Flüstern und Schreien

Wie der Schauspieler Dietmar Mues den Gescheiterten eine Stimme gibt

(aus Hinz&Kunzt 117/November 2002)

Er hat als Gollum im Herrn der Ringe Furore gemacht, er war Karl May und Jack the Ripper. Trotzdem kann sich der Schauspieler Dietmar Mues, seit über 30 Jahren im Geschäft, völlig unbehelligt durch die Stadt bewegen. Denn erkannt wird nicht sein Gesicht, sondern seine Stimme.

Mit diesem sonoren Bass, der in unendlichen Variationen wispern und flüstern, poltern, schmeicheln, spotten, schimpfen und schreien kann, hat der 57-Jährige in drei Dutzend Hörspielen die unterschiedlichsten Figuren zum Leben erweckt. Für ihn bedeutet diese Arbeit nicht einfach zu sprechen, sondern eben spielen, „weil man ja mit seiner Stimme den Figuren einen Körper gibt, so dass der Hörer sie in seiner Phantasie vor sich sieht“.

Tatsächlich gelingt es Dietmar Mues, von abgrundtiefer Verzweiflung über milde Depression, wohlige Resignation bis zu offenem Hass vor allem die dunkleren Facetten der menschlichen Seele eindrucksvoll zu verkörpern. Er liebt das. Seine braunen Augen leuchten, wenn er von „den spannenden Manuskripten und den Autoren, die noch wirklich was wollen“, schwärmt, die man beim Hörspiel, dieser „freien Insel“ im Kulturbetrieb, entdecken könne.

Und weil man aufpassen sollte auf das, was man liebt, ist er wählerisch, wofür er seine Stimme hergibt. Er leiht sie nicht aus an andere Schauspieler, deshalb kann man ihn nicht als Synchronsprecher buchen. Wohl aber, um Dokumentarfilme zu vertonen. Man hat von ihm, anders als von anderen berühmten Stimmen, auch noch keine Produktwerbung gehört.

Nein zu sagen, das habe er schon bei seiner Ausbildung bei Eduard Marks an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst gelernt. „Denken fängt mit Nein sagen an.“ Beinahe triumphierend verkündet er dieses Credo, mit dem er sich im Laufe seines Lebens zwar den einen oder anderen Ärger, aber auch jede Menge Spaß eingehandelt hat. Denn mit der gleichen Leidenschaft, mit der er sich gegen etwas entscheiden kann – gegen einen Langzeit-Vertrag in der Lindenstraße beispielsweise oder eine Verlängerung der immerhin zwölfjährigen Zugehörigkeit zum Schauspielhaus-Ensemble –, begeistert er sich für andere Projekte: Wenn er gemeinsam mit Jazz-Musikern wie Dieter Glawischnig auf Tournee geht und Ernst Jandl zum Besten gibt, und für den Tucholsky-Abend, den er seit zwölf Jahren gemeinsam mit Hannelore Hoger und Joachim Kuntzsch aufführt.

Oder jetzt eben „Leben bis Männer“, die bittere Rückschau eines Mannes, der seine Erfahrungen und sein Scheitern in den Begriffen des Fußballs zu fassen und zu ordnen versucht. In ausgeleierter Jacke sitzt Dietmar Mues räsonierend auf der Bank am Rande eines Bolzplatzes, zieht die Linien nach, pumpt den Ball auf, bis er fast platzt, und erzählt aus seinem Leben als Freizeittrainer in der ostdeutschen Provinz: „Andere hatten ihre Familien, ich hatte Tatkraft Börde!“ – „Erst der Sieg der DDR hat den DFB zur BRD gemacht“ oder „Wenn gespielt wird, kommt das komplette übrige Leben zum Erliegen!“ sind einige seiner Lebensweisheiten, bei denen das Publikum zwar lacht, aber doch zunehmend traurig wird. Denn je länger man ihm zuhört, umso mehr fürchtet man, dass diese „Jungs“, die er über den Platz scheucht und die alles sind, was dem Trainer geblieben ist, dass die vielleicht gar nicht kommen werden, sondern auch nur noch in seiner Erinnerung existieren.

Dietmar Mues glaubt das auch. Er selbst hat nur mal in einer Theatermannschaft gekickt, aber darum gehe es auch nicht in diesem Ein-Personen Stück von Thomas Brussig. „Es geht um diesen zugegebenermaßen spezifisch männlichen Wahnsinn, der genauso gut im Hobbykeller stattfinden kann wie auf dem Fußballplatz. Diese Manie, nicht nur seine gesamte Zeit und Energie in eine Sache zu stecken, sondern auch noch eine komplette Philosophie dazu zu erfinden.“ Grinsend wird er später zugeben, Schach zu spielen – aber nicht manisch, versteht sich.

In „Leben bis Männer“ macht er vor allem die Verzweiflung sichtbar, die hinter diesem Wahnsinn verborgen ist, ein Scheitern, das vor allem deshalb so tragisch ist, weil dieser Trainer selbst permanent einer Welt das Wort redet, in der nur Gewinner Platz haben.

„Den Gescheiterten eine Stimme zu geben“, das sieht Dietmar Mues nicht nur als künstlerische Herausforderung, sondern auch als politische Aufgabe, und das fordert er auch vom Theater, das „nicht nur fürs internationale Feuilleton spielt, sondern etwas mit der Stadt zu tun haben muss, in der es steht“.

Damit er diese hohen Anforderungen erfüllt, hat er fast drei Monate für „Leben bis Männer“ geprobt: Ist eisern jeden Vormittag den Kollau-Wanderweg abgeschritten und hat den Text auf den Karteikärtchen auswendig gelernt, hat Freunde, Bekannte und Kollegen in die Proben gebeten und sich ihrer Kritik gestellt – und nach jeder Vorstellung geht er das Ganze noch einmal mit einer jungen Kollegin durch, um zu sehen, was man noch besser machen könnte. Und das alles, wie er dann doch mal sagen muss, für eine Gage, die er sich nur leisten kann, weil er noch die ein oder andere gut bezahlte Nebenrolle im „Tatort“ spielt.

Doch schon im nächsten Satz sagt er mit großem Ernst: „Ich habe einfach wahnsinnig viel Glück gehabt! Dass ich mich so lange als freier Schauspieler halten konnte und mir meine Projekte wirklich aussuchen kann – andere, hervorragende Leute, sind untergegangen, nur weil sie vielleicht nicht im richtigen Moment am richtigen Ort waren.“

Trotz solcher hautnahen Erfahrungen mit den Grausamkeiten des Berufs sind seine beiden älteren Söhne Wanja und Jona auch Schauspieler – oder jedenfalls dabei, es zu werden. Und der 11-jährige Woody hat bei seinem Vater gerade ein Kinderbuch in Auftrag gegeben. 150 Seiten davon hat Dietmar Mues schon fertig. Breit grinsend sagt er, dass er „solche zurückgezogenen Projekte“ sehr genießt. Möglicherweise eine neue Leidenschaft, die der Büchernarr ohne Abitur, der auch schon Drehbücher verfasst hat, da entdeckt hat.

Diesen Mut, immer wieder neues Terrain zu betreten, schöpfe er auch aus der Sicherheit, „in einem System zu leben, das Scheitern zulässt“. Dazu zählt natürlich seine Frau, mit der er seit 29 Jahren verheiratet ist, und die vermutlich genauso lange dafür sorgt, dass er zwischen all seinen Projekten nicht den Überblick verliert. Dazu zählen aber auch Kollegen, mit denen er sich beinahe ohne ein Wort verständigen kann, seine langjährigen „Kaffeehausfreunde“, mit denen er noch immer freudig die Welt im Allgemeinen und Besonderen debattiert. Dieses persönliche „Sicherheitsnetz“ ist vermutlich ein wichtiger Teil von dem, was er als „Glück“ bezeichnet – neben seiner Erfahrung, seiner Professionalität und dieser unnachahmlichen Stimme.

Sigrun Matthiesen

Not-Lösung

Wie Wohnungslose leben

(aus Hinz&Kunzt 117/November2002)

Welche Angebote gibt es in Hamburg für Menschen, die nicht mehr auf der Straße leben wollen? Im ersten Teil unseres Überblicks stellen wir die Notunterkunft Achterdwars, das Container-Projekt der Neuen Wohnung und das betreute Wohnen im Jakob Junker Haus vor.

Kleine Ewigkeiten

In den Notunterkünften von pflegen & wohnen (p & w) leben Menschen, die keiner haben will: Alkohol- und Drogenkranke, Verwirrte und Alte, Einsame und Uneinsichtige. Hans-Jürgen zum Beispiel hat zuletzt in einer sozialtherapeutischen Einrichtung gewohnt. Gärtnern sollte er dort, um sich das Trinken abzugewöhnen. Das gefiel ihm nicht, und deshalb ist er gegangen. „Wer arbeitet denn für 150 Mark im Monat?“, fragt der 53-Jährige noch heute empört.

17 Jahre ist das nun her. In der Bergedorfer Unterkunft Achterdwars ist der mittlerweile Pflegebedürftige dann gestrandet. 172 „alleinstehende obdachlose Männer“ leben hier in dreistöckigen, unauffälligen Klinkerbauten, „öffentlich untergebracht“ laut Behördendeutsch. Die meisten teilen sich zu viert die schlichten Zwei-Zimmer-Appartements mit Küche und Bad, jeweils zwei Betten pro Raum. Für schwierige Kunden stehen 24 Einzelzimmer bereit. „Wir nehmen jeden so, wie er hier ankommt, und versuchen ihm ein Gefühl von Zuhause zu vermitteln“, sagt Werner Glissmann, Leiter der Wohnunterkunft. Da haben seine beiden Sozialarbeiter eine Menge zu tun.

Eigentlich sollen ihre Klienten hier nur vorübergehend leben. Doch wie Hans-Jürgen gibt es manchen, der den Weg aus dem Provisorium niemals mehr findet. Laut einer Studie, die p & w-Sozialarbeiter vor zwei Jahren anfertigten, ist jeder fünfte Bewohner der Notunterkünfte „nicht bzw. nur äußerst schwer integrierbar“. Viele der Dauerbewohner hätten nicht nur schwere Suchtprobleme, sondern seien auch psychisch krank und verwahrlost.

40 Menschen haben dieses Jahr den Sprung in die eigene Wohnung oder „andere dauerhafte Wohnformen“ (z.B. WG) geschafft, so die Statistik. Wie viele davon in eine Notunterkunft zurückkehren („Drehtüreffekt“), weil sie ihre Probleme nicht in den Griff bekommen, erfasst p & w nicht. Und auch nicht, wie lange die Menschen in den Unterkünften verweilen.

„Es geht nicht nur darum, Wohnungen zu vermitteln“, meint Sozialarbeiter Mike Schulze. Ein soziales Umfeld sei ebenso wichtig. Manch ehemaliger Bewohner komme trotz eigener vier Wände regelmäßig in der Unterkunft vorbei, weil er anderswo keine Freunde findet. „Einige haben sogar schon gefragt, ob sie nicht wieder einziehen dürfen – weil die Kommunikation hier so gut ist.“ Der Weg ins bürgerliche Leben ist eben lang. Und bei manchem psychisch kranken Schützling, den der Spardruck aus der Psychatrie vertrieben hat, denkt der Sozialarbeiter auch: „Ich wüsste nicht, wo der besser untergebracht sein sollte.“

Ulrich Jonas

Notunterkunft Achterdwars
Größe: 172 Plätze
Unterkunftsart: Doppel- und Einzelzimmer in Zwei-Zimmer-Appartements (40 Quadratmeter), möbliert
Betreuungsschlüssel (Sozialarbeiter pro Bewohner): 1:100
Bewohner: Obdach- und Wohnungslose
durchschnittliche Verweildauer der Bewohner: keine Angaben
Auszüge in eigene Wohnung: 21 von 113 (1998) = 19 Prozent
Kosten/Bewohner/Tag: 10,89 (Doppel-) bzw. 13,79 Euro (Einzelzimmer), finanziert von der Sozialbehörde
Träger: pflegen & wohnen
Kontakt: Wohnunterkunft W 611, Achterdwars 7–13, 21035 Hamburg, Tel. 040 / 721 15 19

Sprungbrett Container

„Bis Januar will ich eine Wohnung finden“, sagt Sascha. Seit anderthalb Jahren lebt der Ex-Obdachlose im Containerdorf an der Langenfelder Straße. „Von der Atmosphäre her ist das hier ein bisschen wie in der Jugendherberge: Man hat immer jemanden zum Reden“, sagt der 25-Jährige. „Aber ich will mich jetzt um meine Zukunft kümmern. Um Arbeit zum Beispiel.“

Projektleiter Michael Struck hört solche Sätze gern. Schließlich ist es das Ziel der gemeinnützigen Neue Wohnung GmbH, aus verzweifelten Existenzen normale Mieter zu machen. Oft gelingt das: Rund 150 Obdach- und Wohnungslose haben Struck und sein Kollege Karsten Lüdersen seit 1994 in Wohnraum vermittelt. Dieser Erfolg fußt auf drei Säulen: Nicht mehr als 20 Bewohner leben in einem Container-Projekt, wer Hilfe vom Fachmann braucht, der bekommt sie schnell, und jeder kann seine Tür hinter sich schließen. Das kostet, doch es macht Sinn: „So können sich die Menschen in Ruhe Gedanken machen, was sie wann in Angriff nehmen wollen“, sagt Lüdersen.

Monate lang mussten die Helfer mit der Stadt verhandeln, bis die sich bereit erklärte, die laufenden Kosten eines neuen Container-Projekts zum größten Teil zu übernehmen. Und obwohl die Neue Wohnung das Ziel der Sozialsenatorin – kleine, dezentrale Unterkünfte für Obdachlose – vorbildlich umsetzt, musste schließlich eine Stiftung die 180.000 Euro Investitionskosten für die neue Unterkunft in Barmbek berappen.

Sorge bereitet den Sozialarbeitern vor allem, dass sich die Suche nach Wohnungen zunehmend schwierig gestaltet. „Man möchte sich nicht mehr mit dem Lumpenproletariat abgeben“, sagt Struck ketzerisch. Nur neun Wohnungslose konnten dieses Jahr in Wohnungen umziehen, in früheren Jahren waren es deutlich mehr. „Zusätzlich 2000 Wohnungen für Sozialschwache – sofort!“ fordern die Sozialarbeiter von den städtischen Wohnungsgesellschaften SAGA und GWG. Diese sollten auch Menschen mit Altschulden als Mieter akzeptieren: „Die Schranken zum Wohnen sind einfach zu hoch.“

Ulrich Jonas

Containerprojekt Neue Wohnung
Größe: 19 Plätze
Unterkunftsart: 1-Mann-Container (13 Quadratmeter), möbliert
Betreuungsschlüssel (Sozialarbeiter pro Bewohner): 1:20
Bewohner: Wohnungslose mit Kostenübernahme vom Sozialamt
durchschnittliche Verweildauer der Bewohner: sechs Monate
Auszüge in eigene Wohnung: 88 von 170 (1994 bis 2001) = 51 Prozent
Kosten/Bewohner/Tag: 23 Euro, davon Behörden-Zuschuss 17,90 Euro, ab Januar 20, 20 Euro;
Rest über eine Stiftung
Träger: Neue Wohnen gGmbH
Kontakt: Neue Wohnung gGmbH, Langenfelderstr. 132, 22769 Hamburg, Tel. 040 / 851 23 78

Blut und Feuer

Das Haus gehört zur Division Nord, die Leitung haben zwei Kapitäne, und am Eingang hängt das Wappen mit der Inschrift „Blut und Feuer“. Auf militärische Dramatik muss man sich einstellen bei einem Träger, der Heilsarmee heißt. Doch die Streiter für den christlichen Glauben sind eifrige Verfechter tätiger Nächstenliebe: In Hamburger Stadtteil Groß Borstel unterhalten sie seit 25 Jahren das Jakob Junker Haus, eine betreute Unterkunft für Obdachlose.

Besonderheit: Die Bewohner bereiten ihre Mahlzeiten nicht selber zu, sondern essen in der hauseigenen Kantine (die von der Rathauspassage beliefert wird). „Das wird rege angenommen“, sagt Betreuungsleiter Christoph Güra. „Die Vollverpflegung ist unser Part in der Hamburger Hilfelandschaft.“

Die 60 Einzelzimmer werden derzeit renoviert. Sie sollen auch künftig unter einem Dach bleiben: Eine Dezentralisierung des Angebots ist nicht geplant. Zusätzlich gibt es elf Zimmer, in denen Bewohner sich selbst versorgen – um mehr Selbstständigkeit zu üben. Wer ausgezogen ist, kann trotzdem noch Unterstützung bekommen: Ein Mitarbeiter im Jakob Junker Haus ist ausschließlich für Nachbetreuung zuständig.

Die Heilsarmee unterhält außerdem einen Tagestreff für Alkoholgefährdete in Billstedt (Park-In) und ist an der Beratung für Wohnungslose in Harburg beteiligt. Mit sechs Container-Plätzen beteiligt sich das Jakob Junker Haus am Winternotprogramm für Obdachlose. Die Polsterei, ein Beschäftigungsprojekt mit 14 Plätzen, muss allerdings zum Jahresende geschlossen werden. Grund: die Kürzungen bei den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen.

Detlev Brockes

Jakob Junker Haus
Größe: 71 Plätze
Unterkunftsart: 60 möblierte Einzelzimmer (ca. 12 Quadratmeter) mit Verpflegung,
11 möblierte Zimmer mit Selbstversorgung
Betreuungsschlüssel (Sozialarbeiter pro Bewohner): 1:8
Bewohner: wohnungslose Männer mit besonderen sozialen Schwierigkeiten
Durchschnittliche Verweildauer: sieben Monate
Auszüge in eigene Wohnung: 41 von 110 (2001) = 37 Prozent
Kosten/Bewohner/Tag: 60,15 Euro, finanziert von der Sozialbehörde
Träger: Heilsarmee
Kontakt: Jakob Junker Haus, Borsteler Chaussee 23, 22453 Hamburg, Tel. 040 / 51 43 14 0

Tanzen gegen die Armut

Jugendliche aus Kolumbien zum Workshop auf Kampnagel

(aus Hinz&Kunzt 117/November 2002)

Álvaro Restrepo ist Kolumbiens bekanntester Tänzer. Statt international Karriere zu machen, hat er sich entschlossen, Kinder und Jugendlichen aus Cartagenas Elendsviertel im zeitgenössischen Tanz zu unterrichten. Jetzt tritt ein Teil der Truppe auf Kampnagel auf.

Santiago wischt sich den Schweiß mit dem rechten Arm von der Stirn. Lächelnd nimmt er den Beifall der anderen entgegen, die ihn für sein Solo feiern. „Immer hatte ich Hunger“, heißt es da, und die Kette und der Bilderrahmen, mit denen er tanzt, sind Symbole für eine gefesselte Jugend. Eine Jugend, die sich nicht entfalten darf.

Santiago stammt aus Kolumbien, aus Cartagena de las Indias, und begann vor fünf Jahren, seinen eigenen Körper und dessen Ausdrucksfähigkeit zu entdecken. „Der Tanz hat mein Leben und mein Denken verändert“, sagt der 19-Jährige mit den kurzgeschorenen dunklen Locken. „Ich habe gelernt, nicht nur meinen eigenen, sondern auch den Körper der anderen zu respektieren.“

Keine Selbstverständlichkeit in einem von Bürgerkrieg, Selbstjustiz und Wirtschaftskrise geprägten Land. Und Cartagena, wo Santiago geboren ist, gilt landesweit als die Stadt mit der höchsten Flüchtlingsquote. Jeder siebte der rund 700.000 Einwohner ist auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg in der Karibikstadt gestrandet – vor allem Frauen und Kinder, die sich oft ohne jede Hilfe eine neue Existenz aufbauen müssen.

Die meisten von ihnen leben im Barrio Nelson Mandela, dem riesigen Flüchtlingsviertel der Hafenstadt. Das Geld für die Schuluniform, die Hefte und Stifte ist da oft nicht drin. „In Nelson Mandela müssen viele Kinder zum Unterhalt der Familie beitragen“, erzählt Yorneis, ein Kollege von Santiago. „Sie verkaufen in den Straßen Essen oder Kaugummis.“ Respekt vor dem Körper ist da eher selten. Das Leben ist oft reiner Überlebenskampf – vor allem bei den Straßenkindern.

Diese Kinder und Jugendliche sind es, die das von Álvaro Restrepo gegründete Colegio del Cuerpo (Schule des Körpers) besuchen und dort zum Tanzen animiert werden. „Der gemeinsame Tanz ist wie eine Ruhepause von Elend und Angst für die Kinder“, sagt Santiago.

Das Colegio ist ein einzigartiges Projekt in Kolumbien und allein dem Engagement von Álvaro Restrepo zu verdanken. Der kleingewachsene Mann genießt einen exzellenten Ruf in der internationalen Tanzszene. Trotzdem hat er sich gegen eine Karriere und für den Aufbau seiner Schule entschieden. Für Restrepo kein Widerspruch, denn für ihn gehört „die soziale Arbeit zu den zentralen Aufgaben eines aktiven Künstlers“.

Schon als junger Mann arbeitete er in Bogotá mit Straßenkindern. Dann entdeckte er den Tanz, brach sein Studium der Philosophie und Literatur in Bogotá ab und studierte in New York zeitgenössischen Tanz. Doch die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ließ den 44-Jährigen nie los, und als er 1991, nach zehn Jahren im Ausland, nach Kolumbien zurückkehrte, kam er mit dem festen Ziel, in Cartagena seine eigene Schule aufzubauen.

Einige Jahre sollte es allerdings noch dauern, bis der Traum in Erfüllung ging. Für die Anschubfinanzierung sorgte der Bürgermeister, für Räume eine private Stiftung, und über einen Kooperationsvertrag mit einer großen Schule, dem Colegio Inem, kamen die Schüler. „480 waren es am Anfang, das war 1997. Mit 90 von ihnen haben wir begonnen, systematisch zu arbeiten“, erinnert sich Wilfram Barrios, die rechte Hand Restrepos.

Aus nahezu allen Stadtvierteln Cartagenas kommen die insgesamt 20 Schüler, die nahezu alle seit fünf Jahren am Colegio zeitgenössischen Tanz lernen. Zu ihnen gehört auch Santiago, der von einer internationalen Tanzkarriere träumt und nur zu gern in Europa bei einer Kompanie anheuern würde. „Wenn ich professionell tanzen will, habe ich in Kolumbien keine Chance, denn moderner Tanz ist dort weitgehend unbekannt“, gibt sich Santiago realistisch.
Der ausdrucksstarke Tänzer stammt aus einer Mittelklassefamilie. Sein Vater ist Lithograph, die Mutter arbeitet als Verwaltungsangestellte im Gesundheitssystem. Damit kommt er aus besseren Verhältnissen als viele seiner Tanzkollegen aus der „Grupo Piloto Experimental“.

Yorneis stammt hingegen aus ärmlichen Verhältnissen. Sein Vater ist Arbeiter, seine Mutter Hausfrau. Erst als sie eine Vorführung des Colegio besuchten, begriffen sie, was ihr Junge hier lernt und was es ihm bedeutet. „Vorher haben sie mich immer gefragt, ob ich heute Cumbia oder Vallenato getanzt habe“, sagt Yorneis lachend. Doch mit den beliebten kolumbianischen Populärtänzen hat der sympathische 16-Jährige genauso wenig am Hut wie die übrigen Mitglieder der Kompanie.

Rund 100 Kinder aus Nelson Mandela sind es, die einmal pro Woche gemeinsam mit Restrepo und seinen Schülern tanzen. Weitere 100 kommen aus anderen Armenvierteln der Stadt. „Es ist in einem Land wie Kolumbien besonders wichtig, den Körper als eigenes Territorium zu entdecken und zu entfalten. Inneren Frieden zu finden ist die Vorraussetzung, um Frieden innerhalb der Gesellschaft zu säen“, sagt der mager wirkende Mann mit der schmucklosen Nickelbrille.

Pasión, Leidenschaft, gehört für ihn zum Tanzen. „Ohne Leidenschaft und Begeisterung ist das Leben nur die Hälfte wert“, sagt Restrepo, der aus den Kindern und Jugendlichen seinen Enthusiasmus schöpft: „Für mich sind sie menschliche Diamanten, die nur ein wenig Hilfe brauchen, um zu strahlen. Poliert man sie nicht, dann entwickeln sie sich vielleicht wie so viele, die in den Krieg ziehen oder in die organisierte Kriminalität.“

Klar ist Restrepo, dass nicht alle Schüler Profi-Tänzer werden können. Aber für einige ist es eine reale Perspektive. Die Kooperation mit dem Tanzzentrum im französischen Angers ist deshalb besonders wichtig. Zwei bis drei Jahre sollen sich die Mitglieder der „Grupo Piloto“ nach ihrem Schulabschluss in Frankreich weiterqualifizieren. Die einen als Tänzer, die anderen als Choreograph, Theatertechniker oder Kostümschneider. Aber auch Schnupperkurse in Tanztherapie, Dokumentation oder Presse kann sich Restrepo gut vorstellen.
Knut Henkel

Konto für jedermann

Schuldnerberater starten neue Kampagne

(aus Hinz&Kunzt 117/November 2002)

Gerade wer Schulden mit sich herumschleppt, benötigt ein Girokonto – jede Bareinzahlung ist teuer. Doch immer wieder kündigen oder verweigern Geldinstitute Betroffenen eine Bankverbindung, aufwändig ist die Betreuung und nicht lukrativ. Deshalb startet die Arbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung der Verbände (AG SBV) eine Kampagne. „Die Banken bagatellisieren das Problem“, so die Schuldnerberater. Zwar erklärten die Geldinstitute bereits 1995 in einer „freiwilligen Selbstverpflichtung“, auf Wunsch jedem Bürger ein Konto auf Guthabenbasis einzurichten. Doch sieht die Praxis oft anders aus. Nun sammeln die Berater bundesweit Fälle, um ihrer Forderung „Recht auf Girokonto“ Nachdruck zu verleihen.

Auch in Hamburg mehren sich Klagen über die Geschäftspolitik der Banken. Seitdem Anfang des Jahres die Pfändungsfreigrenzen angehoben wurden, kommen „vermehrt Ratsuchende, denen das Konto gekündigt wurde“, so Maj Zscherpe, Leiterin der städtischen Öffentlichen Rechtsauskunft- und Vergleichsstelle (ÖRA). Sie will ebenfalls Fälle sammeln und notfalls eine gerichtliche Grundsatzentscheidung für Hamburg herbeiführen.

„Die Situation ist keineswegs so aussichtslos, wie viele Betroffene befürchten“, erklärte die Sozialbehörde. Menschen mit geringem Einkommen hilft die ÖRA kostenlos (Holstenwall 6, Tel. 42843-3071 oder –3072). Rat gibt auch die Verbraucherzentrale (Termine unter Tel. 24 83 20).
Wer den Weg scheut, wendet sich an die Beschwerdestelle seiner Bank oder an die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (Graurheindorferstr. 108, 53117 Bonn) und bittet, an die Selbstverpflichtung zu erinnern. Kontodaten und Kündigungsschreiben sollten beigelegt werden.

Gut, Mensch!

Auszeichnung für einen Polizisten

Selbst der motivierteste Mensch braucht hin und wieder Anerkennung. Deshalb verleiht Hinz & Kunzt jetzt zweimal jährlich den „Gut, Mensch!“ für außergewöhnliches soziales Engagement. Erster Preisträger ist der Bürgernahe Beamte Peter Stapelfeldt.

(aus Hinz&Kunzt 117/November 2002)

Als wir im Mai den Max-Brauer-Preis bekamen und wochenlang auf Wolke sieben schwebten, wurde die Idee geboren: Wir wollen selbst Menschen ehren, die sich für andere engagieren. Vorschlagsberechtigt ist jeder Leser oder Verkäufer. Die Qual der Wahl hat dann der Beirat. H&K-Herausgeberin Annegrethe Stoltenberg verleiht die Auszeichnung. Geld gibt’s nicht, dafür eine kleine Anstecknadel – ein Mini-Stein aus hellgrauem Granit auf einer kleinen Silberplatte.

Natürlich ist es immer schwierig, aus einer Vielzahl von engagierten Menschen einen auszusuchen. Da gibt es etwa das 16-jährige Mädchen aus Osdorf, das eine alte Frau beherzt aus ihrer brennenden Wohnung gerettet hat. Oder die ältere Dame, die jeden Monat aus Schenefeld in die Innenstadt reist, um – anonym – Briefumschläge mit etwas Geld für Verkäufer abzugeben. Oder die vielen Ehrenamtlichen, die auf Hamburgs Straßen und in Suppenküchen den Armen beistehen.

Doch die Wahl fiel diesmal auf einen Polizisten – für ein Obdachlosenprojekt sicher außergewöhnlich. Der Beirat entschied sich für den Bürgernahen Beamten der City, Peter Stapelfeldt. Vor allem deswegen, weil sich gerade die Obdachlosen in „seinem“ Revier für den 55-jährigen Hauptkommissar stark gemacht hatten.

„So einen wie ihn gibt’s nur einmal!“, sagt Norbert, der in der City Platte macht. „Er ist etwas ganz Besonderes!“, sagt Fred. Er und seine Kumpels trafen sich bei Hinz & Kunzt, um zu erzählen, was sie alles mit „unserem City-Grünling“ erlebt haben. Viele BüNaBes habe er in seinem Leben draußen kennen gelernt, sagt Stefan (27), aber so einen habe er noch nicht erlebt: Der Mann versuche immer zu helfen. „Mit Hotte ist er zum Sozialamt gegangen und hat ihm geholfen, neue Papiere zu bekommen“, so Stefan. „Einen anderen, der seine Papiere verloren hatte, begleitete er zur Bank und sorgte dafür, dass er an sein Geld kommt“, erzählt Elke. Stapelfeldt sei es gewesen, der sich dafür eingesetzt habe, dass in der City ein Dixieklo und ein Container für Gepäck aufgestellt worden seien, sagt Spinne.

Als Stefan neu in die City kam, stellte sich Stapelfeldt sogar bei ihm vor. „Mit Handschlag!“ Dann allerdings fügte der Hauptkommissar hinzu: „Wenn du hier Scheiße baust, erfahr ichs als erster. Also, sags mir lieber gleich.“ Denn „ein Weichei“ ist Stapelfeldt nicht. „Der redet Hochdeutsch!“, sagt Tommy anerkennend. Und damit meint er nicht nur, dass Stapelfeldt die deftige Ausdrucksweise beherrscht. Wenn er beispielsweise einem seiner Kunden auf den Kopf zusagt, dass er „breit wie ein Biberschwanz“ sei. Nein, Hochdeutsch, das geht noch anders: Neulich, da hat Tommy mal wieder einen über den Durst getrunken und ordentlich Randale gemacht. Stapelfeldt sei gekommen und habe gesagt: „Wenn du so weitermachst, fährst du Taxi.“ „Da wusste ich Bescheid“, sagt Tommy. „Taxi – das heißt nur eins: ein paar Stunden in den Knast.“ Also beschloss er: „Klappe halten.“
Bei einer anderen „Party“ hatten die Männer und Frauen am Mönckebrunnen sich „ziemlich doll ausgebreitet“, Passanten wurden schon sauer. Der BüNaBe rückte an, „sagte nur ganz cool: ,Alles, was um die Bänke herum liegt, wird in zwei Minuten beschlagnahmt – und weggeschmissen.'“ Und schwuppdiwupp – in weniger als zwei Minuten hatten die Partygäste aufgeräumt.

„Wenn du ihn nicht belügst oder verarschst, ist er immer fair und ehrlich zu dir“, sagt Norbert. Eine Erfahrung, die die meisten Obdachlosen in ihrem Leben selten gemacht haben. „Der Mensch steht bei ihm im Mittelpunkt“, fügt Norbert hinzu. „Er gibt einem immer eine Chance.“ Gerade neulich, da verbrachte der 33-Jährige wieder geraume Zeit hinter Gittern. Als er rauskam, musste er zweimal die Woche zur Bewährungshilfe. Immer wieder sei Peter Stapelfeldt zu ihm gekommen und habe ihn gefragt, wie es mit der Bewährungshilfe laufe. „Aber der wollte mich nicht kontrollieren, den hat das wirklich interessiert.“ Und in einer Sache ist sich Norbert ganz sicher: „Wenn ich nicht hingegangen wäre – der hätte mich eigenhändig hingebracht.“

Die Obdachlosen aus der City haben auch einiges gelernt von ihrem „City-Grünling“: Verantwortung beispielsweise. Norbert leint seinen Hund jetzt immer an – „meistens jedenfalls“, räumt er nach einigem Zögern ein. „Wir können nicht einfach Müll hinterlassen und rumkrakeelen, das stört ja auch die anderen“, sagt Elke. Vor Peter Stapelfeldt ist es ihr und den anderen „schon peinlich“, wenn ihr Platz mal wieder voll liegt mit Bierdosen. „Wir haben uns Müllsäcke besorgt und den Kram freiwillig eingesammelt.“

Übrigens: Nicht nur bei den Obdachlosen genießt der Hauptkommissar mit den drei Sternen Sympathie und Respekt: „Peter Stapelfeldt ist ein Mensch, der sein Herz auf dem rechten Fleck hat und es dennoch versteht, sich bei seinen Kunden den nötigen Respekt zu verschaffen“, sagt City-Manager Henning Albers, der immerhin die Geschäftsleute in der Innenstadt repräsentiert. „Wenn es so etwas wie eine Traumbesetzung gibt, dann ist es die mit Peter Stapelfeldt als Bürgernahem Beamten in der City.“ Dem können wir Hinz & Künztler nichts mehr hinzufügen.

Birgit Müller

Zur Person: Hauptkommissar Peter Stapelfeldt ist seit 1973 auf dem Polizeirevier 12. Er ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Nicht immer sei er so sozial eingestellt gewesen, räumt der 55-Jährige ein. Erst mit seiner Tätigkeit als Bürgernaher Beamter habe er die Menschen in seinem Revier besser kennen gelernt, die Armen wie die Reichen.