch etwas davon: „In Russland empfehlen die Mütter ihren Töchtern: such dir einen deutschen Mann!“, plaudert Bernd Lury. „Denn viele russische Männer sind Alkoholiker oder gehen fremd. Man kann sagen, dass es für eine Russin genauso schwierig ist, daheim einen vernünftigen Mann zu finden wie für einen deutschen Mann eine vernünftige deutsche Frau.“ Und auch das Angebot stimmt, findet er, seit er die 600 Frauen umfassende Kartei seiner St. Petersburger Partneragentur durchforstet hat: „Etwa 400 habe ich erst mal aussortiert – zu alt, nicht hübsch genug, zwei Kinder, nur russisch sprechend, nicht vermittelbar.“

Pat Mix von „Amnesty for Women“ bezeichnet den Grund, warum deutsche Männer ausländische Frauen wollen, mit einem englischen Wort: „Obedience“ – Gehorsam. „Viele deutsche Männer denken, im Ausland muss die Frau dem Mann gehorchen“, erklärt Mix. Ein Frauenbild, das mancher gerne importieren möchte. Viele Männer, die bereits eine Scheidung hinter sich haben, wollen sich endlich wieder als König im eigenen Reich fühlen.

Günther beschützt sein Reich. Malee muss zu Hause sein, wenn er um sechs Uhr von der Arbeit kommt. Als sie sich nach einem Sprachkurs verspätete, führte das zu einem langen Streit mit viel Geschrei. Wenn Malee telefoniert, will Günther genau wissen, mit wem und worüber sie spricht. Was sie den Tag über gemacht hat, Günther will genaue Informationen. Viele bohrende Fragen. Ihn treibt eine Ahnung, die er Malee manchmal entgegen schreit: „Du liebst mich nicht!“ Malee war noch nie in einen Mann verliebt. Einmal hatte sie eine Liebesbeziehung zu einer Frau. Männer bedeuteten immer nur Arbeit. Schon ihre Tante, bei der Malee aufwuchs, verdiente ihr Geld mit Männern. Manche brachte sie mit nach Hause, die musste Malee dann „Papa“ nennen. Einige Freier schlugen ihre Tante. „Ich hasse meinen Vater“, sagt Malee und meint damit jeden Einzelnen. Den, der sie zeugte, kennt sie nicht.

Günther lernte Malee auf der südthailändischen Insel Samui kennen. Lange Zeit ein Geheimtipp für Aussteiger und Rucksacktouristen, bis die allein reisenden Herren kamen. Für sie zimmerte man Bars direkt am Strand zusammen. Hier sitzen sie und gönnen ihrer von der ungewohnten Sonne verbrannten Haut Schatten. Etwas trinken, locker werden. Hier saß auch Malee Tag für Tag und ließ sich von Männern von dem Schlag, den sie bis jetzt „Papa“ nennen musste, Getränke ausgeben. Danach ging sie mit ihnen.

Auch mit Günther. Für eine Pauschalreise und ein paar Mark extra genoss es der frisch geschiedene Techniker aus Hamburg, für die einheimischen Mädchen den „Big Spender“ zu geben. An Malee hatte er mehr Interesse. Er bat sie, mit nach Deutschland zu kommen. Die junge Thailänderin sah eine Chance, die sie sich nicht entgehen lassen konnte.

„Viele Männer sparen mehrere Jahre für ihren Thailand-Urlaub“, berichtet Pat Mix. „So können sie in Thailand als wohlhabende Leute auftreten.“ Bei vielen Frauen weckt das falsche Hoffnungen auf das Traumland Germany. In Deutschland finden sie sich in einer Ein-Zimmer-Wohnung wieder und müssen feststellen, dass das Geld auch hier nicht über den Monat reicht.

Pat Mix fährt oft nach Thailand, um gegen diese Illusionen anzugehen. Sie hält Pressekonferenzen und verteilt Broschüren von „Amnesty for Women“, um Frauen über ihre Rechte und die Situation in Deutschland aufzuklären. „Vor allem müssen Frauen ihre Rechte in Deutschland kennen lernen, und wissen, an wen sie sich wenden können“, so die Beraterin. Sonst seien sie hier völlig vom Willen ihres Mannes abhängig.

Ein Druckmittel, das viele Männer einsetzen, ist Isolation. Kontakt zu anderen Thailändern wird verboten. „Viele Männer verbieten ihren Frauen, Deutsch zu lernen“, sagt Mix. „Die Frau kann dann keine Kontakte knüpfen, und um sich in Deutschland zurechtzufinden, ist sie auf ihren Mann angewiesen.“ Von den eigenen Rechten wisse sie nur, was der Mann ihr erzählt. „Ich kenne eine Frau, die zwölf Jahre bei ihrem Mann blieb, obwohl er sie schlug“, so Mix, „denn das einzige, was sie auf Deutsch sagen konnte war ,Mein Gott‘.“

Das andere Druckmittel, das die deutschen Ehemänner einsetzen können, ist ein Satz: „Wenn du nicht tust, was ich will, schicke ich dich nach Hause.“ Erst nach zwei Jahren Ehe hat die Frau eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis in Deutschland – vorher ist ihr Bleiberecht vom Mann abhängig. Aber auch nach dieser Zeit bleiben viele bei ihrem Ehemann. Aus Angst, es in Deutschland nicht allein zu schaffen. Und weil er meist auch die Familie in Thailand finanziell unterstützt. Oft kommen Frauen zu „Amnesty for Women“ und klagen, dass sie ihren Mann gerne verlassen würden, die Familie aber auf die 200 Euro angewiesen ist, die er nach Hause schickt. „Mensch“, sagt die Beraterin dann, „was sind 200 Euro, dafür machst du ihm den ganzen Haushalt! Das Geld kannst du auch selbst verdienen, wenn du putzen gehst!“

Malee will mit Günther nicht alt werden. In eineinhalb Jahren darf sie ohne ihn in Deutschland bleiben. Dann will sie ihren Mann verlassen. Sie hofft, bis dahin so gut Deutsch zu sprechen, dass es für einen Job reicht.

Marc-André Rüssau

*Namen geändert

„Wer soll davon leben können?“

Seit Anfang Januar können Arbeitslose eine „Ich-AG“ gründen

(aus Hinz&Kunzt 120/Februar 2003)

Mit Hilfe des Arbeitsamtes ein Mini-Unternehmen auf die Beine stellen: Das ist die Idee der „Ich-AG“. Vier Wochen nach Start des Hartz-Modells haben in Hamburg neun Arbeitslose den Schritt zum staatlich geförderten Existenzgründer gewagt.

Für Jürgen Ponomarew kam das Angebot zur rechten Zeit. „Wollen Sie nicht eine ,Ich-AG‘ gründen“, fragte ihn Anfang Januar seine Beraterin vom Arbeitsamt. Immerhin bekomme er im ersten Jahr 600 Euro monatlich. Bis zu drei Jahre Förderung seien möglich, die Steuerlast nur gering (siehe Kasten).

Der 32-Jährige, seit sechs Monaten arbeitslos, zögerte nicht lange. „Für mich war das eine Chance“, erzählt der junge Mann mit dem freundlichen Auftreten zwei Wochen später. „Ich hatte meine Kunden sozusagen schon in der Tasche – und bekam am ersten Tag prompt den ersten Auftrag“, berichtet Ponomarew, der zuletzt für ein Sicherheitsunternehmen arbeitete und deshalb „viele Leute aus der Branche“ kennt. Für Februar hat schon ein Messeveranstalter seinen „Saal- & Ordnungsdienst“ gebucht, und der frisch gebackene Kleinunternehmer sagt: „Es lässt sich gut an.“

Von einer „Gründungswelle“ ist die Hansestadt weit entfernt. Neben Ponomarew wagten in Hamburg in den ersten vier Wochen neun Arbeitslose den Start in die „Ich-AG“. Knut Böhrnsen, Sprecher des Hamburger Arbeitsamtes, erklärt den Sinn der neuen Existenzgründer-Förderung so: „Kleingewerbetreibende sollen die Möglichkeit bekommen, sich möglichst unbürokratisch selbstständig zu machen.“ Mit 500 bis 1000 „Ich-AGs“ rechnet das Hamburger Arbeitsamt bis Jahresende, bundesweit sollen es 50.000 werden.

Zweifel an solchen Prognosen sind berechtigt. „Das ist totaler Humbug! Wer soll davon leben können?“, empört sich Irena Lohn über die geringen Zahlungen für „Ich-AG“-Gründer. Die 31-Jährige hat sich vor neun Monaten als Image-Beraterin selbstständig gemacht. Sie verhilft Privatmenschen und Unternehmen zu besserem Auftreten, Erscheinungsbild und Umgangsformen – und kann davon noch nicht leben: „Man muss sich doch erst mal einen Namen machen!“, sagt die resolute Frau mit dem charmanten Lächeln über die Schwierigkeiten einer Geschäftsgründung. Die ersten sechs Monate zahl-te das Arbeitsamt der ehemals angestellten Personalberaterin „Überbrückungsgeld“, in ihrem Fall immerhin 1800 Euro im Monat (siehe Kasten).

Die Alternativ-Förderung zur „Ich-AG“ hört sich erst mal mächtig an. Doch viel weniger hätte es nicht sein dürfen, meint die Erfinderin des Ein-Frau-Unternehmens „Image your Life“: „Ich musste davon nicht nur Leben, Miete und Versicherungen bestreiten, sondern auch die Kosten für Werbebroschüren, Homepage und Telefon.“ Nun hat die unverdrossen gegen die Rezession anwerbende Dienstleisterin ihr Auto verkauft und lebt vor allem „von Steuern, die ich vergangenes Jahr zu viel im Voraus bezahlt habe“.

Mit ihrer Kritik steht die Existenzgründerin nicht alleine. „Es wird derzeit völlig falsch beraten. Die ,Ich-AG‘ ist keine Alternative zum Überbrückungsgeld“, sagt Thomas Pfister, Vorstand der Genossenschaft GDM, die Arbeitslose auf dem Weg in die Selbstständigkeit berät. Da die „Ich-AG“-Gründer mindestens 400 der 600 Euro für Kranken- und Rentenversicherung veranschlagen müssen, sei das Modell nur für jene interessant, „die neben der Arbeitslosenhilfe schwarz gearbeitet haben und nun eine Chance bekommen, das zu legalisieren“.

„Ich-AG“-ler Ponomarew ist froh, dass ihn ein Freund ins Gründungszentrum „Enigma“ geschickt hat. Zuvor hatte er beim Arbeitsamt vergeblich nach Wegen zu einem Kleinkredit gefragt, mit dessen Hil-fe er den „großen Gewerbeschein“ erlangen und so seine Angebotspalette erweitern will. „Wir können Ihnen nicht helfen“, beschied ihm die Beraterin. Dafür teilte sie ihm mit, dass die erste Förder-Rate für Ponomarews „Ich-AG“ leider erst im Februar ausgezahlt werden könne, rückwirkend. „Die Berater sind nett, engagiert – und überfordert. Aber die können ja nichts dafür, dass sie keine vernünftigen Schulungen bekommen“, bilanziert der Existenzgründer seine Erfahrungen auf dem Amt.

Ulrich Jonas

Starthilfen für Arbeitslose
Seit 1. Januar können Bezieher von Arbeitslosengeld oder -hilfe beim Arbeitsamt die Gründung einer „Ich-AG“ beantragen. Voraussetzung dafür ist der Besitz eines Gewerbescheins. Anders als beim Überbrückungsgeld entscheidet das Amt schnell und un- bürokratisch. Gründer bekommen 600 Euro monatlich im ersten, 360 Euro monatlich im zweiten und 240 Euro monatlich im dritten Jahr. Weiterer Vorteil: „Ich-AG“-ler zahlen eine Pauschalsteuer von 10 Prozent. Allerdings darf ihr Gewinn 25.000 Euro jährlich nicht übersteigen, andernfalls stellt das Amt die Förderung ein. Ausbezahlte Zuschüsse werden jedoch nicht zurückverlangt. Unklar ist noch, wer die Gewinne der „Ich-AGs“ überprüfen soll. Sozialhilfe-Empfänger können keine „Ich-AG“ gründen.
Wie bisher auch können Arbeitslose Überbrückungsgeld beantragen, wenn sie sich selbstständig machen wollen. Diese Hilfe zahlt das Arbeitsamt jedoch nur sechs Monate lang. Sie soll die niedrigen Anfangseinkünfte von Existenzgründern auffangen. Der monatliche Zuschuss setzt sich aus dem vorher gezahlten Arbeitslosengeld plus einem Aufschlag für Sozialversicherungsbeiträge zusammen. In beiden Fällen fallen Existenzgründer aus dem Hilfesystem des Arbeitsamtes heraus, wenn vier Jahre seit dem letzten Antrag vergangen sind. Wer dann scheitert, ist auf Sozialhilfe angewiesen.
Sprachwissenschaftler haben die „Ich-AG“ kürzlich zum „Unwort des Jahres“ gewählt. Die Wortbildung leide „sachlich unter lächerlicher Unlogik, da ein Individuum keine Aktiengesellschaft sein kann“, so die Begründung.