Der Tote von Stralsund

Wie zwei Polizisten eine „Störung“ beseitigten

(aus Hinz&Kunzt 126/August 2003)

Als Wolfgang H. am Abend des 6. Dezember zu Boden stürzt, eilen schnell Helfer herbei. Wie ein geschlagener Baumstamm donnert der groß gewachsene Mann auf die Steinfliesen. Es ist Freitag kurz vor Ladenschluss, und der Supermarkt am Frankendamm in Stralsund ist gut gefüllt. Wolfgang H. hat an diesem Nikolausabend besondere Beachtung erfahren. Mit einem Bekannten ist er direkt auf das Schnapsregal zugegangen, hat eine der hochprozentig gefüllten Flaschen geöffnet, sie angesetzt und in großen Schlucken daraus getrunken. Das hat den Marktleiter auf den Plan gerufen: „Wir sind keine Kneipe hier! Gehen Sie bitte zahlen!“, sagt er. Nach der zweiten Aufforderung gehen die beiden Alkohol-Liebhaber ohne Murren zur Kasse, zahlen, wollen gehen – und plötzlich stürzt Wolfgang H.

Was in der folgenden halben Stunde passiert ist, darum geht es im Prozess am Stralsunder Landgericht. Angeklagt sind die beiden Polizeibeamten Ronny D. und Rainer V. Sie haben, so viel räumen sie inzwischen ein, Wolfgang H. an diesem Abend „verbracht“, wie es im Polizeijargon heißt: in ihren Streifenwagen geführt und fünf Kilometer entfernt auf einem Acker bei Freienlande zurückgelassen – mitten im Winter, bei eisiger Kälte. Ein Spaziergänger fand den Obdachlosen am nächsten Morgen tot auf dem Boden liegend – genau dort, wo ihn die Beamten sich selbst und dem Frost überließen.

„Alkoholvergiftung in Kombination mit Unterkühlung“, daran ist der 35-Jährige laut Gerichtsmedizin gestorben. Sind die Polizisten der „Aussetzung mit Todesfolge in Tateinheit mit Freiheitsberaubung“ schuldig, wie die Staatsanwaltschaft glaubt?

Die Beschuldigten haben für die Verhandlung dunkle Anzüge gewählt. Sie wollen ihre Tat offensichtlich als tragisches Unglück verkaufen. „Ich kenne das aus eigener Erfahrung: Wenn man mal was trinkt und dann zu Fuß nach Hause geht, bekommt einem das sehr gut“, sagt Polizeiobermeister V., ein 46-jähriger Vater von vier Kindern, zu seiner Verteidigung. Seine hohe Stimme bildet einen auffälligen Kontrast zur kräftigen Statur.

Der mitangeklagte D., ein 26-Jähriger mit Schnauzbart, hat es mit den Worten nicht so: „Ich will nicht wissen, wie das ausgegangen wäre“, sagt D. der Richterin, als diese ihn fragt, warum sie den Wohnungslosen nicht einfach haben gehen lassen. Dann bemerkt er seinen Lapsus und ergänzt: „Obwohl, so wie’s ausgegangen ist, ist es auch nicht schön…“

Rückblende: Es hat leicht geschneit an jenem Nikolausabend, als H. seinen Kumpel Dieter B. auf der Straße trifft. B. hat von Bekannten ein paar Möbel geschenkt bekommen. Nun steht er vor seiner Wohnung und sucht einen Träger. Da kommt „Epi“, wie B. den Wohnungslosen nennt, gerade recht. Ob er nicht mit anpacken könne? „Dann musst du einen ausgeben!“, antwortet H. „Epi war angetrunken, aber gut drauf“, erinnert sich B., ein älterer Mann mit grauem Gesicht und zerschlissenem Anorak, der sich „Fachjournalist“ nennt und über seine Alkoholsucht sagt: „Wenn Sie über 60 sind, ist das eine elegante Art und Weise, sich von diesem Planeten zu verabschieden.“

Um 19.45 Uhr an jenem Abend geht in der Notrufzentrale der Rettungswache ein Anruf ein: „Hilflose Person im Sky-Markt am Frankendamm“. Ein Krankenwagen fährt los und auch eine Polizeistreife. Derweil müht sich Marktleiter Manfred H., der den Notruf gesendet hat, um den Gestürzten. Der ist offensichtlich auf den Kopf gefallen und hat kurz das Bewusstsein verloren.

Um 19.51 Uhr eilen die Sanitäter in den Markt, wenige Minuten später die Polizisten. Wolfgang H. ist inzwischen aufgewacht. Marktleiter Hellwig hat ihn mit dem Oberkörper an die Wand gelehnt. Dass die Helfer um ihn herum in gewisser Weise seine Henker sein werden, ahnt der Gestürzte nicht. Es ist kurz vor 20 Uhr, als der Marktleiter Wolfgang H. den Sanitätern überlässt. Ob er ihnen sagt, dass der Gestürzte ohnmächtig gewesen ist? Der Marktleiter weiß es nicht mehr – die Sanitäter sagen nein. Sie untersuchen H. und kommen zum Ergebnis: Dieser Mann ist „leicht betrunken“, aber „zeitlich und räumlich orientiert“.

Da treffen die Polizisten ein. „Das ist kein Fall für uns!“, sagt ihnen Sanitäter Andreas S. Ob er auch mitteilt, dass H. zusammengebrochen ist? Der Sanitäter sagt ja – die Angeklagten nein. Sie behaupten, der Marktleiter habe gesagt: „Die Person stört den Ablauf!“ Der Marktleiter kann sich daran nicht erinnern. Er sagt: „Fest steht doch eins, Frau Richterin: Es geht auf acht Uhr zu und man will den Markt zumachen.“ Auch die Sanitäter haben eine Erklärung parat: „Ich wollte nicht, dass der mit seinem Kumpel weitertrinkt“, sagt S. vor Gericht. Deshalb habe er gedacht, der Mann sei bei den Polizisten in guten Händen.

Warum die Beamten Wolfgang H. dann in ihr Fahrzeug mitnehmen, bleibt unverständlich. „Warum haben Sie ihn nicht einfach gehen lassen?“, fragt die Richterin. „Weil die Sanitäter gesagt haben, das ist ein Fall für uns“, antwortet der Angeklagte V. „Warum?“ – „Um die Störung vor Ort zu beseitigen.“ – „Hätte es nicht genügt, ihm zu sagen: Gehen Sie jetzt bitte weg!?“ – „Er wollte ja nicht alleine aufstehen. Er saß dort und wollte nicht weg.“ – „Das ist in den Akten gar nicht aufgetaucht, dass Herr H. gesagt hätte: Ich will nicht weg!“

Im Gegenteil: Zeugen berichten, H. habe gesagt, er wolle „nach Hause“, in die Unterkunft für Obdachlose. Doch diesen Wunsch erfüllen ihm die Polizisten nicht. „Der hat ganz schön Glück gehabt, dass wir uns in der Gewalt hatten!“, soll einer der beiden Angeklagten gesagt haben, nachdem diese in die Polizeiwache zurückgekehrt waren.

Dass das tragische Ende des Wolfgang H. bekannt wird, ist Polizeiobermeister Axel R. zu verdanken. Oder besser gesagt: seiner Frau. Die hat ihn zur Aussage überredet. R. war nicht nur Kollege, sondern auch guter Freund des Angeklagten V. Als am Morgen des 7. Dezember die Leiche gefunden wird, nimmt die Kriminalpolizei Ermittlungen auf. Es scheint, als sei der Tote abgelegt worden: Auf dem Bauch liegend wird er gefunden, die Arme auf dem Rücken, die Jacke halb heruntergezogen.

Wenige Tage später offenbart V. seinem Freund, dass die Leiche von Freienlande „sein Fall“ gewesen ist. Als R. fragt, warum sie den Hilflosen so weit draußen auf dem Acker ausgesetzt haben, soll der Angeklagte geantwortet haben: „Wenn das ein normaler Bürger gewesen wäre, täte es mir Leid. Aber das war eh nur ein Knastbruder, eine Dreckfresse. Um den ists nicht schade.“ R. ist geschockt. Dennoch lässt er sich überreden, zu schweigen. „Einen Kumpel scheißt man nicht an!“, denkt er. Zwei Wochen später hält er den Druck nicht mehr aus.

Im Gerichtssaal würdigen sich die einstigen Freunde keines Blickes. R. spricht leise. Dem Hauptbelastungszeugen fällt die Aussage sichtlich schwer. „Ich hab es nicht verstanden. Warum sind sie so weit rausgefahren?“, sagt er. Und warum bloß hat sich sein ehemaliger Freund nicht durchgesetzt gegen den 20 Jahre jüngeren Kollegen? Der soll angeblich gesagt haben, H. sei ein Säufer, wie sein Vater, deshalb könne er Alkoholiker nicht leiden.

Die Angeklagten bestreiten, je solche Sätze gesagt zu haben. Sie werfen dem Zeugen gar vor, selbst „Ortsverbringungen“ durchgeführt zu haben. Es sei, sagen sie zu ihrer Verteidigung, bis zu dem Todesfall „übliche Praxis“ gewesen, Betrunkene etwa in Freienlande, bei der Mülldeponie Kedingshagen oder am Umspannwerk auszusetzen. Manche Kollegen bestätigen das vor Gericht, andere nicht. Polizeileitung und Innenminister dementieren.

Einmal an den vier langen Verhandlungstagen kommen dem Angeklagten D. die Tränen. Da erzählt der junge Mann, wie er nach Bekanntwerden der Vorwürfe zum Opfer einer „Hetzjagd“ wurde. Wie Fremde ihn auf der Straße anpöbelten und Schläge androhten mit den Worten: „Das ist doch der Bulle, der einen hat draufgehen lassen!“ Da stockt D. die Stimme, Tränen steigen ihm in die Augen, und er sagt: „Mir wurde nichts anderes beigebracht! Man guckt sich von den Kollegen ja was ab. Man wollte ja auch vorwärts kommen.“

Stattdessen wandern die Polizisten hinter Gittern. Drei Jahre und drei Monate Haft ohne Bewährung, urteilt die Große Strafkammer – und geht damit weit über die Forderung des Staatsanwalts hinaus. Der hielt eine Strafe von einem Jahr und drei Monaten auf Bewährung für angemessen. Die Tat der Polizisten sei eine reine Willkürmaßnahme gewesen, um dem Betrunkenen eine Lektion zu erteilen, so die Begründung der Richter. „Es gab keinen Grund, den Mann am Stadtrand auszusetzen. Ein Platzverweis hätte gereicht.“ Verteidiger und Staatsanwaltschaft beantragen Revision.

Nur wenige Tage vor seinem Tod schien Wolfgang H. auf dem Weg zu einem neuen, besseren Leben. Ein Krankenwagen hatte den Mann, der sich den gesamten Körper, sogar das Gesicht, hatte tätowieren lassen, in die Suchtklinik gebracht. Zehn Tage blieb H. dort und machte einen Entzug. Dann besiegte ihn der Alkohol doch wieder. H. verließ fluchtartig die Klinik, es war der 5. Dezember. Nur einen Tag später sollte er sterben.

Ulrich Jonas

Die Champions aus Graz

Wie Obdachlose aus aller Welt die Streetsoccer-Weltmeisterschaft gewannen

(aus Hinz&Kunzt 126/August 2003)

Das Ganze fing chaotisch an, auf dem Hamburger Hauptbahnhof – und beinahe hätte die Streetsoccer-Weltmeisterschaft ohne die Spieler aus der Hansestadt stattgefunden. Hinz & Künztler Blondi stand zwar verabredungsgemäß morgens um 5 Uhr auf dem Bahnsteig; er hatte extra durchgemacht, um bloß nicht zu verschlafen.

Wer fehlte, war Mitspieler Frank, genannt Onkel. Und der hatte die Bahnfahrkarten. Völlig entnervt zog Blondi ab. Dachte schon, dass jetzt alles aus sei. Stunden später wachte Onkel auf, raste zum Bahnhof – und fand keinen Blondi. „Ich wusste nicht, was ich machen sollte, also setzte ich mich in den Zug und fuhr los“, sagt der 37-Jährige.

Nur mit Mühe konnte der Vertrieb den verprellten Blondi überreden, hinterherzufahren. „Als ich ankam, war das Eröffnungsspiel schon um“, sagt Blondi. Dafür gab’s großes Hallo. „Eh, du musst der zweite Spieler aus Hamburg sein“, wurde er gleich am Eingang der Schule begrüßt, in der die obdachlosen Champions aus aller Welt schlafen konnten.

Onkel hatte sich schon eingelebt. Zusammen mit den deutschen Kollegen aus Stuttgart, Freiburg und Regensburg teilte er sich ein Zimmer. Aber er wollte auch die anderen kennen lernen. Sprachschwierigkeiten? „Eigentlich nicht, wir verständigten uns mit Händen und Füßen.“ Zugegeben: Tiefsinnige Gespräche wurden nicht geführt. „Wir haben mehr gefeiert“, räumt Onkel ein. Aber ein bisschen was mitgekriegt hat man schon.

Die Russen zum Beispiel, so glaubt Onkel, wurden von ihrem Trainer ganz schön abgeschottet. „Die hatten erst mehr Kontakt, als der Trainer vorzeitig abgereist ist.“ Noch schlimmer soll es einer anderen Mannschaft ergangen sein. „Die waren sogar woanders untergebracht“, sagt Blondi. „Und wenn sie schlecht gespielt haben, mussten sie zum Straftraining, wie bei der echten Bundesliga.“ Genützt hats ihnen nichts, wie sich später herausstellen sollte.

„Fünf Minuten – und mir brannte die Lunge“

Die Grazer Spieler taten den Hamburgern sogar richtig Leid: „Die mussten morgens noch Zeitungen verkaufen, sonst wurde ihnen der Ausweis entzogen, nachmittags mussten sie trainieren und abends spielen.“ Dafür gehörten die schwarzen Asylbewerber, fast alle jung und sportlich, auf dem Spielfeld zu den Cracks. „Insgesamt gab es wahnsinnige Unterschiede.“ Tolle Spieler waren auch die Engländer. Die hatten im Voraus „gesiebt“, ein Profitrainer hatte die Mannschaft zusammengestellt. „Wenn man denen zugeguckt hat, konnte man richtig was lernen“, sagt Onkel anerkennend.

Meist ging es fair zu auf dem Feld. Einmal allerdings bekam Onkel von einem Waliser Gegenspieler „eine geditscht“. Abends beim Feiern kam der Mann auf ihn zu. „Ich wusste erst gar nicht, was er wollte“, sagt Onkel. „Aber dann war ich ganz baff: Der entschuldigte sich.“ Und die Schweizer („Mit denen verstanden wir uns am besten“) bekamen am Ende sogar noch einen Preis für faires Spiel verliehen. Auf dem Spielfeld gehörten die Schweizer zusammen mit den Deutschen allerdings zu den Losern unter den Mannschaften.

Bei den Deutschen kein Wunder: Die Mannschaft hat sich erstmals in Graz vollzählig gesehen. Zwar trugen sie auf ihrem orangefarbenen Trikot die Aufschrift „Venceremos“ („Wir werden siegen!“). Aber das mit dem Siegen war eher symbolisch zu verstehen, fanden die Spieler. Auch die Farbe des Trikots war irritierend. Denn Orange ist die Farbe der Niederländer. „In der Stadt wurden wir deswegen öfter auf Holländisch angesprochen“, sagt der Hinz & Künztler. Was ja noch nett war. Aber im Spiel gegen die Niederländer machte Onkel einen fatalen Fehler: „Wir spielten an dem Tag zwar in grünen Trikots, aber ich habe automatisch einen Orangenen angespielt.“ 

An den Ergebnissen hätten andere Trikots wohl nichts geändert. Die Kondition der Deutschen war einfach schlecht. „Fünf Minuten auf dem Spielfeld, und mir brannte die Lunge“, sagt Onkel. Aber das soll sich ändern. Blondi und Onkel wollen bei den Hobbykickern in der Mannschaft von H&K-Fotograf Mauricio Bustamante mitspielen.

Birgit Müller

„Das jagt dir eine richtige Gänsehaut ein“

0:14 im Auftaktspiel gegen Holland, 1:8 gegen Südafrika in der zweiten Partie, am Ende der Vorrunde 0 Punkte und 4:44 Tore aus sechs Spielen – perfekt kann man den Start der deutschen Fußballer ins WM-Turnier nicht wirklich nennen. Doch der Teamchef war bestens gelaunt: „Was für eine grandiose Atmosphäre. Wenn im vollen Stadion 1500 Zuschauer La Ola machen, das jagt dir eine Gänsehaut ein“, schwärmte Reinhard Kellner, der im Hauptberuf Geschäftsführer eines Regensburger Sozialverbandes ist und ehrenamtlich Chefredakteur der Straßenzeitung „Donaustrudl“. „Die Resultate sind da nebensächlich.“

Denn bei dieser Streetsoccer-Weltmeis-terschaft in der Europäischen Kulturhauptstadt traten – auf kleinem Straßenpflaster-Feld mit Banden – Obdachlose und Straßenzeitungsverkäufer aus 18 Ländern an. Menschen, die in soziale Not geraten sind und hier zeigten, was sie leisten können, wenn man ihnen eine Chance gibt und sie motiviert. In Graz boten sie teils erstklassigen Sport und packende Partien.

Träume wurden wahr: für die einen die erste Auslandreise ihres Lebens (alles finanziert von Sponsoren), für andere, die herausragenden Kicker, Verträge als Profifußballer (wirklich wahr!), für das österreichische Team, allesamt afrikanische Asylbewerber, nach dem gewonnenen WM-Titel vielleicht sogar die Einbürgerung. „Die Resonanz war unglaublich“, freut sich Judith Schwendtner vom Ausrichter, der Grazer Straßenzeitung „Megaphon“, über das Interesse der Medien. „Hier waren Fernsehteams und Zeitungen aus aller Welt. Und die waren nicht nur stolz auf ihre Spieler und haben über den Sport berichtet, sondern eben auch über Armut und Obdachlosigkeit in ihren Ländern.“

Deutschland wurde am Ende Sechzehnter. Mit mehr hatte Reinhard Kellner nicht gerechnet, eher mit dem letzten Platz. Sein Team jedenfalls, das als einziges nicht im Original-Nationaltrikot auflief, sondern in – vom Greenpeace Magazin gesponsorten – Orange-Schwarz, nahm’s undeutsch locker. „Auf meinen Wunsch war ‚Venceremos!‘ auf unsere Trikots gedruckt. Das heißt ‚Wir werden gewinnen!‘“, sagte der Bundestrainer. „Das stimmt ja auch“, fand sein Verteidiger Günther Bieda trotz eines Muskelfaserrisses: „Jeder, der dabei war, hat was gewonnen: Respekt, Selbstvertrauen und Freunde.“

Michael Friedrich

Flucht vor der Fahne

Warum Wehrmachts-Deserteur Ludwig Baumann und der Kurde Ilhami Akter nicht für ihren Staat kämpfen wollten

(aus Hinz&Kunzt 126/August 2003)

Schmeißt die Waffen weg!

Der weißhaarige Mann mit dem schmalen Gesicht hat Papier mitgebracht. Es sind Kopien, eingebunden in dunkelviolettem Karton. Ein Schriftstück von 1943 aus dem Kriegswehrmachtgefängnis. Die Korrespondenz, die er mit Berliner Ministerien führte. Die Schmähbriefe, die er bekam. Und vor allem die Artikel, die über ihn in der Zeitung standen, vom „Weser-Kurier“ bis zur „Washington Post“. Über ihn, den freundlichen alten Mann. Den ehemaligen Soldaten, der seinen wichtigsten Kampf nach Kriegsende führte: den Kampf um die Wiedererlangung seiner Würde.

Ludwig Baumann (81) desertierte im Zweiten Weltkrieg und gehört zu den wenigen, die das überlebten. Schätzungen zufolge wurden mehr als 30.000 Soldaten in Hitlers Armee wegen Fahnenflucht oder „Wehrkraftzersetzung“ zum Tode verurteilt, mehr als 20.000 Urteile wurden vollstreckt. Mehrere 10.000 Soldaten bekamen Zuchthausstrafen. „Das Grauen in den KZs und Strafbataillonen haben keine 4.000 von uns überlebt“, sagt Baumann.

In der Bundesrepublik galten Soldaten, die sich dem nationalsozialistischen Angriffs- und Vernichtungskrieg entzogen hatten, weiter als Straftäter. Auf ihre Rehabilitierung mussten sie mehr als ein halbes Jahrhundert warten: Erst 2002 beschloss der Bundestag, die Urteile der Militärgerichte gegen Deserteure und „Zersetzer“ aufzuheben. Ein Schritt, auf den Ludwig Baumann und seine Vereinigung „Opfer der NS-Militärjustiz“ lange hingearbeitet hatten.

Der weißhaarige Mann hat vor Schulklassen gesprochen und bei Kundgebungen, er hat Reporterfragen beantwortet und in den Talkshows von Biolek und Kerner gesessen. Er spricht auch jetzt detailreich und routiniert. Manche Sätze sagt er genau so, wie er sie schon anderen Zeitungen gesagt hat. Als sei das Wiederholen und Wiederholen und Wiederholen auch ein Mittel, die traumatischen Erinnerungen in Schach zu halten. „Wenn die Seele zerstört ist, dann ist sie zerstört“, sagt der weißhaarige Mann leise. Und fügt an, er habe gelernt, damit zu leben.

Baumann, Jahrgang 1921, wuchs in Hamburg-Eimsbüttel auf. Der Vater hatte sich zum Tabakgroßhändler hochgearbeitet, seine Beziehungen sollten dem Sohn später das Leben retten. Als 1936 die Mutter starb, veränderte sich der Junge: Er, der ängstlich versucht hatte, den Forderungen des jähzornigen Vaters zu genügen, nahm nicht mehr alles hin. Als er 1940 zur Marine eingezogen wurde, führte er manche Befehle – etwa den Vorgesetzten die Stiefel zu putzen – nicht aus und robbte dafür durch den Schlamm.

„Ich kann es nicht erklären, ich habe es einfach getan“, sagt Baumann. Mit der Fahnenflucht muss es ähnlich gewesen sein. Bei der Hafenkompanie in Bordeaux hätte Baumann ein ruhiges Soldatenleben haben können. Aber er wollte nicht mehr. In der Wochenschau hatte er die russischen Gefangenen gesehen, die auf freiem Feld eingekesselt waren und nun erfrieren würden. Nein, er wollte nicht mehr mitmachen bei diesem Krieg.

Anfang Juni 1942 verlässt Baumann mit seinem Freund Kurt Oldenburg die Kompanie. Sie wollen ins unbesetzte Frankreich und später über Marokko nach Amerika. Doch eine deutsche Streife greift sie auf. 40 Minuten dauert die Verhandlung vor dem Militärgericht, dann ist Baumann zum Tode verurteilt. „Die Flucht vor der Fahne ist und bleibt das schimpflichste Verbrechen, das der deutsche Soldat begehen kann“, schreibt der Marinekriegsgerichtsrat in der Urteilsbegründung. In der Zelle, an Händen und Füßen gefesselt, wartet Baumann jeden Morgen darauf, dass ihn die Wachen zur Hinrichtung abholen. Wenn sie vorbeigehen, gibt es einen weiteren Tag. Zehn Monate geht das so. In den Träumen verfolgt es Ludwig Baumann immer noch.

„Ich wollte nicht mehr mitmachen bei diesem Krieg“

Was der Verurteilte damals nicht wusste: Die Todesstrafe war schon nach wenigen Wochen in zwölf Jahre Zuchthaus umgewandelt worden. Das hatte sein Vater über einen Geschäftsfreund erreicht, der ein Kriegskamerad von Admiral Erich Raeder war und diesen zu einer Begnadigung bewegte. 1943 kam Baumann ins KZ im emsländischen Esterwegen, danach ins Wehrmachtgefängnis Torgau, wo er an Diphterie erkrankte. „Manchmal bekam ich Drillichzeug, das vorn einen kleinen und hinten einen großen Flicken hatte“, erzählt der alte Mann. Dann wusste er: Darin ist ein anderer erschossen worden.

Nach etwa einem Jahr musste er mit einem Strafbataillon an die zusammenbrechende Ostfront. Ein Todeskommando, bei dem auch sein Freund Oldenburg starb. Baumann wurde verwundet und von einem fürsorglichen tschechischen Arzt in Brünn so behandelt, dass seine Wunde nur langsam heilte. Das Kriegsende erlebte er in Schlesien.

Die Russen entließen den Deserteur schon nach einigen Monaten aus der Gefangenschaft. „Als ich nach Hamburg kam, konnte mein Vater mich nicht in den Arm nehmen“, erzählt Baumann. Fahnenflucht, das war unwürdig und feige, auch wenn man nicht für Hitler war. Der Vater stirbt 1947 „an Kummer und Magengeschwüren“. Auch der Sohn, der so lange als Vaterlandsverräter und Kameradenschwein und Feigling behandelt worden ist, der nach dem Krieg weiter so beschimpft wird, scheint sein Leben aufzugeben. Er wird Stammgast in einer Kneipe beim Gänsemarkt, übernachtet im Hinterzimmer, trinkt und spielt und hält die anderen Gäste frei. So verzecht er das väterliche Erbe.

Tagsüber verkauft er als Handelsvertreter Gardinen, später Radios und Fernseher. Dabei lernt er seine spätere Frau kennen und zieht 1951 zu ihr nach Bremen. Fünf Kinder kommen auf die Welt. Doch der Vater und Ehemann ergibt sich weiter dem Alkohol. Jahrelang. Erst als seine Frau 1966, bei der Geburt des sechsten Kindes, stirbt, wacht Baumann auf. Er kümmert sich um die Kinder, hört allmählich mit dem Trinken auf.

Langsam beginnt das politische Leben des ehemaligen Deserteurs. In den achtziger Jahren engagiert er sich in der Friedens- und Dritte-Welt-Bewegung. Am Bremer Hauptbahnhof verteilt er Flugblätter an Rekruten: „Schmeißt Eure Waffen fort und geht nach Hause.“ Er bekennt sich öffentlich als Fahnenflüchtiger, bekommt Morddrohungen und Schmähbriefe: „Seien Sie versichert, Volksschädling Baumann, dass Sie für alles alsbald sich vor dem Reichskriegsgericht in Berlin zu verantworten haben.“

1990 gründet er mit 36 anderen alten Männern die Bundesvereinigung „Opfer der NS-Militärjustiz“. Als deren Vorsitzender verfolgt Baumann den Eiertanz der Politik. An eine Rehabilitierung der Deserteure will niemand so recht heran, denn hieße das nicht, Millionen von Wehrmachtssoldaten, die nicht wegliefen, ins Unrecht zu setzen? 1998 beschließt der Bundestag zwar die pauschale Aufhebung von NS-Unrechtsurteilen, doch nimmt die Fahnenflüchtigen dabei aus: Sie sollen sich weiterhin einer Einzelfallprüfung unterziehen. Erst vier Jahre später werden auch ihre Urteile aufgehoben.

Die meisten, denen diese Wiedergutmachung galt, waren da schon tot. „Sie sind gedemütigt und vorbestraft verstorben“, sagt Ludwig Baumann. Von den Kriegsrichtern dagegen sei keiner je bestraft worden. Im Gegenteil, sie seien bis zu Bundesrichtern aufgestiegen, hätten die Rechtsprechung in ihrem Sinne prägen und damit ihre eigene Strafverfolgung verhindern können. Für den weißhaarigen alten Mann ist der Kampf noch nicht zu Ende. Er möchte erreichen, dass Gedenksteine für Deserteure aufgestellt werden, zum Beispiel in Esterwegen und Torgau. „Wir Deserteure der Wehrmacht“, sagt der 81-Jährige, „sollten eigentlich Vorbilder für die Bundeswehr sein. Wollte sie heute einen Krieg wie die Wehrmacht führen, wären die Soldaten von der Verfassung her gezwungen, zu desertieren.“

Kaum Asyl für Deserteure

Das türkische Militär kam fast täglich ins Dorf. Panzer fuhren auf, Soldaten griffen Zivilisten heraus, schlugen sie, drohten ihnen, nahmen sie mit. Grund der Einsätze: die angebliche Unterstützung der Dorfbewohner für die kurdische Unabhängigkeitsbewegung PKK. Für den Kurden Ilhami Akter gehören diese Bilder zu den letzten Erinnerungen, die er an sein Heimatdorf im Osten der Türkei hat. Für ihn, damals 18 Jahre alt, war klar: „Ich will niemals Soldat werden.“ Schließlich wäre er mit dem türkischen Militär gegen seine Landsleute eingesetzt worden.

Mit Unterstützung der Eltern floh er 1989. Akter (31) lebt seitdem in Hamburg, zeitweise illegal, seit 1995 mit Aufenthaltserlaubnis. Ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung gab es im NATO-Staat Türkei damals wie heute nicht. In Deutschland hat das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen Verfassungsrang. Doch in vielen Staaten wie in Israel, Südkorea oder in den meisten afrikanischen Ländern droht Verweigerern Haft, so die Organisation War Resisters International. Andere Staaten wissen, wie sie „Zivis“ abschrecken. In Russland etwa müssen sie einen Dienst ableisten, der mit dreieinhalb Jahren fast doppelt so lang ist wie der Militärdienst und meist in Kasernen stattfindet, wo sie den Schikanen der Soldaten ausgesetzt sind.

Wer aus diesen Gründen sein Land verlässt, wie Ilhami Akter es getan hat, findet in Deutschland nicht unbedingt Asyl. „Das Bundesamt weigert sich, Kriegsdienstverweigerer und Deserteure als Flüchtlinge anzuerkennen“, sagt der Anwalt Hartmut Jacobi, der viele Verfahren begleitet hat. Vor dem Verwaltungsgericht seien die Chancen höher. Jacobis Resümee: „Ausländische Kriegsdienstverweigerer können sich hier keineswegs sicher fühlen. Wenn sie Glück haben, haben sie Glück.“

Ilhami Akter hatte Glück, schließlich. Sein erster Asylantrag war abgelehnt worden. Vier Monate lang hielt er sich illegal in Hamburg auf, bis ihn die Polizei bei einer Ausweiskontrolle festnahm. In der Ausländerbehörde wollte er sich aus dem Fenster stürzen, um der Abschiebung zu entgehen, doch dann gelang ihm die Flucht. Er tauchte monatelang unter, war im Kirchenasyl, stellte einen Folgeantrag. Seit November 1995 ist er anerkannt – er selbst vermutet, wegen seiner Arbeit für kurdische Verweigerer – und darf unbefristet bleiben. Er machte den Hauptschulabschluss und verdient sein Geld als Taxifahrer. Das Dorf, in dem seine Eltern noch leben, hat er nicht mehr wiedergesehen.

Detlev Brockes

Irre Gärten

„Klasse, endlich bin ich meine Mutter los“ – Ausflug ins Mais-Labyrinth

(aus Hinz&Kunzt 126/August 2003)

„Hast du die Schubkarre gesehen?“ Es sind solche Fragen, die Karsten Eggert (34) seit kurzem nicht mehr hören möchte. Denn wer jetzt aufs Feld muss, um die Schubkarre zu suchen, hat kilometerlange Irrwege vor sich und kehrt vielleicht erst nach einer Stunde entnervt zurück. Ohne das Ding gefunden zu haben.

Auf einem Feld bei Jersbek, zwischen Ahrensburg und Bargfeld-Stegen, hat Eggert Ende Juli sein Mais-Labyrinth eröffnet. Bis Mitte September rechnet er mit etlichen tausend Besuchern. Sie werden die Wege abschreiten, die er in kunstvollen Formen im Mais angelegt hat. Sie werden landwirtschaftliches Dschungelgefühl genießen – immerhin wachsen die Pflanzen mehr als zwei Meter hoch. Und sie werden nach vielen Irrwegen an einem Platz ankommen, wo sie sich am Freiluft-Tresen stärken können. Einige haben die Gelegenheit genutzt und unterwegs leidige Familienangelegenheiten geregelt: „Das Labyrinth ist klasse, endlich bin ich meine Mutter los“, stand vergangenes Jahr im Gästebuch.

Die grünen Irrgärten breiten sich aus. Besucher haben ihren Spaß, Bauern verdienen sich ein paar Euro dazu, und im Herbst wird alles abgemäht. Die Landwirtschaftskammer Schleswig-Holstein hat zwar keine Zahlen, aber Sprecher Manfred Christiansen bestätigt den Trend: „Das nimmt zu.“ Vor allem rund um Hamburg und in den Urlaubsgebieten sei die Nachfrage groß. Die Leute können „rein in die grüne Natur“, so Christiansen, „und Fragen stellen“. Warum wir den ganzen Mais eigentlich brauchen. Und warum die Kühe ihn so gerne fressen.

Doch allein auf Wissbegier in Agrarfragen wollen die Labyrinth-Betreiber nicht vertrauen. Um die Irrgärten rankt sich inzwischen ein Programm, das vom bewährten Kaffeeausschank bis zu schrillen Events reicht, etwa der „Scream-Night“ in Eekholt oder dem „Rasenmäher-Traktor-Rennen“ in den Gängen des Besdorfer Labyrinths (siehe unten). Karsten Eggert veranstaltet auf seiner Feld-Bühne ein ganzes „Sommerfestival“ – mit „Taschenlampen-Party“, Open-Air-Kino, Kleinkunst-Nacht und Live-Musik. Zur Kurzweil auf den Wegen (und um Kinder von Abkürzungen abzuhalten) setzt er ein Maisgespenst ein. Die grün gekleidete Gestalt stößt ihr „U-aaah“ allerdings etwas vorsichtiger aus, seit eine Familie im Feld so erschrak, dass sie schreiend zum Parkplatz lief.

Für Karsten Eggert ist es das fünfte Labyrinth. Der Ahrensburger, der kurz vor dem Examen sein Betriebswirtschaftsstudium knickte und derzeit als Bildtechniker in der Fernsehproduktion jobbt, hatte in den neunziger Jahren von einem Mais-Labyrinth in England gelesen. Eine Weile lag der Zeitungsartikel in der Schublade. Als dann Eggerts damaliger Job auslief, griff er die Idee auf. 1998 legte er mit vier Freunden in Stapelfeld, im Osten Hamburgs, selbst ein Labyrinth an, stellte einen Klapptisch auf und schob einen Imbisswagen ins Feld.

Gleich mehrere Fernsehsender brachten Luftaufnahmen – „und am nächsten Tag war der Parkplatz voll“, erinnert sich Eggert. „Getränke mussten wir von der Tankstelle holen, und als uns die Pappen für die Wurst ausgingen, haben wir Maisblätter genommen.“ Wegen des außergewöhnlichen Medien-Echos, das seine Aktion damals hatte, vermutet er: „Wir waren wohl die ersten in Deutschland.“

1999 legte er ein Labyrinth im niedersächsischen Luhmühlen an, wo die Europameisterschaft der Military-Reiter stattfand, und weil eine Bank als Sponsor auftrat, brachte er ein überdimensionales Euro-Zeichen im Feld unter. 2000 war er vor den Toren der Weltausstellung in Hannover dabei. Der Ruhm war groß, die finanzielle Pleite auch. Zur Erleichterung seiner Kundenbetreuerin bei der Bank verzichtete er 2001 auf ein Projekt. Im vergangenen Jahr pachtete er dann erstmals das Maisfeld von Landwirt Carsten Studt in Jersbek. In diesem Jahr lautet das Motto: Garten Eden. Rund fünf Kilometer Wege schlängeln sich durch den Mais.

Aus der Luft betrachtet zeigen sie einen Apfel, einen Schmetterling und zahlreiche kleinere Symbole. Um den Baum der Erkenntnis darzustellen, sind weitere drei Kilometer Wege in ein angrenzendes Feld mit Wintergerste eingeschnitten. Die Feldforschung im Futtermais hat kulturgeschichtlich einen großen Hintergrund: Das Labyrinth ist ein altes Symbol der Menschen. In der klassischen Form gibt es nur einen einzigen Weg, ohne Kreuzungen, ohne Sackgassen. Er erreicht nach vielen Windungen schließlich die Mitte. Ein Zeichen für die Umwege, die der Mensch auf seinem Lebensweg macht, aber auch für die Gewissheit, immer geführt zu werden.

Andere Labyrinthe, besser als Irrgärten bezeichnet, sind komplizierter: Wege verzweigen sich, manche enden im Nirgendwo. Vorbei ist es mit dem meditativen Wandeln: Der Mensch darf entscheiden, welchen Weg er nimmt – und kann sich verirren. Plötzlich heißt es nicht mehr „Der Weg ist das Ziel“, sondern „Das Ziel ist weg“. Der griechische Königssohn Theseus hatte es da besser. Der Sage nach besiegte er den Minotaurus, der auf Kreta im Zentrum eines Labyrinths lebte. Das schaffte er aber nur, weil seine Geliebte Ariadne ihm eine Orientierungshilfe mitgegeben hatte: ein Knäuel, von dem er Faden abrollen konnte.

Zurück in die norddeutsche Gegenwart. Wie kommen hier die Gänge in den Mais? „Wir haben eine computergesteuerte Sämaschine, die gleich die Wege frei lässt “, sagt augenzwinkernd Gymnasiallehrer Wilhelm Bußmann, der zusammen mit Landwirt Hauke Carstensen ein Mais-Labyrinth beim Wildpark Eekholt betreibt. „Das funktioniert wie bei einer Strickmaschine, die Maschen auslässt.“ Mit solchen Geschichten unterhält Bußmann gelegentlich seine Besucher („Die glauben das“), doch die Wirklichkeit ist härter. Wenn die Saat im Boden ist, wird das Feld in Planquadrate eingeteilt. Helfer rücken mit der maßstabsgetreuen Skizze und Maßbändern vor und markieren mit Holzpflöcken und Kilometern von Trassierband, wo später die Wege sein sollen. An diesen Stellen werden dann die Maispflanzen, solange sie noch klein sind, abgefräst, herausgehackt oder -gerissen. Karsten Eggert hat für diese Handarbeit vier Tage gebraucht – zusammen mit zehn Helfern.

Auch im Dschungel von Organisation und Finanzierung waren viele Wege zu lichten, bevor das Jersbeker Labyrinth eröffnen konnte. Gema-Gebühr und Schanklizenz, der Bauantrag für die Bühne und das Gutachten der Feuerwehr, ob auf dem Platz ein Lagerfeuer flackern darf. Dann noch die kostenpflichtige Sondergenehmigung, damit Autos von der Straße aufs Feld einbiegen dürfen. Und den WC-Container stellte der Lieferant auch erst ab, als die Hälfte angezahlt war.

Ohne Preis kein Mais: Eggert musste alles vorstrecken, und das bereitet ihm gelegentlich Stress. Aber der ist hoffentlich vergessen, wenn er die Augustabende in seiner Freiluftkneipe genießt und auch mal auf dem Feld übernachtet. Trotz Maisgespenst.

Detlev Brockes

Lauter Grenzgänger

Der Episodenfilm „Lichter“ erzählt mit rauer Poesie von Menschen und ihren Träumen

(aus Hinz&Kunzt 126/August 2003)

Der Morgen graut. Ein Lastwagen holpert einen Waldweg entlang und stoppt. Aus dem Laderaum klettern ein Dutzend Menschen. Der Fahrer kommandiert: „Aussteigen! Wir sind da! Ich sage es nur einmal. Hört gut zu! Ihr versteckt euch jetzt den ganzen Tag im Wald. Wenn es dunkel wird, geht ihr die Straße bis zu den ersten Lichtern runter. Beim ersten Haus links werdet ihr erwartet. Von dort bringt man euch in die Stadt.“

Doch niemand wartet auf die Flüchtlinge aus der Ukraine. Und die Lichter, die in der Ferne leuchten, sind auch nicht Berlin, sondern Sublice, eine polnische Kleinstadt an der Oder. Erst auf der anderen Seite des Flusses liegt Deutschland. Für die Flüchtlinge platzt ein Traum. Doch sie geben nicht auf. Einige versuchen es auf eigene Faust, andere – wie Anna und Dimitri mit ihrem Baby – suchen verzweifelt nach Helfern.

Auch Ingo gibt nicht auf. Er glaubt in Frankfurt/Oder mit einem Matratzen-Discounter das große Geschäft machen zu können. „Ein Drittel seines Lebens liegt der Mensch im Bett. Das haben die hier nur noch nicht kapiert. 20 Prozent Arbeitslose. Was meinen Sie, was die den ganzen Tag machen? Na? Liegen im Bett. Schon wieder ’n Grund für ’ne gute Matratze.“ Ingo ist Macher und Macker zugleich. Für eine Werbeaktion engagiert er ein paar Arbeitslose und scheucht sie mit Matratzen behängt durch die Straßen. Er ist ständig in Bewegung – und doch zieht es ihn unaufhaltsam abwärts. Bei einer Polizeikontrolle kommt es raus: Den Führerschein musste er schon vor drei Monaten abgeben. Betretenes Schweigen. Mit den Augen sucht Ingo den Boden ab, mit der Hand schiebt er nervös seine Brille zurecht. Sekunden werden zu einer Ewigkeit. Und dies ist nur der Anfang von Ingos Geschichte.

„Das ist so einer, dem fällt das Ei runter und dem wird die Milch sauer im Kühlschrank. Der ist einfach so“, sagt Schauspieler Devid Striesow, der den Ingo spielt. Ingo kämpft mit allen Mitteln, ohne Rücksicht auf Verluste und fällt doch immer tiefer. Sein Aktionsgeist, die Visionen und Energie der Figur haben Striesow für die Rolle begeistert.

Nach dem passenden Schauspieler für die Rolle des Ingos haben sie am längsten gesucht, berichtet Autor und Regisseur Hans-Christian Schmid. „Lichter“ ist Schmids vierter Kinofilm. Ein Episodenfilm. Ort und Zeit verbinden die Geschichten unterschiedlicher Menschen, die alle mehr oder weniger direkt mit der Grenze zu tun haben: Sie leben hier, sind auf der Durchreise, oder wollen einfach nur weg. Zum Beispiel der polnische Taxifahrer Antoni, der dringend Geld braucht für das Kommunionskleid seiner kleinen Tochter. Doch alles läuft schief. Bei der zusätzlichen Nachtschicht mit dem Taxi baut er einen Unfall. In seiner Not versucht er sich als Fluchthelfer.

Aber ein Strom wie die Oder lässt sich nicht einfach durchschwimmen. Am Ende weiß Antoni sich nicht anders zu helfen und wird zum gemeinen Dieb. Oder Philip, der junge Architekt aus dem Westen. Sein ganzer Stolz, eine von ihm entworfene Glasfassade eines großen internationalen Bauprojekts, wird bei einem Geschäftsessen im Vorbeigehen eingespart. So entsteht ein ganzes Geflecht von Geschichten, die, elegant miteinander verknüpft, nicht nur vom Kampf um das Glück, sondern vor allem auch vom Scheitern erzählen.

Bekannt und erfolgreich geworden ist Schmid vor allem mit den Teenagerkomödien „Nach fünf im Urwald“ und „Crazy“. Der neue Film ist ein Drama vor aktuellem politischen Hintergrund, in dem die Menschen immer wieder an Grenzen stoßen. Ernste Stoffe haben es bekanntlich schwerer an der Kinokasse als Komödien und Actionfilme. „Ist halt nicht Arnold Schwarzenegger“, meint Devid Striesow und wünscht sich Akzeptanz und Interesse auch für die Art, wie in „Lichter“ Geschichten erzählt werden.

Diese Art des Erzählens, ihre Poesie und Anziehungskraft wurzelt vor allem in einem mitfühlenden und zärtlichen Blick auf die Menschen, von denen erzählt wird. „Mit all dem, wofür die Figuren stehen, wofür sie kämpfen, imponieren sie mir auch, bei allen sehe ich diesen Funken“, sagt Schmid. Er fühlt sich Sonja am nächsten. Die junge Dolmetscherin hilft Kolja, einem der ukrainischen Flüchtlinge, der bei der Flucht durch die Oder vom Bundesgrenzschutz festgenommen wird. Gegen den Widerstand ihres Freunds bringt sie Kolja über die Grenze.

Maria Simon spielt die Sonja und sieht eine große Qualität in ihrer Geschichte. Denn „Sonja hat eine Entscheidung getroffen, einem ganz persönlichen Ideal zu folgen und auch die Konsequenzen zu tragen. Möglicherweise scheitert sie auch daran und muss dafür büßen.“ Die junge Schauspielerin beklagt, dass in Deutschland Scheitern oft gleichgesetzt wird mit Versagen und dem Gefühl von Wertlosigkeit. Doch „Stärken und Schwächen, Freud und Leid – das wechselt sich ab“, wendet sie ein. Im Leben wie im Film.

Die Grenze, der Osten – den beiden Schauspielern waren die Orte bereits vor den Dreharbeiten vertraut. Maria Simon ist in Leipzig aufgewachsen, ihre Mutter kommt aus Russ-land. Devid Striesow hat in Rostock gelebt. Er kennt den speziellen Charme der Plattenbausiedlungen gut, durch die seine Figur Ingo ketterauchend streift.

Für Autor und Regisseur Schmid war die Ostgrenze neu. Er ist von München nach Berlin gezogen und dann am Wochenende einfach mal losgefahren. Nur eine Autostunde liegt Frankfurt/Oder von der Hauptstadt entfernt. Den Ort fand er von Anfang an spannend. Die Idee zu „Lichter“ gehe aber auf viele einzelne Momente zurück, so Schmid. Schon vor zwei Jahren fiel ihm ein Artikel in die Hände über Menschen, denen man vergegaukelt hatte, sie seien nahe London. Tatsächlich hatte man sie in einem Wald in Polen abgesetzt. Er fragte sich, wie es weitergeht mit diesen Menschen. Mit dem Formulieren von Botschaften ist Schmid vorsichtig. Er wünscht sich, dass „man nachdenkt über die Zusammenhänge zwischen Arm und Reich, zwischen einer EU, die Mauer hochzieht, und anderen Leuten, denen man es verwehrt, auf dieses Gebiet zu kommen.“

Schauspielerin Maria Simon ist direkter. Sie weiß sehr genau, was sie sich wünscht: „Dass die Leute aus dem Film kommen und denken: Meine Fresse, mir geht es gut, ich habe doch da irgendwie eine Verantwortung, etwas zu machen.“

Annette Scheld

Leben in Angst

Wie sich Harald-Heinz (48) in Thailand und Deutschland vor der Polizei versteckte

(aus Hinz&Kunzt 126/August 2003)

Am Flughafen Frankfurt erreichte meine Panik ihren Höhepunkt. Ich war mir sicher, dass ich vom Plastikgeschirr der Airline meine letzte Mahlzeit in Freiheit gegessen hatte. Spätestens bei der Passkontrolle vom Zoll würde meine Flucht zu Ende sein: Vor meinem inneren Auge sah ich die Polizei um die Ecke kommen, konnte das Einrasten der Handschellen hören. Mit Schweiß auf der Stirn stand ich vor dem Zollbeamten, kurzer Blick in meinen Pass – und er winkte mich durch. Ich konnte mein Glück nicht fassen: Ich hatte es unbehelligt nach Deutschland geschafft.

Auf einen Schlag war ich vom Touristen zum Flüchtling geworden. Eigentlich wollte ich mich während meines Thailandurlaubs von Deutschland erholen. Über acht Jahre hatte ich im Knast gesessen, mein sehnlichster Wunsch war es, dem Land und vor allem seinen Polizisten den Rücken zuzukehren. Weil ein alter Freund mit einer Thailänderin verheiratet ist, konnte ich in ihrem Heimatdorf im Norden Thailands billig wohnen, ein einfaches und ruhiges Leben. Alle paar Wochen rief ich meinen Bruder an, um Kontakt nach Deutschland zu halten.

Eines Tages hatte er eine wichtige Nachricht für mich: Beim Durchsehen der Post in meiner Wohnung hatte er eine Vorladung gefunden, der Gerichtstermin war längst verstrichen. Mittlerweile, so hatte mein Anwalt herausgefunden, lag ein Haftbefehl vor. Panisch dachte ich nach, weswegen ich wohl gesucht werde. Dann fiel mir der Schmuck ein: Ein Bekannter aus dem Milieu hatte ihn mir verkauft, zu einem Bruchteil des Wertes. Ein Riesengeschäft. Da stellst du keine Fragen, wo der herkommt.

Jetzt aber begannen die Fragen durch mein Gehirn zu schwirren: Was, wenn der Schmuck geklaut wäre? Ein Einbruch oder Überfall? Was, wenn bei dem Bruch jemand verletzt oder sogar getötet worden war? Wäre ich dann sogar verdächtig? Ich war gerade erst raus aus dem Knast, und zurückgehen war das Letzte, was ich wollte. Während ich in Thailand nicht wusste, was ich machen sollte, machte mein Anwalt einen Deal mit dem Staatsanwalt: Ein neuer Gerichtstermin wurde anberaumt, da ich den ersten wegen meines Thailand-Urlaubs nicht wahrnehmen konnte, der Haftbefehl sei so lange ausgesetzt.

Aber ich traute dem Frieden nicht. Ich hatte Angst, dass mich der Staatsanwalt reinlegt und ich trotzdem noch gesucht werde. Jetzt wusste er auch, wo ich zu finden bin, und bei Raubmord wäre schnell ein internationaler Haftbefehl ausgestellt. Und in den thailändischen Knast wollte ich schon gar nicht. Auf jeden Fall musste ich zurück nach Deutschland, denn mein Geld war aufgebraucht. Und in Thailand hatte ich niemanden, der mir helfen konnte.

Erst mal nach Bangkok. Mit klapprigen Bussen fuhr ich aus der Provinz zurück in die Großstadt. Jeder Dorfpolizist, den ich sah, ließ meinen Puls in die Höhe schnellen. In Bangkok brauchte ich drei bis vier Tage, um mir ein Flugticket zu besorgen. In dieser Zeit lebte ich im Hotel. Natürlich nicht unter meinem richtigen Namen. Der Rezeptionist ließ es sich teuer bezahlen, dass er meinen Pass nicht sehen wollte.

Als ich wieder in Deutschland war, blieb das Leben auf der Flucht teuer. In meine Wohnung konnte ich natürlich nicht, ich wohnte mal bei dem einen und mal bei dem anderen Freund. Dafür steuerte ich immer etwas zur Miete bei. In meine Wohnung traute ich mich nur nachts, um nach dem Rechten zu sehen und die Post zu holen. Ich konnte auch nicht billig einkaufen, einfach mal den Kühlschrank voll machen, das ging nicht. Schließlich war ich am nächsten Tag schon woanders. Und bei jedem Türklingeln erwartete ich die Polizei.

„In meine Wohnung traute ich mich nur nachts“

Besonders ärgerte mich, dass ich nicht mehr Auto fahren konnte. Das Risiko, in eine Kontrolle zu geraten, war einfach viel zu groß. Deswegen war ich immer auf meine Freunde angewiesen, damit sie mich in der Gegend he-rumchauffierten. Immer wieder war ich kurz davor, mich bei der Polizei zu stellen. Dann aber erinnerte ich mich an die achteinhalb Jahre im Knast, und ich war sicher: Dahin gehe ich nicht zurück. Dem Leben im Bau zog ich ein Leben in Angst vor.

Etwa fünf Wochen ging das so, dann bekam ich den Brief mit dem neuen Verhandlungstermin. Vor allem aber stand in der Benachrichtigung, warum ich vor Gericht sollte. Als ich das gelesen hatte, fiel alle Last von mir ab. Genauso schnell wie ich es verloren hatte, bekam ich mein normales Leben auch zurück. Ich zog wieder in meine Wohnung, ging essen, konnte wieder Auto fahren. Feierte meine neu gewonnene Freiheit. Denn gesucht wurde ich nicht wegen dem Schmuck, nicht wegen Hehlerei, Überfall oder Raubmord. Verhandelt werden sollte ein Ladendiebstahl, den ich nicht begangen hatte.

Vor meinem Thailandurlaub hatte ich gemeinsam mit meinem Bruder als kleinen Nebenverdienst Bohrmaschinen nach Polen geschmuggelt. Wir kauften sie in Deutschland billig ein, in Polen verkaufte sie ein Bekannter. In einem Baumarkt verdächtigte uns ein Ladendedektiv, dass wir eine Bohrmaschine geklaut hätten.

Als die Polizei unser Auto kontrollierte, fand sie natürlich eine Menge Bohrmaschinen – wir wollten gerade wieder nach Polen. Meine Vorstrafe tat ihr übriges, um den Verdacht zu erhärten. In der Verhandlung wurde ich dann freigesprochen. Ich ärgere mich noch heute über die Wochen, die ich verloren habe, nur weil ich meinen Anwalt nicht gefragt hatte, warum ich damals vor Gericht sollte.

Protokoll: Marc-André Rüssau

Nr.5: Konto für jedermann

Zehn Jahre Hinz&Kunzt – zehn Geburtstags-Forderungen

(aus Hinz&Kunzt 126/August 2003)

Darum geht es:

Wem einmal die Gläubiger auf die Pelle rücken, der ist schnell seine Bankverbindung los. Das wird teuer. Denn auch Menschen mit Schulden müssen weiterhin Miete oder Heizkosten überweisen, und Bareinzahlungen kosten viel Geld. Deshalb fordert Hinz & Kunzt: Jeder Mensch muss ein Girokonto auf Guthabenbasis einrichten können!

Der Hintergrund:

Seit Jahren berichten Schuldnerberater immer wieder von Menschen, die wegen ihrer Schulden daran scheitern, ein Girokonto einzurichten, oder ihre Bankverbindung verlieren. Für die Geldinstitute bedeuten solche Kunden viel Aufwand und wenig Gewinn. Schon Mitte der neunziger Jahre hatten Fachleute deshalb vorgeschlagen, das Recht auf ein Konto per Gesetz festzuschreiben. Die Banken kamen der Bundesregierung damals zuvor und erklärten in einer „freiwilligen Selbstverpflichtung“ ihres Zentralen Kreditausschusses (ZKA), auf Wunsch jedem Bürger ein Konto auf Guthabenbasis einzurichten. Das bedeutet: Man darf nur die Summe abheben, die auf dem Konto ist.

Dennoch gibt es Beschwerden. „Die Probleme haben zugenommen“, sagt Thomas Zipf, Mitinitiator der Kampagne „Recht auf Girokonto“ der Arbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung der Verbände (AG SBV). Weit über 2000 Fälle, in denen Menschen vergeblich versuchten, ein Konto zu eröffnen, haben die Berater bundesweit dokumentiert. Im September wollen sie Bilanz ziehen. Thomas Zipf ist überzeugt: „Das ist längst nicht alles. Von vielen Fällen erfahren wir ja gar nichts.“

Das Bundesfinanzministerium hat in einem Bericht eingeräumt, dass eine Initiative nötig sei, „um die Kreditinstitute dauerhaft und in jedem Einzelfall konsequent zur Einhaltung der ZKA-Empfehlungen zu bewegen“. 2001 forderte dann der Deutsche Bundestag die Banken auf, mehr für das Girokonto für jedermann zu tun.

Schätzungen zufolge haben bundesweit mindestens eine halbe Million Menschen kein eigenes Konto. Mit schwer wiegenden Folgen: So ziehen zum Beispiel die Arbeitsämter jeden Monat 7,10 Euro von der Unterstützung ab, wenn das Arbeitslosengeld bar am Schalter einer Postbank ausgezahlt werden muss – und das Geldinstitut berechnet zusätzlich eine Gebühr von 5 Euro.

Schwierigkeiten haben auch Menschen, die obdachlos waren. „Ohne Bankkonto ist es schwierig, eine Wohnung oder Arbeit zu finden“, sagt Schuldnerberater Zipf und meint deshalb: „Das Recht auf ein Konto müsste ein Grundrecht sein.“ Die Geldinstitute verweisen auf die Selbstverpflichtung und ihre Beschwerdestellen: „Das Girokonto für jedermann gibt es ja. Und jede Bank hat einen Ombudsmann, an den sich Kunden kostenfrei wenden können“, sagt eine Sprecherin des Bundesverbandes Volks- und Raiffeisenbanken, derzeit federführend für die Spitzenverbände der deutschen Kreditwirtschaft.

Wie andere es besser machen:

Frankreich schrieb bereits 1984 das Recht auf ein Girokonto gesetzlich fest. In Artikel 58 des „Loi Bancaire“ heißt es: Jeder Antragsteller, dessen Gesuch auf Eröffnung eines Kontos von mehreren Kreditinstituten abgewiesen wird und der aufgrund dieses Umstandes kein Konto besitzt, kann sich an die Banque de France wenden, damit diese ihm ein Kreditinstitut zuweist, bei der er ein Konto eröffnen kann. 2001 formulierte die französische Regierung die Mindest-Dienstleistungen, die eine Bank jedem Bürger erbringen muss, in einem neuen Dekret aus. Als Basisdienstleistungen gelten seitdem nicht nur die Eröffnung und Führung eines Kontos, sondern z.B. auch das Bereitstellen von Scheckformularen und Bankkarten.

Einen anderen Weg gehen die USA. Dort hat die Regierung die Verantwortung der Geldinstitute in einem „Community Reinvestment Act“ geregelt. Das Gesetz verlangt von allen Banken einen jährlichen Bericht über ihr Engagement für sozial schwache Menschen. Die Aufsichtsbehörden bewerten die Banken nach einer vierstufigen Skala und schließen sie von wichtigen Entfaltungsmöglichkeiten aus, wenn sie aufgrund ihrer Kredit- und Geschäftspolitik ihre Aufgaben gegenüber der sozialen Gemeinschaft nicht ausreichend erfüllt haben.

So müsste es laufen:

– Die soziale Verantwortung der Banken muss per Gesetz gestärkt werden

– Eine unabhängige Prüfstelle müsste automatisch jeden Fall zugeleitet bekommen, in dem ein Geldinstitut einem Menschen die Eröffnung eines Guthabenkontos verweigert

– Die Banken müssten regelmäßig zur öffentlichen Berichterstattung verpflichtet werden, inwieweit sie das „Konto für jedermann“ in die Praxis umsetzen

Ulrich Jonas

Reaktionen auf die ersten Geburtstagsforderungen:
Das Sozialticket ist nicht zu retten, sagte Sozialsenatorin Birgit Schnieber-Jastram (CDU) bei ihrem Hinz & Kunzt-Besuch. Begründung: Sozialhilfeempfänger würden bevorzugt gegenüber Geringverdienern. Die sozialpolitischen Sprecher der Fraktionen waren ebenfalls bei uns: Petra Brinkmann (SPD), Dr. Dorothee Freudenberg (GAL), Rolf G. Rutter (PRO) und Frank Schira (CDU). Auch sie sehen schwarz in punkto Sozialticket.

Einig waren sich alle, dass die Sozialämter kundenfreundlicher werden müssen und „Problemmieter“ erst mal Hausbesuch bekommen sollten, statt geräumt zu werden. Das will im Prinzip auch die Senatorin. Sie räumte ein, dass die Ausarbeitung des Konzeptes länger dauere als geplant.

Kurz blitzte so etwas wie eine Utopie bei den Sprechern auf: womöglich gemeinsam eine Nachsorgewohnung für kranke Obdachlose zu mieten. Schnieber-Jastram machte deutlich, dass sie derzeit keinen Spielraum für neue Projekte sehe. Mit den Sprechern wurde ein weiteres Gespräch für den Herbst vereinbart.

Birgit Müller

Von Sucht und Sehnsucht

Die Heroinstudie wird ein Jahr alt

(aus Hinz&Kunzt 126/August 2003)

Raus aus dem Kreislauf von Knast, Straße, Elend und Krankheit, das wollen Hanne und Florian. Die beiden sind Teilnehmer der Heroinstudie. Hier soll untersucht werden, ob Junkies bei Verabreichung von reinem Heroin unter ärztlicher Kontrolle in der Lage sind, ein normales und relativ gesundes Leben zu führen.

Hanne ist glücklich, als sie den „richtigen“ Umschlag zieht. Da steht drin, dass sie an der Heroinstudie teilnehmen darf und zwei Jahre lang zwei- bis dreimal täglich reines Heroin bekommt. Die 41-Jährige kann es kaum fassen: Seit sie 16 Jahre alt ist, hängt sie an der Nadel. Und jetzt das Paradies: Sie kriegt ihren Stoff – ohne Beschaffungsdruck, ohne anschaffen zu gehen, ohne Angst vor der Polizei. Und das Ganze noch mit so genanntem Case Management. Zu deutsch: Einzelbetreuung durch einen Sozialarbeiter, mit dem sie alle Probleme besprechen kann und der ihr weiterhilft. Ihr Ziel: „Einfach nur in Ruhe mit der Sucht leben, ein normales Leben führen, womöglich wieder arbeiten.“

Und genau darum geht’s auch in der Studie: Hier soll festgestellt werden, inwieweit sich die Menschen verändern, wenn man die Rahmenbedingungen der Sucht verändert. Eine ähnliche Studie in der Schweiz ergab, dass viele Teilnehmer ein fast normales Leben führen können, ohne Kriminalität und ohne Verwahrlosung. Jeder Zweite hatte wieder einen Job und keine Szene-Kontakte mehr.

Primäres Ziel der neuen Studie ist es nicht, die Abhängigen zu Abstinenzlern zu machen. Auch Hanne will gar nicht loskommen von der Sucht. „Das lohnt sich für mich nicht mehr“, sagt sie in Anspielung auf Aids, das bei ihr allerdings noch gar nicht ausgebrochen ist. „Diese Schufterei mache ich nicht noch mal.“ Die Ärztin und Projektleiterin Karin Bonorden-Kleij geht jedoch davon aus, dass ein Ausstieg aus der Sucht eher erstrebenswert wird, wenn die Klienten eine Perspektive im Leben entwickelt haben – die meisten sogar zum ersten Mal.

Die Einzel- und auch die Gruppenbetreuung sind deshalb darauf ausgerichtet, den Junkies beim Aufbau eines „normalen“ Lebens zu helfen: Möglichkeiten der Entschuldung werden erörtert, eine Wohnung gesucht oder auch ein Praktikumsplatz. Immerhin: Zwei der Klienten gehen wieder arbeiten, zwei aufs Abendgymnasium. Schon nach ein paar Wochen wirkt sich die Teilnahme an der Studie auf den Gesamtzustand der Patienten aus: „Die meisten sind wesentlich gepflegter als zu Beginn. Vielen sieht man die Sucht gar nicht mehr an“, so Bonorden-Kleij. Was aber noch besser ist: „Sie sind einfach gesünder.“

Hört sich gut an. Auch Hanne sieht gesund und gepflegt aus. Allerdings hat sie gerade einen Durchhänger. Zu Anfang fühlte sie sich von dem reinen Heroin völlig geplättet. „Wie unter Narkose stand ich da“, sagt sie, „ich war zu nichts mehr zu gebrauchen.“ Zwar geht sie regelmäßig in die Drogenambulanz am Högerdamm und „appliziert“ sich ihren Druck, wie das im Studienjargon heißt. Aber das Hochgefühl von früher will sich nicht einstellen. Das Straßenheroin, versetzt mit irgendwelchen Substanzen, zum Teil sogar mit Strichnin, „gibt viel mehr einen Kick“. 12 bis 14 Stunden habe das Wohlgefühl angehalten. Und von diesem Gefühl träumt Hanne schon wieder.

Lust, mit ihrem Sozialarbeiter darüber zu sprechen, hat sie nicht. Deshalb hat sie auch ihre Sitzungen geschwänzt. Was sie ihm auch nicht erzählen will: Dass ihr jetzt, wo sie keine Drogen mehr beschaffen muss, daheim die Decke auf den Kopf fällt. Und dann überfällt sie wieder die Sehnsucht. „Ich suche nach etwas und weiß nicht nach was“, sagt sie. Und das erinnert sie an früher, als sie 16 Jahre alt war. Da wollte sie unbedingt raus aus der Familie, wo sie immer auf die kleinen Geschwister aufpassen musste. Richtig lebenshungrig war sie damals.

Sie lernte Michael kennen, der war zehn Jähre älter und „richtig frei, tat nur, was er wollte“. Der imponierte ihr, und Hanne wollte genauso leben wie er. Und da er Heroin nahm, nahm sie es auch. In kurzer Zeit begann der Teufelskreis aus Drogen beschaffen, Knast, einigen Therapieversuchen und wieder Drogen. Aber auch Idylle: Sie und Michael bekamen eine Tochter, lebten in einem kleinen Häuschen zusammen – und verloren alles. „Mich zog es wieder raus. Ich hatte so eine unbestimmte Sehnsucht“, sagt Hanne. Ihr Kind bettelte: „Mama, bleib doch da, wohin gehst du schon wieder?“ Michael schlug sie. Dem Paar wurde das Kind weggenommen, Michael landete im Knast und Hanne auf der Straße.

Und jetzt ist sie eben wieder da, diese Sehnsucht. Wenn sie an Morgen und Übermorgen denkt, an Arbeit vielleicht, fällt ihr wenig ein. Dann leuchten ihre Augen plötzlich. „Wovon ich träume, ist eine Tierpension auf dem Lande“, sagt sie. „Ja, das wärs.“ Aber auch über diese Träume redet sie nicht mit ihrem Sozialarbeiter. Oder noch nicht. Könnte der nicht sogar einen Praktikumsplatz bei Hagenbeck oder im Tierheim arrangieren? Ja, vielleicht. Eine Möglichkeit. Aber wenn das nichts wird, was dann, wo überhaupt noch etwas suchen? „Manchmal“, sagt Hanne, „da glaube ich, das, was ich suche, das gibt es gar nicht.“

Florian ist da optimistischer. Obwohl auch der 32-Jährige gerade eine Durststrecke durchmacht. Er zog nämlich „den falschen Umschlag“ und landete in der Kontrollgruppe, die kein Heroin, sondern Methadon bekommt. Immerhin gehört er nicht zu den 50 Prozent, die dann die Studie abbrechen. Er lebt vom Prinzip Hoffnung, nämlich dass er nach einem Jahr doch noch ins Heroinprojekt rutscht.

Die Abhängigkeit, die nervt ihn inzwischen. „Ich wünsche mir, eines Tages nicht mehr abhängig zu sein, von nichts und niemand.“ Wenn er endlich reines Heroin bekommt, dann, so hat er sich vorgenommen, will er entziehen. Und dieses Mal, da ist er sich sicher, wird es klappen. Warum er nicht gleich jetzt entzieht, sofort und auf der Stelle? „Weil der Entzug vom Methadon so schmerzhaft und langwierig ist, viel schlimmer als beim Heroin.“

Vielleicht braucht er auch noch eine Zeit, um Abschied zu nehmen von dem Leben mit der Sucht, bei dem er zwar abhängig, aber auch für nichts verantwortlich ist. Gearbeitet hat er nämlich schon lange nicht mehr. Dazu war er körperlich gar nicht in der Lage. Das Abi, das er so gerne machen wollte, rückte in weite Ferne. „Ich hab’s selbst vergeigt“, sagt Florian selbstkritisch. Anfangs hatte er noch die Musik, Klavier spielte er und Bass. Das heißt: Eine kleine Weile blieb ihm noch die Musik. „Die Instrumente sind fürs Heroin draufgegangen.“ Immer weiter rutschte er ab.

In der Zeit vor der Studie wurde er mit Polamidon substituiert. Das gab zwar keinen Kick, und er nahm auch immer noch Drogen nebenher, „aber es war okay.“ Er tat alles, um zumindest nicht „Steine zu rauchen“ (Crack), die Droge, die als die ruinöseste gilt. Nervig findet er es, täglich in die Ambulanz zu müssen. „Mein Polamidon bekam ich für mehrere Tage.“

Aber die ganze Drogenbeschafferei, wo auch immer, soll sowieso eines Tages der Vergangenheit angehören. Das Abi nachmachen will er, das wär sein Traum, „und einen Job, der mir Spaß macht, am liebsten einer, bei dem ich anderen Menschen helfen kann“, sagt Florian. „Für irgendwas muss ich doch gut sein. Ich muss doch eine Aufgabe im Leben haben – und die habe ich noch nicht erfüllt.“

Birgit Müller

Ankerplatz für Vertriebene

Das Café Exil ist Anlaufstelle für Flüchtlinge

(aus Hinz&Kunzt 126/August 2003)

Wenn der 25-jährige Mann aus dem westafrikanischen Guinea nach seinen Gefühlen zur Hamburger Ausländerbehörde gefragt wird, spricht er zunächst von Angst. „Ich habe immer Angst, wenn ich dort hingehe. Auf den Fluren habe ich schon viele Leute warten sehen, die später in Handschellen an mir vorbeigeführt wurden.“ Seit zehn Jahren lebt Ballo, so sein Name, als politischer Flüchtling mit Duldung in Hamburg, „doch die Angst geht immer mit, wenn ich das Amt betrete.“

Heute sitzt Ballo im „Café Exil“, einer unabhängigen Flüchtlingsberatungsstelle gleich gegenüber der Behörde. Neben ihm wartet schüchtern und schweigsam eine sehr junge Frau. Vor ein paar Tagen erst sei sie als politischer Flüchtling aus Guinea nach Hamburg gekommen, erzählt Ballo. Kein Wort Deutsch spricht die 15-Jährige, und ihr Begleiter will „Mut machen und sie unterstützen, wenn wir gleich rüber in die Behörde gehen“, zusammen mit einer Mitarbeiterin des Cafés.

Wenigstens im Moment soll sie sich nicht allein fühlen, denn niemand weiß, wie es mit ihr weitergehen wird. Ob sie überhaupt als minderjähriger unbegleiteter Flüchtling angesehen wird, ist noch nicht sicher. Denn seit einiger Zeit werden jugendliche Asylbewerber oft per Augenschein als über 16-jährig erklärt. Die Folge: Sie gelten dann als Erwachsene, müssen nicht mehr betreut und beschult werden und können in Massenunterkünften irgendwo im Bundesgebiet untergebracht werden.

Etwas Hilfe und Hoffnung geben und ein wenig die Angst auffangen – seit acht Jahren existiert das Café Exil an der Spaldingstraße 41 (Telefon: 236 82 16). An fünf Tagen in der Woche ist geöffnet – zu den gleichen Zeiten wie die Ausländerbehörde. Neben Kaffee gibts Informationen und Kontakte zu anderen Beratungsstellen oder Ärzten. Der Name des Cafés ist zugleich Programm: „Wir wollen ein Ort sein, wo Menschen anders behandelt werden als gegenüber, nämlich mit Respekt“, sagt Mitarbeiterin Conni Gunßer mit Blick über die Straße.

Remy ist 18 Jahre alt. Seit zwei Jahren lebt der aus Burkina Faso stammende Flüchtling als Asylbewerber in Hamburg. Alle drei oder vier Monate müsse er die Ausländerbehörde aufsuchen, erzählt er, „und dort lassen sie mich immer schockbesetzt“. Schockbesetzt? „Die sagen alles, was mir Angst macht – und dann bin ich alleine damit“, sagt der Mann, der bei der Flucht seine Familie zurücklassen musste. Auf der Behörde lasse man Menschen wie ihm keine Ruhe, sagt Remy, „damit wir keine eigenen Lösungen finden können für unsere Probleme“.

Das „Café Exil“ hingegen empfindet der 18-Jährige als geschützten Raum, als Gegenpol zur Behörde, wo er jederzeit Hilfe bekommen und Probleme bereden kann. Täglich bis zu 20 Menschen besuchen die Einrichtung. Manche nur, um sich auszuruhen oder etwas Abstand zu gewinnen. Andere brauchen Rat oder auch Begleitung eines Mitarbeiters. Wer will, kann kostenlos über das Internet Kontakt halten zur fernen Heimat.

Zurzeit sind es vor allem Menschen aus Ex-Jugoslawien, Westafrika, Afghanistan, mittlerweile aber auch aus China oder Ägypten, denen Abschiebung droht und die Beratung und Hilfe suchen. In früheren Jahren waren dies ebenso Kurden, Rumänen oder Algerier. Die sich stets veränderten Flüchtlingsströme aus immer neuen Krisenregionen spiegeln sich auch an der Spaldingstraße wider.

Sämtliche Hilfe wird im Café Exil ehrenamtlich geleistet. 15 Menschen wechseln sich in der täglichen Betreuung der Besucher ab, weitere Helfer werden gesucht. Wer hilft, muss weniger über spezielle Kenntnisse im Asylrecht verfügen als vielmehr zuhören oder das Netzwerk weiterer Hilfeeinrichtungen kennen. Trotz der großen Zahl an Unterstützern vor Ort ist das Projekt immer wieder von Schließung bedroht. Sämtliche Kosten für Miete und Material müssen stets neu als Spenden gesammelt werden; monatlich immerhin rund 1500 Euro.

So ist das „Exil“ denn auch vor allem eines: einen Moment lang Ankerplatz für getriebene Menschen, die ihre alte Heimat verloren und noch keine neue gefunden haben. „Ich kann sagen, dass das ‚Exil‘ für mich eine Entdeckung war“, beschreibt es der Asylbewerber Remy, „entdeckt habe ich hier nämlich auch ein anderes Gesicht der Menschen in diesem Land.“

Peter Brandhorst