„Hörst du die Brandung?“

(aus Hinz&Kunzt 119/Januar 2003)

Das Zuhause vonHinz &Kunzt-Autor Christoph Jantzen liegt direkt an den Gleisen von S- und Fernbahn. Besser kann man nicht wohnen, findet er.

Bei euch ist es aber laut“, sagen Freunde, wenn wir sie auf unseren Lieblingsplatz führen, die Dachterrasse. Sie meinen Deutsche Bahn und HVV. Intercitys, ICEs, Metropolitans, Autoreise-züge, Interregios, Regionalbahnen, Güterzüge und S31, S21, S11 passieren unsere Wohnung in der Oelkersallee auf Augenhöhe. Unsere famose Aussicht auf Fernsehturm, Iduna-Hochhaus und St. Johannis-Kirche nimmt niemand wahr. Zwischen Hauptbahnhof und Altona pocht die Aorta der staatlichen Carrier.

Als wir einzogen, strichen Maler unsere niedrigen Wände. Als die beiden Jungs sich mit Thermos-kanne und Stullen zum Frühstück auf den bemoosten Planken unserer Dachterrasse niederließen, sagte der eine: „Mein Gott ist das hier laut, da kann man ja nicht mal seine BILD-Zeitung lesen.“ Wir sehen es anders.

Auch früher, als meine Freundin Tina und ihr neunjähriger Sohn Ole noch in Stralsund lebten, konnte ich aus dem Zug in die Küche gucken. Wenn sie am Fenster standen und winkten, fühlte ich mich freudig erwartet.

Unsere Freundin Sylvia lebt in Lüneburg neben Lünebest, und jeder Intercity, der ungebremst durch die Stadt jagt, kräuselt die Wasseroberfläche im Planschbecken ihrer Kinder, die sich die Handteller gegen die Ohren stemmen. Wir haben etwas mehr Abstand: Die Max-Brauer-Allee und das Außenlager von Autohaus Bluhm trennen uns von der Trasse. Bluhms Spezialität ist der Handel mit Kleintrans-portern, deren sich ständig ändernde Ausrichtung wir von unserer Dachterrasse aus mit Interesse verfolgen. „Die fünf alten Krankenwagen standen doch gestern noch hier vorne neben den Ford Transits.“

Neu ist die extrem hohe Frequenz. Selten sehen wir einen einsamen Zug vorbeifahren. Meist kreuzen sie sich im Minutentakt am Nadelöhr Sternbrücke, die über die Schnittstelle von Stresemannstraße und Max-Brauer-Allee führt. S-Bahnen müssen häufig warten, und wir können Blickkontakt zu den Passagieren aufnehmen. „Eure neuen Terrassenstühle habe ich schon gesehen“, sagt Rita, die uns beneidet, weil die Vorhänge bei uns noch zugezogen sind, wenn sie frühmorgens mit der S21 zur Arbeit fährt.

Ole hat schon in Stralsund jede Regionalbahn aus Velgast und Ribnitz-Damgarten von Küche und Klo aus ehrgeizig wahrgenommen: „Den habe ich zuerst gesehen!“ Nun muss er sich auf Highlights beschrän-ken. Den schicken Nachtzug nach Basel, die eleganten Metropolitans auf dem Weg nach Köln oder – unsere gemeinsamen Favoriten – die Autoreisezüge gen Narbonne. Sie unterscheiden sich von den nächt-lichen Zügen mit den Volkswagen-Lieferungen aus Wolfsburg, weil die üblichen Erschütterungen bei mindestens vier Limousinen die blinkenden und aussichtslos nach Hilfe schreienden Alarmsysteme auslösen.

Wenn Ole aufgeregt ruft: „Das ist der Schlafwagen nach Rom“, wissen wir: „Um 20.31 Uhr solltest du doch längst im Bett liegen, schlaf jetzt endlich!“

An Sommerabenden auf der Dachterrasse ist das Gespräch mit Freunden häufig schwierig. Mitten im Gespräch halten sie inne, setzen ihren Redefluss scheinbar unvermittelt wieder fort. Wir verstehen das nicht. Man kann doch lauter sprechen, kurz mal schreien.

Wir bemerken die Züge kaum. „Hier ist doch schon ewig keiner mehr gefahren“, sagt Tina manchmal nach Stunden, wenn wir uns nächtens angeregt draußen unterhalten. „Nö“, stimme ich zu, und schon wirft sich der nächste Güterzug kreischend in die Rechtskurve Richtung Altona. Man kann die Bahn ausblenden. Sie hupt nicht, lässt die Maschinen nicht angeberisch aufheulen, fährt nicht mit quietschenden Rädern an. Sie rollt gemächlich heran, ist da und entschwindet behutsam.

Früher, als ich ein paar hundert Meter entfernt in der Schanzenstraße lebte, waren die Autos die Hölle. Nervöse Maßregelungen vor der Spur der Rechtsabbieger, Parkplatzkämpfe, Lkw mit dröhnenden Kühlaggregaten auf dem Weg zum Schlachthof, Cabrios mit weit aufgedreh-ten Musikanlagen. Einzig ruhiger Platz in der Wohnung war die Küche in Richtung Hinterhof. Bei offenem Fenster fragte ich Tina: „Klingt es hier nicht manchmal, als säßen wir in Spanien am Meer, hörst du nicht auch die Brandung?“ „Quatsch, das ist die S21.“

Meine Schwester, die selbst jahrelang durch Einfachverglasung auf den Görlitzer Bahnhof blickte, wusste gleich, was sie uns zum Einzug schenken konnte. Nachdem sie die Wohnung gesehen hatte, lag einige Tage später eine Videokassette im Briefkasten: „Zugvögel – einmal nach Inari.“ Darin reist Joachim Król als skurriler Fahrplanexperte nach Nordfinnland, wo dem Gewinner des 1. Internationalen Kursbuch-Wettbewerbs 25.000 Pfund winken. Einen Tipp hatte sie auch parat: „Stellt euch einen Springbrunnen aufs Dach, das harmonisiert die Außengeräusche.“

Das Leben an der Trasse ist spannend. „Ihr habt fünf Tage Ruhe“, weissagte Yvonne mitfühlend. „Zwischen Dammtor und Altona wird an den Gleisen gearbeitet. Die ganze Strecke ist gesperrt. Es fahren nur Busse als Schienenersatzverkehr.“ Am Abend bildeten dutzende Gleisarbeiter in reflektierenden orangen Overalls die Vorhut, Flutlicht erhellte unseren Blick auf Butzek-Automobile, Shell-Tanke und Antik-Möbel-Speicher.

Gelbe Schienengefährte in Gestalt mächtiger Heuschrecken krochen heran, Scharen behelmter Arbeiter flexten und trieben mit Pressluft Nuten in die Schwellen – die grell erleuchtete Szenerie ließ uns die Tageszeit vergessen. Spät erst gingen wir ins Bett. „Schön, dass wir schon Feierabend haben.“ Ruhigen Schlaf fanden wir jedoch erst vier Tage später, als die Bahnen wieder rollten.

Bevor wir ins Bett gehen, achte ich sorgsam darauf, dass der rechte Zipfel der Gardine nicht auf dem Boden, sondern auf dem Schreibtisch liegt. Durch die offene Luke können wir morgens, wenn wir aufwa-chen, gleich die Züge vorbei gleiten sehen. „Ich finde das urban“, sagt Tina.

Die ungeliebten Kranken

Wie das AK St. Georg Obdachlose behandelt – oder auch nicht

(aus Hinz&Kunzt 119/Januar 2003)

Christopher William schüttelt den Kopf. Der Krankenpfleger, der für die Mobile Hilfe der Caritas arbeitet, kann immer noch nicht glauben, was er vergangenen Herbst erlebte. Damals versuchte er, einen schwer kranken Obdachlosen im Allgemeinen Krankenhaus (AK) St. Georg behandeln zu lassen. Der Mann hatte eine große offene Wunde am Bein, eitrig, verrottet und geschwollen. So saß er seit Wochen in der Innenstadt, umkreist von dicken Fliegen, und bettelte.

Immer wieder versuchten die Mitarbeiter des Caritas-Busses, den Mann zu bewegen, sich helfen zu lassen. Endlich willigte er ein – aber nur zu einer Klinikbehandlung.

William fuhr mit dem Patienten in die Notfallaufnahme des AK St. Georg. „Nichts haben die Ärzte gemacht“, sagt der 45-Jährige. „Sie haben ihn nicht mal angefasst!“ Obwohl die Wunde dem erfahrenen Pfleger zufolge schon den Knochen angegriffen zu haben schien, schickte man die beiden Männer von der Chirurgie in die Dermatologie. Mit demselben Ergebnis: Trotz Williams Angebot, der unter Überlastung klagenden Ärztin zu assistieren, habe sie die Wunde weder untersucht noch gereinigt, nur kurz darauf gedrückt und gesagt: „Das ist kein Fall fürs Krankenhaus.“

„Die wollten einfach nichts damit zu tun haben“, sagt William. „Wenn die Humanität fehlt, bleibt nur noch Bürokratie übrig, kein Gefühl, keine ärztliche Neugier“, so der Pfleger fassungslos.

Schwere Vorwürfe. Aber Christopher William ist nicht der Einzige, der sich über den Umgang mit Obdachlosen besonders in der Notaufnahme des AK St. Georg beklagt. Immer wieder erzählen auch Hinz & Künztler, trotz eines Notfalles nicht mal untersucht worden zu sein.

So wie Verkäufer Uwe, der im Dezember während eines Besuchs im Landessozialamt umkippte und erst im Krankenwagen wieder zu sich kam. „Sie müssen richtig durchgecheckt werden“, habe der Notarzt auf dem Weg ins AK St. Georg gesagt. Dort wurde dem 41-Jährigen eine Infusion gelegt und bedeutet, er könne jederzeit gehen. Die Infusion lief nicht durch, aber darum habe sich niemand gekümmert. „Es könnte ein epileptischer Anfall gewesen sein“, sagt der Hinz & Künztler, der vor Jahren unter dieser Krankheit litt und die Symptome kennt. Untersucht wurde er nicht.

Das AK St. Georg erklärte gegenüber H&K nur, Gespräche mit der Caritas seien geplant. Für weitere Stellungnahmen verwies es auf den Landesbetrieb Krankenhäuser (LBK), der nach mehrmaliger Anfrage mitteilen ließ: „Alle Menschen werden in den Häusern des LBK gleich behandelt, unabhängig von ihrem gesellschaftlichen Status. Das schließt Obdachlose ausdrücklich mit ein.“

Ein Krankenhaus-Mitarbeiter (Name der Redaktion bekannt) sieht das anders: „Obdachlose gelten als ungeliebte Klientel. Sie stinken, sind verlaust, schmutzig – und weil sie sich oft nicht wehren können, werden sie schlecht oder gar nicht behandelt.“ Die Arbeitsbelastung in den Notaufnahmen sei extrem hoch, bringt er zur Entschuldigung an.

Obdachlose – erst recht wenn psychische Beeinträchtigungen hinzukämen – seien zudem schwierige und zeitaufwändige Patienten. Dennoch: „Leute, die gut gekleidet und gepflegt sind und aussehen, als könnten sie ihre Rechte durchsetzen, werden eindeutig besser behandelt.“ Gegenüber Obdachlosen, deren Behandlung in der Regel das Sozialamt bezahlt, sei der Umgangston dagegen oft „unglaublich“.

Auch die Mitarbeiter der Mobilen Hilfe wissen um die Arbeitsbelastung des Krankenhauspersonals. Früher, so Schwester Annette Wyrwol, gab es zudem in jeder Klinik eine kleine Hautabteilung. Heute können bei Notfällen nur noch das AK St. Georg und die Uniklinik helfen. Kein Wunder also, dass die Ärzte des city-nahen AK St. Georg viele obdachlose Patienten behandeln müssen, die häufig unter schweren Hautkrankheiten und Wunden leiden. Aber: „Wir machen uns vorher Gedanken, wo wir die Leute hinfahren, ob es wirklich nötig ist und ob der Patient es will“, sagt der Arzt Stanislaw Nawka, der seit sieben Jahren für die Mobile Hilfe im Einsatz ist. Werden Obdachlose dann von den Krankenhausärzten abgewiesen oder abfällig behandelt, hat das oft fatale Folgen: Teils wochenlange Überredungskünste, sich endlich in die Klinik zu begeben, sind im Nu zunichte gemacht. Die Patienten gehen lieber wieder.

Und noch etwas kritisieren die Mitarbeiter der Mobilen Hilfe: „Wir müssen häufig die Fehler ausbügeln, die der nachlässigen Behandlung im AK St. Georg geschuldet sind“, so Christopher William. Wunden werden nicht korrekt gesäubert, Haare vor dem Nähen nicht entfernt. Mit unter den Verbänden faulenden, verklebten und aufgeweichten Wunden landen die Patienten schließlich im Bus der Caritas.

Deren Mitarbeiter geben sich mehr Mühe. „Wir machen die Leute regelrecht bühnenreif“, so Wyrwol. Die meisten Kranken würden sich in der Krankenstube für Obdachlose im ehemaligen Hafenkrankenhaus rasieren und waschen, bevor sie von einem niedergelassenen Arzt eine Krankenhauseinweisung erhalten. Oft ohne Erfolg: „Häufig stehen die Patienten ein paar Stunden später wieder vor der Tür “, sagt Klaus Scheiblich, Pflegedienstleiter der Krankenstube. Dabei sind die 14 Betten durchgehend belegt – mit all jenen, die nicht krankenhausreif sind, aber ein Bett und Pflege anstelle einer Parkbank benötigen, um sich auszukurieren.

Letztlich entscheiden aber die Krankenhaus-Ärzte, ob sie eine stationäre Behandlung für nötig halten. Diese Entscheidung fällt offenbar häufig anders aus als bei den Kollegen außerhalb der Klinik, wenn es sich um Obdachlose handelt. Die Schuld dafür wird den Patienten zugeschoben. „Alle Patienten werden in gleicher Weise über ihre Erkrankung, die damit verbundenen Risiken sowie die Behandlungsempfehlungen aufgeklärt. Zu einer erfolgreichen Behandlung gehört allerdings auch die Bereitschaft der Patienten, den Empfehlungen zu folgen. Diese Bereitschaft ist leider nicht bei allen Menschen vorhanden“, so der LBK.

„Mit den Füßen könnte man trampeln“, sagt dagegen Schwester Elsbeth über die aufnehmenden Ärzte im AK St. Georg. Die Ordensschwester, die über 45 Jahre Pflegeerfahrung verfügt, versuchte einen obdachlosen, psychisch kranken Mann im AK St. Georg unterzubringen. Schon zwei Jahre zuvor hatte ein niedergelassener Arzt festgestellt, dass dessen zum Teil abgestorbenes Bein nicht zu retten sein würde. Ende November vergangenen Jahres wurden die offenen Füße des Mannes schlimmer, das Bein schwarz.

Doch im AK St. Georg schickten die Ärzte ihn und seine Begleiterin fort. „Wir sind doch kein Pflegeheim“, hätten sie zu hören bekommen. „Sie haben ihm ’ne Wanne zum Füße waschen hingestellt und ihm ein Paar neue Socken gegeben. Sie haben nichts verbunden, ihm noch nicht mal beim Reinigen der wunden Füße geholfen“, so Schwester Elsbeth – trotz ärztlicher Einweisung.

Auch der zweite Versuch Mitte Dezember scheiterte, ebenfalls trotz Einweisung und obwohl der Patient kaum noch laufen konnte. „Den behalten wir nicht hier, da können sie noch so fordernd sein“, hätten die Ärzte gesagt. Mit Hilfe eines Taxifahrers und einem Rollstuhl brachte die verzweifelte Frau ihren Schützling in die völlig überfüllte Krankenstube für Obdachlose. Von dort wurde der Mann erneut ins AK St. Georg eingewiesen und endlich stationär aufgenommen, um ihm Bein zu amputieren.

Annette Bitter

Am Tresen daheim

Ein Besuch in Hamburger Eckkneipen

(aus Hinz&Kunzt 119/Januar 2003)

Vielleicht ist es ja nur das Unbekannte, dieses Nicht-wissen-was-kommt-Gefühl, was zunächst etwas Beklemmung verursacht. Noch von draußen, von der Straße her, kein einstimmender Blick möglich auf das, was einen drinnen gleich wohl erwartet. Eckkneipen sind öffentliche Orte, die dennoch dem Fremden als allererstes Distanz signalisieren.

Fensterbrettlange Gardinen oder doppel-wandige Buntglasscheiben entziehen Tische und Tresen – und die Menschen drumherum – der allgemeinen Aufmerksamkeit, anders als in all den modernen Caféhäusern oder Szenekneipen. Der fremde Besucher spürt sofort, er könnte stören. Wer an diesen Orten nicht fremd bleiben will, muss schnell dazugehören wollen. Und wer einkehrt, tut dies zumeist schon länger mit jener gewohnten Routine, mit der etwa auch das häusliche Wohnzimmer betreten wird.

„N’Abend“, ruft Anni, und am Tresen drehen sich drei Männerköpfe synchron von ihren Bierflaschen weg hin zur Eingangstür. „O-Saft?“, fragt Anni dann irritiert zurück. „Nee. Das gab’s hier früher mal. Ist aber immer schlecht geworden.“ Dabei lacht Anni erfrischend schrill scheppernd, und links am Tresen sagt Jürgen: „Flaschenbier geht am schnellsten. Auf Fassbier müsste man fünf Minuten warten.“

Die Wände sind brusthoch mit bonbonroter Lackfarbe gestrichen. Darüber zahlreiche Fotos, große wie kleine, zumeist mit lachenden oder trinkenden Menschen, offensichtlich Gästen. In einer Ecke Fahne und Fanabzeichen des Stammtischs der St. Pauli-Anhänger. Schräg gegenüber Kuckucksuhr und eine Kuhglocke. Und dann die vielen Katzen: fotografierte Katzen an den Wänden und Porzellankatzen in der prall gefüllten meterhohen Vitrine auf dem Tresen. „Ich liebe Katzen“, sagt Anni, „manchmal verirren sich Fremde hierher, junge Leute vor oder nach einem Konzert in der ‚Fabrik‘. Die können das alles nicht fassen und fragen: Wohnen Sie auch hier drinnen?“

Anni Geniffke betreibt an der Barnerstraße sechs Abende pro Woche die Eckkneipe „Min Jung“, zunächst zusammen mit Ehemann Rudi und nach dessen Tod vor 16 Jahren allein. Im Oktober feierte Altonas älteste aktive Wirtin ihren 78. Geburtstag. „Auch wenn die Einrichtung in den Augen junger Leute alt aussieht“, sagt Anni, „hier wird nichts verändert. Man muss es den Gästen doch gemütlich lassen.“ „Ja“, sagt Reiner, „wir sind zueinander wie eine gemütliche Familie. Und Anni ist unsere Mutti.“ Reiner ist auch schon 70 und Stammgast seit 25 Jahren.

Insgesamt 4800 gastronomische Betriebe arbeiten in Hamburg, gut 1000 zählen zu den Stamm- oder Eckkneipen. Als Treffpunkte des „kleinen Mannes“ sind sie für viele von ihnen diejenige Einrichtung des täglichen Lebens, in der soziale Kontakte noch möglich sind. „Privat hab ich keine Bekannten“, sagt Reiner, seit vier Jahren Witwer, „zu mir nach Hause kommt niemand. Meine Bekanntschaften treffe ich nur in der Kneipe.“ Anni sagt: „Einer passt auf den anderen auf.“ Und dann erzählt sie die Geschichte von vor ein paar Monaten, als Reiner mal sechs Wochen lang nicht zu ihr kam. Den Dieter, sagt Anni, habe sie dann vom Tresen weg voller Besorgnis zu Reiners Wohnung geschickt. Und, als dort niemand öffnete, gleich noch die Polizei hinterher. „Es wissen ja alle, dass es mit meiner Gesundheit nicht so gut ist“, sagt Reiner, „ich hab mich über das Sorgen-Machen sehr gefreut.“

So trifft man sich am Tresen immer wieder als miteinander vertraute Gemeinschaft, kennt meistens die Vornamen voneinander und weiß manchmal auch ein wenig von Krankheiten oder anderen Kümmer-nissen. Das Leben wird dann diskutiert, das manchem nur wenig Anlass bietet zur Hoffnung, und vor allem die wirklich komplizierten Dinge des Alltags. Fußball zum Beispiel, am Tresen selten ein simples Spiel, sondern stets hochkomplex. Oder Politik. Da kann es dann schon mal passieren, dass man irgendwann vorstößt auf den wahren Kern einer Sache, auf den Nukleus eines Geflechts. So wie Post-Gerd, jahrzehntelang eingefleischter Sozialdemokrat, wie Anni sagt, der irgendwann am Tresen erklärt habe, nun sei Schluss mit lustig mit der SPD. „Wegen dem Schröder“, erklärt Anni, „weil der schon drei Mal geschieden ist.“ „So’n Bock“, habe Post-Gerd dann noch gesagt, „so’n Bock wähl’ ich nicht mehr.“

Es ist zumeist die einfache Sprache, die Sprache der Straße, die in den Eckkneipen gesprochen wird. Die Sprache des kleinen Mannes, rau und direkt und manchmal auch verletzend. Mancher, der das Wort führt, macht sich dann gerne schon mal größer, als er tatsächlich klein ist. „Wenn Männer sich in die Wolle kriegen, dann gibt es Alarm“, sagt Bert in einer Kneipe an einer Wohnstraße auf St. Pauli, „meistens beleidigen wir uns nur, mal gibt’s auch eine Keilerei.“ Wichtig sei vor allem „das Hinterher: Entschuldigung! Bitte! Danke!“

Bert hat heute schon einige Flaschen Bier getrunken, seine Zunge liegt ihm hörbar schwer im Mund. Links daneben sitzt Horst, 58 Jahre alt, und nicht nur sein Pullover, den er an diesem frühen Abend trägt, strahlt in tiefem Blau. Bald wird Feierabend sein für diesen Tag, von zehn bis zehn ist hier geöffnet, eine Tageskneipe. „Noch’n Holsten“, versucht Horst jetzt zu rufen, und der Wirt versteht gleich die Bestellung, „morgen um fünf muss ich wieder im Hafen sein“, letzte Flasche für ihn auf seiner täglichen After-Work-Party. Bert sagt nun, er selbst könne ja nicht mehr arbeiten, sei unfähig geschrieben, aber morgen in der Frühe, da wär’ auch er rechtzeitig hoch. „So ab zehn bin ich hier in die Kneipe. Jedenfalls vielleicht, ich mach nämlich auch schon mal Pause.“

Den ganzen Tag nur in der Kneipe, fast jeden Tag, wie viel Geld kostet das? „Das ist wirklich eine dumme Frage“, raunzt Bert jetzt ganz böse und dreht sich verärgert zur Seite, „da antworte ich nicht mehr drauf.“ Einen Moment lang entsteht Stille am Tresen, und bald beginnt der Wirt langsam, leere Bierflaschen von einer Kiste in eine andere umzustecken. „So pauschal kann man das doch überhaupt nicht sagen“, antwortet Bert schließlich doch noch, aber weiterhin arg maulig wegen der Frage, „man kann ja auch mal krank werden.“

Peter Brandhorst

GABI lässt grüßen

Wie Bonn Obdachlosen und Außenseitern hilft

(aus Hinz&Kunzt 119/Januar 2003)

Überall wächst der Druck auf Obdachlose und Bettler. Überall? Nein, in Bonn sorgen Polizisten und Sozialarbeiter gemeinsam für ein gutes Klima.

Groningen? Da fahr ich nie wieder hin!“ Horst kann sich noch heute in Rage reden, wenn die Rede auf die niederländische Provinz-Metropole kommt. Sieben Tage verbrachte der 66-jährige Hinz & Kunzt-Verkäufer in der 160.000-Seelen-Stadt – und machte einprägsame Erfahrungen: „In der ganzen Stadt sieht man keine Obdachlosen, keine Bettler, keine Straßenmusikanten, nix“, berichtet er. Einmal habe er versucht zu betteln, „nicht aufdringlich, ich bin immer höflich“. Da sei sofort die Polizei gekommen und habe ihn angeblafft: „Los! Hoch, hoch, hoch!“

Ob solche Verhältnisse bald auch in Hamburg herrschen? „Um den für die Sicherheit und Sauberkeit als störend empfundenen Verhaltens-weisen wirksam entgegenzutreten“, soll ab Januar ein städtischer Ordnungsdienst die Straßen und Plätze kontrollieren, beschloss der Senat. Neun Wochen sollen die uniformierten Ordnungshüter – zunächst 30, später 60 bis 70 – in der Landespolizeischule ausgebildet werden. Dann erhalten sie Befugnisse, die bisher ausschließlich in Polizeihänden lagen. Sie dürfen Bußgelder verhängen, Platzverweise aussprechen und sogar Menschen in Gewahrsam nehmen. Wen diese Maßnahmen treffen werden? Thomas Model, Sprecher der Innenbe-hörde, nennt ein drastisches Beispiel: „50 Leute, zu wie die Nattern, belästigen die Passanten…“

Dass es manchem um mehr geht als „Pöbeln, Urinieren, aggressives Betteln“ (Senat), zeigt sich derzeit in Hamburg-Harburg. Seit Monaten machen Bezirks-Politiker der regierenden Rechts-Koalition Stimmung gegen Sozialschwache und deren Treffpunkte. So forderte Wolfgang Renckly von der Schill-Partei angesichts von Dosenbier trinkenden Menschen: „Die öffentlichen Saufgelage müssen endlich aufhören.“ Sein ehemaliger Parteifreund Peter Schindler, nun bei der „Fraktion Hamburg Offensiv“ (FHO), legte nach: Um „Wegelagerei und Alkoholismus“ an „stadtbekannten Trinkertreffs“ wie dem Harburger Rathausplatz zu stoppen, forderte er die Einrichtung von „Bannmeilen“ – öffentliche Veranstaltungen wie der Weihnachtsmarkt seien davon natürlich nicht betroffen.

Es geht um Phänomene wie den „Klöntreff“ an der S-Bahn-Haltestelle Heimfeld. Seit Jahren stehen hier Tag für Tag Menschen mit Bierdosen in der Hand, schwätzen und machen die Bänke nahe des S-Bahn-Aufgangs zu ihrem Wohnzimmer. „Eine ganz gemischte Truppe von alteingesessenen Heimfeldern“, sagt Stadtteildiakonin Uschi Hoffmann. Anwohner finden den Anblick der Gruppe „natürlich nicht toll“, aber: „Sie können damit leben.“ Dass die Hardliner die sozialen Außenseiter nun vertreiben wollen, bringt die Sozialarbeiterin auf die Palme: „In jeder Kneipe wird gesoffen. Diese Leute machen nichts anderes als der gute Bürger auch – nur treffen sie sich in der Öffentlichkeit!“

Dass es auch andere Wege gibt, mit Außenseitern umzugehen, zeigt das Beispiel der ehemaligen Bundeshauptstadt. Das „Bonner Loch“, eine vertieft gelegene Fußgängerpassage am dortigen Hauptbahnhof, war früher bei Passanten gefürchtet. Drogenkranke, Alkoholiker und Obdachlose hatten den zentral gelegenen Ort zu ihrem Treffpunkt gemacht, bis zu 200 Menschen versammelten sich dort an lauen Sommerabenden. Mehr und mehr Bürger beschwerten sich, und die Lokalpresse trommelte lautstark für die „Beseitigung des Schandflecks“.

Da schlug die Stunde von „GABI“ (Gemeinsame Anlaufstelle Bonn Innenstadt), einer 1992 neu eingerichteten kleinen Wache direkt am Rand der umstrittenen Passage. Das Besondere: Polizei, Ordnungsamt und Sozialarbeiter kümmern sich hier gemeinsam um die Lösung von Problemen – mit Erfolg, meint Jürgen Speckenheuer, Leiter der etwas anderen Polizeidienststelle, deren Mitarbeiter allesamt aus eigenem Willen im „Bonner Loch“ arbeiten: „Früher sind hier einige Obdachlose im Winter erfroren. Das passiert nicht mehr, weil wir den Menschen direkt Hilfe vermitteln können.“

Wenn Speckenheuers Uniformierte vor der Tür ihrer kleinen Wache Streife gehen, arbeiten sie gleichzeitig als Ordnungshüter und Menschenfreunde: „Einen Alkoholiker, der hier täglich steht, den sprechen wir natürlich an. Geben ihm Tipps, wo er Hilfe findet, und fragen immer mal nach: ,Und, hast du schon was getan?‘“ Zwang oder Vertreibung, weiß der Polizeihauptkommissar, helfen nicht: „Wir weisen den Weg – gehen muss ihn der Betroffene selbst.“

Klar, wenn es Ärger gibt oder Straftaten, schreiten die Beamten ein: „Ohne Repression geht es nicht“, sagt der Polizist. Doch meist ist die nicht nötig. „Dadurch, dass wir ständig präsent sind, haben wir einen ganz anderen Umgang mit den Menschen. Man kennt sich.“

Heute steht fast die gesamte Stadt hinter dem Modellprojekt, die örtliche CDU zum Beispiel fordert bessere Räumlichkeiten für GABI und mehr Streetworker für die Hilfsbedürftigen. Und während andern-orts Sozialarbeiter gerne über Ordnungshüter klagen, sagt Roland Graaf, Berater beim Verein für Gefährdetenhilfe, der nahe des Szene-Treffpunkts eine Anlaufstelle für Drogenkranke betreibt: „Wir arbeiten mit der Polizei Hand in Hand, um unserer Klientel zu helfen.“ Die Zusammenarbeit habe sich bewährt und die Bevölkerung „kapiert, dass es diese Menschen gibt“, bilanziert der Psychologe die zehn-jährige Erfolgsgeschichte von GABI und sagt: „Was soll man die Leute vertreiben? Dann sind sie irgendwann woanders…“

Ulrich Jonas

Härte statt Hilfe

(aus Hinz&Kunzt 119/Januar 2003)

Justizsenator Roger Kusch verschärft den Strafvollzug. Der Sicherheit in der Stadt hilft das kaum. Nicht nur Gefangene protestieren gegen die Verschärfung, sondern auch namhafte Ärzte und Juristen.

Hinter Gittern rumort es. An einem Montag im Dezember meldeten sich Gefangene der Justizvollzugsanstalt II („Santa Fu“) kollektiv krank und erschienen nicht zur Arbeit. Nach Behördenangaben waren es rund 50, nach Angaben aus der Anstalt weit mehr als 100 Häftlinge. Sie wurden ärztlich untersucht – ohne Befund. Den Rest des Tages mussten die Streikenden in ihren Zellen verbringen.

Kein dramatischer Vorfall. Aber ein Hinweis auf die Unruhe unter Gefangenen. Denn die politischen Vorgaben von Justizsenator Roger Kusch (CDU) verändern den Hamburger Strafvollzug: Die Gangart wird härter.

Junkies im Knast

Drogenkonsum ist Alltag im Knast. Die Justizbehörde geht mit schärferen Kontrollen und Sanktionen dagegen vor, hat den Spritzentausch abgeschafft und fährt das einzige drogentherapeutische Angebot, die Substitution, zurück. „Verstärkter Druck auf die Abhängigen löst keines ihrer Probleme“, sagt dagegen Klaus Behrendt, leitender Arzt der Abteilung für Abhängigkeitserkrankungen im Klinikum Nord und Geschäftsführer der Hamburger Drogenambulanzen.

„Schwerstabhängige tun alles, um weiter zu konsumieren“, so der Arzt. Sie würden sich zum Beispiel prostituieren und noch höher verschulden, um an Stoff zu gelangen. Spritzen werden laut Behrendt im Gefängnis hoch gehandelt, über Monate verwendet und mit Margarine gangbar gemacht. Sogar angefeilte Kugelschreiberminen dienen demnach als Injektionsnadeln. Durch gemeinsame Benutzung der Spritzen steige das Risiko von HIV- und Hepatitis-Infektionen, so der Arzt. Behördensprecher Kai Nitschke hält dagegen: „Abhängige, die Hilfe brauchen, bekommen sie nach wie vor.“

Großgefängnis Billwerder

Hamburg hat derzeit rund 3.100 Haftplätze. Fast jeder vierte ist im offenen Vollzug, während es im Bundesdurchschnitt nur jeder sechste ist. Diesem Mittelwert wird sich Hamburg bald annähern: In Billwerder entsteht ein Großgefängnis mit etwa 500 zusätzlichen Plätzen – überwiegend geschlossen.

Hintergrund: Der Senat rechnet mit einem „weiterhin starken Anstieg der Gefangenenzahlen“ in Hamburg – aufgrund einer „Intensivierung der Strafverfolgung und der Verhängung von mehr und längeren Haftstrafen“. Billwerder sei „eine kostenintensive Fehlplanung“, sagt dagegen der ehemalige Abteilungsleiter in der Justizbehörde, Gerhard Rehn. „Für viele Gefangene ist geschlossener Vollzug nicht erforderlich.“

Weniger Lockerungen

Ausgang und Urlaub werden eingeschränkt. Im Jahr 2001 gab es rund 6.800 Bewilligungen, in den ersten neun Monaten 2002 waren es nur noch 3.789. Als Erfolg des neuen Kurses verbucht die Justizbehörde, dass Ausgang und Urlaub weniger missbraucht werden, Gefangene also pünktlich in die Haftanstalten zurückkehren. Die Statistik zeigt allerdings, dass Missbräuche seit 1996 kontinuierlich abnehmen – also auch schon unter Kuschs Vorgängern.

Geplant ist außerdem, Telefonate von Häftlingen stärker zu kontrol-lieren, ihre Bewegungsfreiheit im Knast zu begrenzen und Besuchs-zeiten zu kappen – auch, um Personal zu sparen. Diese Maßnahmen sorgen vor allem in „Santa Fu“ für Unruhe, wo bisher relativ groß-zügige Regeln gelten.

Gnade eingeschränkt

Erklärtes Ziel des neuen Senats war es auch, die angeblich „ausufernde Gnadenpraxis“ (Koalitionsvertrag) einzudämmen. In Hamburg hatte sich über Jahre eine für Gerichte, Staatanwaltschaft, Justizvollzugsanstalten, Polizei, Rechtsanwälte und soziale Einrich-tungen gut funktionierende Gnadenpraxis entwickelt. So konnte im Einzelfall bei besonderen Härten schnell geholfen werden. Im Septem-ber wurde die Gnadenabteilung, die vorher beim Landgericht angesie-delt war, zur Staatsanwaltschaft verlegt. Behördensprecher Kai Nitschke begründet dies mit „höherer Effizienz“. Böse Zungen behaupten, dass jetzt alle positiven Entscheidungen Roger Kusch vorgelegt werden müssen. Nitschke bestreitet das vehement.

Ob ein Haftbefehl vollstreckt oder aus bestimmten Gründen, wie beispielsweise bei einer schweren Krankheit, ausgesetzt wird, darüber entscheiden im Vorwege die Vollstreckungsdezernenten der Staatsan-waltschaft. Unter der rot-grünen Regierung galten Schwangerschaft und Mutterschaft bei geringen Strafen als Härtefall oder als Gnaden-grund. Das scheint sich geändert zu haben. Alleine im Oktober und November saßen insgesamt fünf junge Mütter im Knast, teils mit, teils ohne ihre Säuglinge (H&K 118).

Neue Grundorientierung

„Haft darf kein Luxusurlaub sein“: Mit solchen Äußerungen macht Senator Kusch Stimmung für mehr Härte gegenüber Gefangenen. „Ziel des Strafvollzugs ist Resozialisierung und Behandlung“, sagt dagegen der Hamburger Kriminologie-Professor Klaus Sessar. Der offene Vollzug solle die Regel sein, so schreibe es das Gesetz vor. Weil der Justizsenator in die entgegengesetzte Richtung marschiert, werfen ihm Sessar und andere Juristen „Abkehr von den gesetzlichen Grundlagen“ vor.

Mehr Sicherheit?

Macht Kuschs harte Linie Hamburg sicherer? Nein, meint das „Forum Hambur-ger Strafvollzug und Straffälligenhilfe“, dem neben Behrendt, Rehn und Sessar weitere Juristen, Ärzte und Gewerkschafter ange-hören. Wer nur auf Verwahrvollzug setze und Wiedereingliederung gering achte, schaffe nicht mehr, sondern weniger Sicherheit, so das „Forum“. Denn die Gefangenen würden „aggressiver und lebensun-tüchtiger entlassen, als sie es vorher waren“. Ein riskanter Kurs – denn fast jeder „Weggesperrte“ gelangt eines Tages wieder in die Freiheit.

db/bim

Literatur und Landwirtschaft

(aus Hinz&Kunzt 119/Januar 2003)

Mit dem Mara-Cassens-Preis wird seit 25 Jahren eine wichtige Aus-zeichnung für den literarischen Nachwuchs vergeben. Doch wer ist Mara Cassens? Ein Hausbesuch bei der Stifterin.

Die Morgensonne beleuchtet hartgefrorene Wiesen und Äcker – und fällt großzügig durch die Panoramafenster. So großzügig, dass man die Augen zusammenkneifen muss. Ein großer brauner Hund schnüffelt träge um einen rie-sigen dunklen Holztisch herum. Im Gegenlicht die Silhouette einer zierlichen Frau. Sie verab-schiedet einen Mann in grünem Arbeitszeug, der in den Pferdeställen nach dem Rechten sehen soll. Die freundliche blonde Haushälterin eilt aus der Küche herbei und bietet Kaffee und Tee an. Wäre dies ein Gesellschaftsroman aus dem 19. Jahrhundert, würde man jetzt mit „gnädige Frau“ angesprochen.

Doch obwohl die Szenerie im Haus von Mara Cassens auf den ersten Blick Romanähnlichkeit hat, täuscht dieser erste Blick: Die 59-Jährige züchtet Pferde, kümmert sich auf ihrem Obsthof bei Stade um biologische Anbau-methoden und ist eine begeisterte Leserin. Deshalb stiftet sie seit 25 Jahren den wichtigsten deutschen Literaturpreis für ein Romandebut, der auch nach ihr benannt ist.

„Die Neue literarische Gesellschaft hat auch schon vorher einen Preis für einen Roman-Erstling vergeben, ich habe ihn nur etwas aufgestockt“, sagt sie bescheiden. Das Geld – mittlerweile 10.000 Euro – sollte eben nicht nur eine Anerkennung sein, sondern dem Schriftsteller ermöglichen, eine Weile davon zu leben und sich ohne Geldsorgen auf das Schreiben zu konzentrieren.

„Wenn Sie kürzere Prosa schreiben, können Sie nebenbei noch jobben, aber ein Roman verlangt unendlich viel Disziplin und Konzentration.“ Sie weiß das, weil sie inzwischen viele der Autorinnen und Autoren kennen gelernt hat.

Ihren braunen Augen sieht man die Begeisterung an, wenn sie von diesen Begegnungen erzählt, bei denen sie oft interessante Verbin-dungen zwischen Leben und Literatur festgestellt hat, „die einem manchmal ganz neue Perspektiven auf die Geschichte eröffnen“. Natürlich plaudert sie keine Einzelheiten aus, aber es ist unüber-sehbar, dass sie eine lustvolle Menschenbeobachterin und -kennerin ist.

„Viele, wie Marlene Steeruwitz oder die Preisträgerin des vergangen Jahres, Annette Pehnt, schicken mir regelmäßig ihre neuen Bücher, das ist natürlich sehr schön“, ergänzt sie dann noch ihr Vergnügen an dem Preis, aus dessen Vergabe sie sich allerdings strikt heraushält. Gemeinsam mit dem Hamburger Literaturhaus bestimmt sie lediglich den Juryvorsitzenden – derzeit der ehemalige Preisträger John von Düffel – und findet es ansonsten wichtig, dass die Jury ausschließlich aus Lesern und nicht aus den üblichen Verdächtigen des Literatur-betriebs besteht. „Wenn ich da als Stifterin säße, würden die anderen vielleicht gar nicht mehr gegen mich stimmen“, lächelt sie.

Sie will sich auch nicht auf ein Lieblingsbuch festlegen lassen, sondern findet gerade die Vielfalt der Literatur faszinierend. In ihrem Bücher-regal findet sich allerdings eine auffällig große Zahl von Marguerite Duras’ Werken.

Nein, selber schreiben wollte sie nie, der Gedanke sei völlig abwegig, auch wenn sie sich schon als Jugendliche für Kunst und Literatur interessiert habe. Die Tochter eines Nürnberger Zahnarztes wurde dann erst mal Stewardess, verliebte sich in den Hamburger Kaufmann Holger Cassens, mit dem sie noch heute verheiratet ist, und zog 1968 in den Norden.

Dann erst näherte sie sich über die Pferdezucht ihrer eigentlichen Leidenschaft an, der Landwirtschaft. „Das hat mich eigentlich schon immer interessiert, aber wenn man nur in der Stadt aufwächst, ist das ja irgendwie abwegig.“ Heute ist es das ganz und gar nicht mehr. Mara Cassens stellte ihren Hof auf biologische Anbaumethoden um, gründe-te gemeinsam mit anderen Bauern einen „ökologischen Obstversuchs-ring“, zu dem inzwischen 50 Betriebe in ganz Norddeutschland gehören, und setzt sich dafür ein, dass die Forschung in diesem Bereich stärker gefördert wird, „denn nur dann können es sich Bauern auch leisten umzustellen.“

Bei diesem Thema redet sie sich schnell warm – und genau darin sieht sie auch ihre Rolle: „Von der praktischen Landwirtschaft verstehen andere, die das gelernt haben, mehr. Ich kümmere mich um die Kontakte zu den Ministerien, um Öffentlichkeit und Unterstützung.“ Auf die Frage, ob sie denn trotzdem manchmal selbst in Gummistiefeln über ihren Apfelhof stapfe, schaut sie die ahnungslose Großstädterin fast mitleidig an: „Natürlich, das müssen Sie, sonst können Sie das Ganze überhaupt nicht begreifen.“

Begreifen, das ist überhaupt ein Schlüsselwort für sie. Ob das nun der niedersächsiche Ackerboden ist, die Kulturpolitik der Hansestadt oder die Ansichten einer jungen ungarischen Autorin – Mara Cassens interessiert sich auf zupackende Weise für die Vielfalt der Welt und ganz besonders dafür, wie sie sich verändert.

Geld eröffnet dabei natürlich Möglichkeiten. Doch verpflichtet fühlt sie sich nur gegenüber ihren Mitarbeitern, „da trägt man Verantwortung.“ Natürlich bekommen die Erntehelfer einen korrekten Stundenlohn, der Bereiter für die Pferdezucht ist fest angestellt, die Gestütsleiterin hat weit gehende Entscheidungskompetenz, und der Mann im grünen Arbeitsanzug, „Gustav Mahler, der all das hier mit mir aufgebaut hat und seitdem bei mir arbeitet, besitzt natürlich lebenslanges Wohn-recht.“

Ach ja, der Hund heißt Sally und ist „ein wenig antiautoritär“ erzogen. Vielleicht könnte Mara Cassens’ Leben eines Tages doch noch Vorlage für einen Gesellschaftsroman werden, allerdings für das 21. Jahrhun-dert.

Sigrun Matthiesen

Sportlicher Witzbewerb

Beim 1. Hamburger Cup of Comedy bestimmen die Zuschauer, was lustig ist

(aus Hinz&Kunzt 119/Januar 2003)

Witzig sein, das wollen viele. Vielleicht zu viele, jedenfalls zu oft die falschen. Davon kann man sich allabendlich beim Durchzappen der Quatsch- und Gag-Shows überzeugen.

Doch was heißt das schon, witzig? Und wer ent-scheidet, ob Comedy wirklich komisch ist? Da Humor nun mal Geschmackssache ist, beschlos-sen zehn Stadtteilkulturzentren, die Frage demo-kratisch-sportlich zu klären und riefen den „1. Hamburger Cup of Comedy“ aus.

In einem dreitägigen Turnier treten insgesamt 20 Gruppen und Solisten gegeneinander an und buhlen um die Lacher des Publikums. „Danach haben wir auch entschieden, wer überhaupt teilnehmen darf“, sagt Peter Rautenberg vom Goldbekhaus, der gemeinsam mit sechs anderen Jurymitgliedern mehr als 60 Bewerbungen von Nachwuchskomikern sichtete. „Sie mussten eine gewisse Bühnenpräsenz haben, und sie sollten noch nicht allzu bekannt sein, aber vor allem mussten sie eben einfach lustig sein!“

Für ihn persönlich sind die ganz gnadenlosen Attacken, die zielsicher Gebrechen und Schwächen treffen, weniger komisch, er lacht über „Geschichten, denen ich anmerke, dass hinter den Gags Liebe zu den Menschen steckt, und in denen ich mich selbst wiederfinde“.

Geradezu poetisch gelingt dieser etwas „sanftere Humor“ beispiels-weise dem Theater Trifolie. Mit wenigen Worten, aber umso mehr Körpereinsatz, skizzieren sie Situationen, die jeder zu kennen glaubt. Doch je weiter sich diese Szenen entwickeln, desto surrealer werden sie – und führen den Zuschauern das skurrile Potenzial des scheinbar normalen Verhaltens vor Augen. Am anderen Ende des Lachspektrums findet sich eine laute, schrille Truppe mit dem hübschen Namen „U-Bahn Kontrollöre in tiefgefrorenen Frauenkleidern“. Das Quintett mit den unsäglichen Outfits trägt den galoppierenden Irrsinn am liebsten als A-Capella-Weisen vor, wobei die Diskrepanz zwischen den wohltemperierten Melodien und den aberwitzigen Texten ihresgleichen sucht. Zwischen diesen Extremen ist Platz für Künstler wie Hans Gerzlich oder Thomas Kupferschmidt, die sich in bester Kabarett-Tradition auch mal der politischen Lage annehmen, Stand-up Comediens wie Horst Fyrguth oder Sven Nagel, Quatschmacher wie Herrn Fröhlich oder Ramona Schuhkraft und lustige Musikanten wie dem Hamburger Duo Poppschutz.

„Wir wollen auch zeigen, wie vielfältig die jungen Talente in diesem Bereich sind“, sagt Peter Rautenberg, „und sie mit dem Cup of Comedy fördern.“ Immerhin ist der erste Preis mit 1500 Euro dotiert. Doch um ihn zu gewinnen, muss man erst mal die Hauptrunde über-stehen: Dabei treten am Abend des 23. Januar in zehn Stadtteilkulturzentren jeweils zwei Künstler beziehungsweise Gruppen hintereinander auf – und das Publikum entscheidet, wer lustiger war. Die so ermittelten Sieger kommen ins Halbfinale, wo sie wiederum jeweils 45 Minuten Zeit haben, das Publikum für sich einzunehmen. Die verbliebenen fünf Finalisten präsentieren dann im Endspiel jeweils ihre Lieblings-Nummer, und die Zuschauer küren den ersten bis dritten Platz.

Als verantwortungsvolles Jury-Mitglied gibt Peter Rautenberg natürlich keinen Tipp ab, aber er erzählt seinen Lieblingswitz: Der Mathe-Lehrer gibt eine Arbeit zurück und ist verzweifelt: „80 Prozent waren so schlecht, dass sie eine fünf bekommen haben!“ Meldet sich ein Schüler und sagt: „Aber das kann doch gar nicht sein, so viele sind wir doch gar nicht.“

Finden Sie nicht zum Lachen? Macht nichts, beim Comedy-Cup ist sicher trotzdem was für Ihr Zwerchfell dabei.

Sigrun Matthiesen

Verantwortung auf Raten

Das Bodelschwingh-Haus setzt auf Hilfe beim Wohnen

(aus Hinz&Kunzt 119/Januar 2003)

Welche Angebote gibt es für Menschen, die nicht mehr auf der Straße leben wollen? In dieser Ausgabe stellen wir das Bodelschwingh-Haus vor.

Hinz & Kunzt-Verkäufer Heinz hält einen Schlüssel in der Hand: für anderthalb Zimmer mit Küche und Bad in Barmbek. Es ist seine Wohnung – auch wenn im Mietvertrag noch jemand anderes steht: das Bodel-schwingh-Haus, eine der großen stationären Hilfseinrichtungen für Obdachlose in Ham-burg.

Heinz war früher Tankwart, wurde arbeitslos, jobbte als Hafenarbeiter. Die Wohnung, in der er mit seiner Freundin gelebt hatte, konnte er nach deren Tod nicht mehr halten.
Seit Oktober 2001 lebt er im Bodelschwingh-Haus.

Die Geschichte des Hauses reicht zurück bis 1927: Damals gründete die Hamburger Kirche für obdachlose Männer das Haus Scharhörn. Wie die Chronik berichtet, gefiel den Nazis die kirchliche Arbeit nicht: Sie rügten schon 1933, dass die Bewohner nicht zur Arbeit verpflichtet waren, und wiesen keine Obdachlosen mehr zu. 1937 stellte das Haus seine Arbeit ein. 1950 wurde es als Bodelschwingh-Heim wiederer-öffnet.

„Im Frühjahr 2003 beginnen wir mit dem vollständigen Umbau“, sagt Leiter Horst Nitz. Das bezieht sich nicht nur auf die Wände im Haus, sondern auch aufs Konzept. Aus knapp 60 Einzelzimmern mit Gemein-schaftsküchen werden im Lauf von zwei Jahren 40 Appartements mit WC, Dusche und Kochnische. „Die Bewohner haben dort eine ähnliche Verantwortung wie in einer eigenen Wohnung. Das erleichtert den Übergang“, so der Sozialarbeiter.

Die Zahl der Plätze im Hauptgebäude wird also sinken. Doch zum Ausgleich sollen zusätzliche dezentrale Plätze entstehen: Wohnungen im Stadtgebiet, die das Bodelschwingh-Haus anmietet – mit der Aussicht, dass Bewohner den Vertrag später übernehmen. So wie bei Hinz & Künztler Heinz. Begonnen hat dieses Modell vor fünf Jahren. 25 Wohnungen wurden seither angemietet. Die Bewohner haben weiter-hin einen Ansprechpartner im Bodelschwingh-Haus, sie können dort ihr Geld verwalten lassen oder an Freizeitangeboten teilnehmen.

In Zukunft mehr solcher Wohnungen zu akquirieren, ist der Job von Katharina Schwabe. Die gelernte Kauffrau der Grundstücks- und Wohnungswirtschaft arbeitet seit Mitte des Jahres im Bodelschwingh-Haus; vorher war sie in der Privatwirtschaft tätig. „Der Markt bei Ein- bis Zwei-Zimmer-Wohnungen ist äusserst eng“, sagt die Wohnraum-Managerin, die hauptsächlich bei den städtischen Gesellschaften SAGA und GWG akquiriert.

Pluspunkte des Modells: „Die Vermieter wissen, an wen sie sich wen-den können“, so Katharina Schwabe. Und auch wenn ein Bewohner selbst zum Hauptmieter geworden ist, steht er nicht allein. Er kann die Nachsorge des Bodelschwingh-Hauses in Anspruch nehmen. Seit 1996 wurden auf diese Weise immerhin 180 Klienten unterstützt. Die Zahl der Wohnunnungsräumungen, so die Einschätzung des Bodel-schwingh-Hauses, sei dadurch „stark zurückgegangen“.

Detlev Brockes

Ärger auf dem Wohnschiff

Wachdienst schikanierte Obdachlose

(aus Hinz&Kunzt 119/Januar 2003)

Zwei Übergriffe durch Wachmänner meldeten Obdachlose vom Wohnschiff „Bibby Altona“.

In der Nacht vom 17. auf den 18. Dezember 2002 soll eine Frau von zwei Männern auf den Kopf geschlagen worden sein. Der Vorfall soll sich ereignet haben, nachdem sich Christine B., die an einer schweren Lungenkrankheit leidet, geweigert habe, in einem für sie bestellten Krankenwagen mitzufahren. Die Wachleute seien wegen dieser Geschichte „richtig genervt“ gewesen, so ein Bekannter der Frau.

Christine B. erzählt, dass sie von Wachmännern gepackt und in eine Ecke gedrängt wurde. Dort sei sie geschlagen worden. Ihr Bekannter konnte nichts sehen, hörte aber die Schreie der Frau, ebenso andere Bewohner. Er beschloss deshalb, Christine B. selbst ins Krankenhaus zu bringen. Der Wachdienst Pütz Security bestreitet, die Frau geschlagen zu haben.

Allerdings war das nicht der erste Zwischenfall. Vier Obdachlose wurden mitten in der Nacht von Sicherheitsleuten vom Schiff gejagt. Der Hintergrund: Ein Mann hatte in den Flur uriniert. Das wurde von den diensthabenden Wachmännern morgens gegen 1.15 Uhr entdeckt. Daraufhin weckten sie sämtliche Bewohner, deren Zimmer auf den Flur führten.

Als alle „angetreten“ waren, zwangen die Wachmänner die Obdachlosen einen nach dem anderen, einen Teil des Flures zu putzen. Vier Obdachlose weigerten sich. Die Sicherheitsleute zwangen die Männer nach deren Aussagen, sofort das Schiff zu verlassen. „Wir hatten kaum Zeit, unsere Sachen zu packen.“ In einem offenen Brief an den Betreiber des Schiffes, pflegen & wohnen (p&w), beschwerten sich die Männer über diese Schikane.

p&w-Sprecher Kay Ingwersen ging der Sache sofort nach. Die Sicherheitsmänner räumten ein, die Bewohner mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen und sie zur Säuberung des Flurs gezwungen zu haben. Allerdings stritten sie ab, die Verweigerer von Bord gejagt zu haben. p&w erteilte dem Wachdienst eine mündliche Ermahnung. „Das ist ein drastischer Hinweis: So geht das nicht“, sagte der Sprecher.

Noch am Nachmittag wurden die Obdachlosen wieder aufs Schiff gelassen. Peter Krause, Leiter der zentralen Erstaufnahme, entschuldigte sich bei den Männern. Krause hat allerdings in diesem Fall eine Erklärung für den Vorfall: Am Tag davor hätten vier Obdachlose eine Kabine mit Kot verschmiert. Krause geht davon aus, dass dies mutwillig geschah. Die Obdachlosen erhielten Hausverbot. Und die diensthabenden Wachleute bekamen von ihm einen Anschiss. Da hätten die Männer wohl „überreagiert“.

Das glauben viele Bewohner allerdings nicht. Dass man „blöd angemacht“ werde, komme häufig vor. Drei bis fünf Wachleute von den 20 hätten es regelrecht auf Streit abgesehen. „Denen darf man gar nicht in die Augen gucken, sonst fühlen die sich provoziert“, sagten mehrere Männer. Der Pütz Security Service gehört allerdings zu den Sicher-heitsdiensten mit einem relativ guten Ruf. Die Drogeneinrichtung Fixstern arbeitete mit Pütz zusammen und war „sehr zufrieden. Da hatten wir allerdings zwei bestimmte Ansprechpartner.“

Genau das strebt der Betreiber p&w jetzt auch an: Für das Winternotprogramm sollen in Zukunft zwei spezielle Wachleute zuständig sein. Krause: „Wir versprechen uns davon eine Verbesserung des Klimas.“

Birgit Müller

„Dort ein Fritz, hier ein Iwan“

(aus Hinz&Kunzt 119/Januar 2003)

Viele Aussiedler fühlen sich nirgends willkommen. Nicht in der alten Heimat und nicht in Deutschland. Bloß gut, dass es die Familie gibt.

„Wenn wir nach Deutschland gehen, sind wir reich“, pflegte Oma Hertha zu sagen. Dabei klopfte sie auf die Kiste, die prall gefüllt war mit Reichsmark. Über Jahrzehnte hütete sie ihren Schatz im fernen Kasachstan. Um so größer war die Enttäuschung nach der Ankunft in Deutschland 1973. Keiner wollte die riesigen Geldlappen annehmen.

Elena Böhm erinnert sich gut an diese Zeit. Sie selbst kam, damals neunjährig, zusammen mit Oma Hertha als Aussiedlerin nach Deutschland. Nach der Landung am Flughafen Frankfurt sah sie in den Geschäften überall die Auslagen und Lichter glitzern. „Ich dachte, ich bin mitten im Paradies“, sagt die dunkelhaarige, fröhliche Frau. Doch schon beim ersten Mittagessen im Erstaufnahmelager Friedland wich die Euphorie: Es gab Spinat, und der schmeckte fürchterlich. „Was für ein armes Land muss das sein“, dachte die kleine Elena, „dass die Leute Gras essen müssen.“

Großes Gelächter in der Runde. Am Tisch in den Räumen der Beratungsstelle „Der Begleiter e.V.“ in Bergedorf, sitzen Aussiedler aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Normalerweise kommen sie hierher, um beim Sprachtreff Deutsch zu lernen oder es aufzu-bessern. Heute erzählen sie von ihrem Leben. Geschichten wie die von Elena Böhm, die heute als Aussiedlerberaterin beim „Begleiter“ arbeitet, haben alle auf Lager. Doch was im Nachhinein lustig klingt, führte bei der Ankunft in Deutschland zu Tränen.

„Mein Sohn hat zwei Tage lang mit dem Kopf auf dem Tisch gelegen und nichts gegessen und getrunken“, erzählt Olga Bytschinski, die 1998 nach Deutschland kam und nach der Erstaufnahme zunächst kurz auf einem Schiff in Hamburg-Neumühlen untergebracht war. „Das Ungeziefer überall, der Schmutz – wir hatten Angst, einen großen Fehler gemacht zu haben“, so die 60-Jährige. Schließlich hatte die Familie in der russischen Kleinstadt, 20 Kilometer von Moskau entfernt, ganz gut gelebt.

Wenn Olga Bytschinski an die Ausflüge zum Pilzesammeln in die nahegelegenen Wälder denkt und an das schöne Wetter dort, wird der Blick der kleinen Frau im dicken Wollpullover weich. Und sie gerät ins Schwärmen, wenn sie stockend von ihrer „Lieblingsbeschäftigung“ erzählt, ihrem Beruf: 25 Jahre lang hat sie als Bauingenieurin gearbeitet. In Deutschland wurde ihr Diplom nicht anerkannt, und egal, um welchen Job sie sich bewarb, sie hörte das, was auch in Deutschland Geborene zunehmend hören: zu alt. Seither lebt Olga Bytschinski von einer spärlichen Rente, und die Motivation, das gebrochene Deutsch aufzupeppen, sinkt von Jahr zu Jahr.

Gerade ältere Aussiedler haben kaum Chancen auf dem hiesigen Arbeitsmarkt. Aber warum sind sie nach Deutschland gekommen? Natürlich haben alle auf wirtschaftlichen Wohlstand gehofft. Aber das war nicht der einzige Grund: „Wir waren da doch die Faschisten“, sagt die 50-jährige Ludmilla Miller. Schon als Schulkind in Kirgisien hatten Klassenkameraden ihr diesen „Spitznamen“ verliehen. Und später bei Bewerbungsgesprächen wurde die mit dem verräterischen Nachnamen Lichtenwald geborene Frau regelmässig mit der Begründung abge-lehnt: „Wir brauchen keine Deutschen.“

Waldemar Renschler, der gemeinsam mit seiner Frau Jelena 1995 nach Hamburg kam, erlebte direkt, wie der Zweite Weltkrieg friedliche Nachbarn zu Feinden machte. Der 69-Jährige wurde in der Ukraine geboren. Als Achtjähriger kam er 1944 zum ersten Mal nach Deutschland – als Deportierter. Wie alle seine Landsleute stand auch der kleine Junge nach dem Angriff Hitlers auf die UdSSR unter Gene-ralverdacht, mit dem Reich zu kollaborieren. Nach dem Sieg der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg brachte ihn ein Zug zurück – allerdings nicht in die Ukraine, sondern nach Sibirien ins Arbeitslager.

Obwohl die Sowjet-Deutschen im Jahr 1964 offiziell rehabilitiert wurden, bestimmte die Kollektivbeschuldigung noch lange die Einstellung gegenüber dieser nationalen Minderheit. „Dabei hatten viele von ihnen gegen die Nazis gekämpft“, sagt Elena Böhm.

Wir sind eine verlorene Generation“, meint Ludmilla Miller. „Dort waren wir der Fritz, und hier sind wir der Iwan.“ Die resolute Frau mit dem modernen Kurzhaarschnitt spricht sehr gut Deutsch. Ihren slawischen Akzent kann die gelernte chemisch-technische Assistentin dennoch nicht verbergen. „Ich versuche mich zu integrieren, aber wenn ich den Mund aufmache, schlagen mir hier oft Aggressionen entgegen.“ Alle nicken. Schon in Russland war man wegen der ewigen Ablehnung lieber unter seinesgleichen geblieben, hatte untereinander geheiratet. Hier in Deutschland wiederhole sich das nun. „Wir haben unsere Familien. Das ist das Wichtigste“, sagt Elena Böhm. Heimat ist da, wo die Familie ist.

Doch manchen reicht das nicht. „Ich selbst habe nie schlechte Erfahrungen gemacht“, sagt Nadine Ruks. Aber die schlanke 38-Jährige sorgt sich um ihren Vater. Er geht kaum noch aus dem Haus, lebt völlig zurückgezogen und frustriert. Ein Urlaub in Russland sollte Linderung bringen, aber der bewies erneut, dass sich der Vater auch in der Ferne nicht Zuhause fühlt. „Viele Aussiedler leiden unter Depressionen“, bestätigt Elena Böhm. Das Bergedorfer Krankenhaus habe beim „Begleiter“ daher schon mal angefragt, ob man einen russischsprachigen Psychologen vermitteln könne.

Nadine Ruks selbst hat sich durchgebissen. Die Englischlehrerin kam vor sechs Jahren nach Deutschland, ihrem Mann zuliebe und ohne ein Wort Deutsch zu können. Heute spricht sie fast akzentfrei und macht eine Umschulung zur Bürokauffrau. Mit ihren in Deutschland gebo-renen Kolleginnen trifft sie sich zum Kaffee. Sie fühlt sich wohl. Und ihrem achtjährigen Sohn, dem fällt inzwischen das Russische schwer. „Dagegen will ich was unternehmen“, sagt Nadine Ruks und lacht. Spinat mag er deshalb noch lange nicht. Obwohl er natürlich genau weiß, dass er kein Gras vor sich hat.

Annette Bitter

Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) gibt die Zahl der Aussiedler, die im Jahr 2002 aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland gekommen sind, mit rund 85.000 an. Im Jahr 1994 waren es noch 213.214 Menschen. Die Neuankömmlinge werden im bundesweit mittlerweile einzigen Erstaufnahmelager Friedland (bei Göttingen) untergebracht, bevor sie nach einem festen Schüssel auf die Bundesländer verteilt werden. Hamburg nimmt rund 2 Prozent der Menschen auf.