Ganz und gar nicht „ausgemustert“

Wilfried Dziallas spielt im Ohnsorg-Theater den Handlungsreisenden

(aus Hinz&Kunzt 116/Oktober 2002)

Sein Gesicht kennt seit dem Fernseherfolg „Girl Friends“ fast jeder. Die Fans des Ohnsorg-Theaters lieben ihn sowieso seit Jahren. Und dennoch ist der Name Wilfried Dziallas einem breiten Publikum bisher nicht geläufig. Das ändert sich jetzt hoffentlich: Wilfried Dziallas spielt zum 100-jährigen Jubiläum des Ohnsorg-Theaters die Hauptrolle in „Utmustert – Tod eines Handlungsreisenden“.

Auf den ersten Blick wirkt Dziallas auch heute mit 57 Jahren, nach mehr als zwölf Hauptrollen in TV-Produktionen, unzähligen Nebenrollen, etwa 20 Jahren als Regisseur, Autor und Theatermime nicht wie ein Künstler aus dem Elfenbeinturm. Mit seinem großen kräftigen Körperbau würde man ihm ohne weiteres abnehmen, er sei Bauarbeiter, Landwirt oder Fernfahrer. So einer von der ehrlichen, grundsoliden Sorte: aufrecht, geradeaus, besonnen, norddeutsch-bodenständig, mit trockenem Humor und immer mit dem Schalk im Nacken.

Doch auch wenn man es ihm nicht ansieht, so muss das Talent zur Schauspielerei schon in dem kleinen Stepke Wilfried geschlummert haben: Kaum konnte er halbwegs lesen, inszenierte der Sechsjährige vor versammelter Verwandtschaft Mickymaus- Comics und las mit verstellter Stimme alle Rollen selbst. Die Vorstellung muss beachtlich gewesen sein, denn als der Kleine während seiner Einmann-Show erklären wollte, wen er jetzt gerade spiele, meinte seine Mutter: „Junge, das hören wir doch, wer du bist.“
Hätten alle damals so genau hingehört, man hätte es ahnen können: Hier ist ein Schauspieler im Werden. Es folgte mit zwölf Jahren eine eigene Inszenierung von „Max und Moritz“. „Ich war natürlich weder Max noch Moritz, sondern der Regisseur“, erinnert sich Wilfried Dziallas. Die Regie, sein zweites Talent, war aus der Taufe gehoben.

Wer denkt, so schnurstracks ging es jetzt weiter auf die Bretter, die die Welt bedeuten, der irrt. Schließlich befinden wir uns in Hamburg, der Stadt der Pfeffersäcke, und da muss einer erst mal was Anständiges lernen. Wilfried Dziallas wurde Groß- und Außenhändler, belegte Buchhaltungskurse und engagierte sich als Gewerkschafter. „Dann lernte ich bei meiner Arbeit ein paar Amerikaner kennen und wollte unbedingt in die USA.“
Mit 21 Jahren wanderte Dziallas in die Staaten aus. Und dort, an der Universität in Utah, gab ein Dozent endlich den offiziellen Startschuss für die Karriere als Schauspieler, als er erklärte: „Du gehörst auf die Bühne.“ „Da war mir plötzlich alles klar“, sagt Dziallas. „Das ist mein Weg.“ Er studiert Schauspiel und Regie, unter anderem bei Hollywood-Star Jack Lemmon.

„Aber ich bin kein fanatischer Künstler“, gesteht Wilfried Dziallas. „Kaum in Deutschland zurück, bin ich rückfällig geworden. Ich war 26, wollte eine Familie gründen und ihr finanzielle Sicherheit geben.“ Er studierte Volkswirtschaft, arbeitete als Berufsberater beim Arbeitsamt.
Erst spät macht er das Theater zu seinem Beruf, dann aber auch gleich richtig. „Da ein Beginn als Anfänger mit 38 Jahren schlecht möglich war, blieb mir nur der Einstieg von oben“, so Dziallas in einem Interview. Er gründet 1982 das Theater „Die Maske“ an der Marschnerstraße. Doch das ehrgeizige Projekt scheitert und wird zum finanziellen Desaster.
Im Jahr 1986 führt Dziallas zum ersten Mal als Gastregisseur am Ohnsorg-Theater Regie, ein Jahr später hat er einen Festvertrag an der Hamburger Traditionsbühne, ist mittlerweile Oberspielleiter des Hauses.

Seinen ersten Fernseh-Film „Sturzflug“, dreht er mit Torsten Näter drei Jahre später, seither ist er in unzähligen Filmen zu sehen, zum Beispiel als Vater von Mariele Millowitsch in „Girl Friends“ oder in der Jugendserie „Neues vom Süderhof“.
Dass er einem breiten Publikum nicht durch spektakuläre Hauptrollen, sondern durch viele kleinere Rollen ein bekanntes Fernsehgesicht geworden ist, stört ihn wenig. „Eine kleine Rolle muss sofort sitzen. Wenn man nur ein oder zwei Szenen hat, muss man sofort überzeugen“, so Dziallas. „Eine Hauptrolle kann dagegen entwickelt werden, selbst wenn der Schauspieler am Anfang des Stückes schwach ist, kann er am Ende doch tosenden Beifall bekommen.“

Seine aktuelle Rolle am Ohnsorg als Willy Lohmann in dem weltberühmten Stück „Tod eines Handlungsreisenden“ von Arthur Miller, war für ihn ein besonderes Anliegen: „Das Stück ist leider hochaktuell: Ein Mensch, der sein ganzes Leben lang dem Traum von einer sicheren Zukunft nachjagt, steht vor den Trümmern seiner Existenz, als er entlassen wird.“
Träume habe er selbst zur Zeit eigentlich keine, meint Dziallas. „Ich habe mir eigentlich alles erfüllt: Ich schreibe, führe Regie, spiele – das ist ein solches Glück, da brauche ich nicht mal ein Hobby.“ Gegen so viel Zufriedenheit im Beruf eines Schauspielers, könnte wahrscheinlich nicht mal die eingangs zitierte Großmutter Ohnsorg das Geringste einwenden.

Petra Neumann

Tod eines Mädchens

Krankenpfleger Amadeus von der Oelsnitz über Armut und AIDS in Malawi

(aus Hinz&Kunzt 116/Oktober 2002)

Halima ist klein, dünn und still. Man sieht der Zehnjährigen an, dass sie AIDS hat. Ihr Gesicht ist von Hautausschlag entstellt. So sitzt sie in meinem Behandlungszimmer.
Halima ist ein Waisenmädchen aus einem Heim in Chiradzulu, einem ländlichen Distrikt in Malawi. Sie ist das erste Kind, das „Ärzte ohne Grenzen“ in diesem Jahr in sein Medikamentenprogramm für AIDS-Kranke aufgenommen hat.

Ich bin als Krankenpfleger für „Ärzte ohne Grenzen“ in das kleine südost-afrikanische Land gekommen. Zwischen 15 und 20 Prozent der Bevölkerung Malawis ist infiziert mit dem HI-Virus, sie leiden unter Hunger, Tuberkulose und Malaria. Armut ist der Boden, auf dem jeglicher Mangel in Malawi gedeiht: Fehl- und Unterernährung, schlechte oder gar keine Schulbildung, früher Tod.

Als ich im Februar in Chiradzulu ankomme, ist Winter. In 1500 Metern Höhe ist es nachts kalt, am Tag oft neblig und nur wenige Grad über Null. Trotzdem gehen die Menschen auch in dieser Jahreszeit meist barfuß, ihre Kleidung ist dünn und oft zerfetzt.

Am Anfang ist es schwer, mich an alles zu gewöhnen, die Sprache, die Gerüche, das Wetter, die Art zu leben und die Weise, in der die Menschen leiden. Sie leiden stiller als wir, in sich gekehrter, als hätten sie sich ihrem Schicksal schon ergeben.

Morgens stehen lange Schlangen zerlumpter Patienten vor der Ambulanz des kleinen staatlichen Krankenhauses, in dem wir arbeiten. Ich bin von meiner Arbeit mit der offenen Drogenszene im „Drob Inn“ am Hamburger Hauptbahnhof viel Schlimmes gewohnt – Gerüche, offene Wunden, Hilflosigkeit -, dies hier ist neu. In Malawi sind nicht nur wenige von Armut betroffen. Es sind viele.

Die einfachen Bauern in Malawi warten geduldig, egal ob im Regen oder in stechender Sonne, bis wir sie behandeln. Es riecht scharf nach ungewaschenen Menschen und nach der roten Erde. Die Kinder berühren mich besonders. Es gibt immer mehr Waisen im Südosten Afrikas, wo Eltern und Verwandte ganzer Großfamilien in kürzester Zeit an AIDS sterben. Übrig bleiben oft nur die Alten und die Kinder, die nicht selten auch infiziert sind.
Auch Halimas Eltern sind an AIDS gestorben. Nun sitzt sie mir gegenüber. Ich kann kaum sprechen, als Halima mich mit ihren traurigen Augen ansieht. Dabei ist es meine Aufgabe, die Patienten auf die Medikation vorzubereiten und denen, die nicht lesen und schreiben können, die Einnahme nach Tageszeiten zu erläutern und sie über Nebenwirkungen aufzuklären.
Was um Gottes Willen soll ich Halima denn sagen? Kann ich irgendwas versprechen? Was in ihrem kranken Leben gibt ihr Hoffnung? Die Medikamente sind stark und haben gerade am Anfang heftige Nebenwirkungen, oft leiden die Patienten dann mehr unter der Medizin als an der Krankheit selbst.

Ich versuche zu lernen, mich an den Anblick und die Arbeit mit den kleinen kranken, hungernden Kindern zu gewöhnen. Es dauert lange, bis ich nicht mehr jede Nacht davon träume.

Ich fahre mit dem Jeep in das Waisenhaus, um nach Halima zu sehen. Ich bringe ihr Bonbons mit und Geld für Essen, wohl mehr für meine Seele denn als richtige Hilfe. Ich bin traurig und gequält – und damit natürlich keineswegs professionell distanziert.
Sechs Monate Arbeit in Malawi haben meinem Leben eine neue Blickrichtung gegeben. Die westlichen Industrienationen tragen die Verantwortung für die unmenschliche Verweigerung der großen Pharmafirmen, den Afrikanern Aidsmedikamente zu erschwinglichen Preisen zur Verfügung zu stellen. Afrika ist kein finanzstarker Markt. Aber der überwiegende Teil der HIV-Infizierten der Welt lebt – lebt noch – auf diesem Kontinent. Trotzdem bekommen nur die wenigsten Behandlung.

Unser Projekt von „Ärzte ohne Grenzen“ versucht, den Menschen mit Hilfe von Medikamenten ein längeres Überleben mit der HIV-Infektion zu ermöglichen. Und wir versuchen aufzuklären – über die Krankheit und wie man sich und andere vor ihr schützen kann. Doch in einem armen Land wie Malawi bedeutet die Benutzung von Kondomen, dass die gesamte traditionelle Familienplanung aus dem Ruder läuft. Eine Altersvorsorge gibt es nicht, und so müssen die Menschen eigentlich viele Kinder zur Welt bringen, die später die Felder bestellen. Verhüten sie, bleiben die Felder unbestellt. Verhüten sie nicht, bleibt das Risiko einer AIDS-Infektion. Der Kreislauf ist schwer zu durchbrechen.

Nach Wochen der Tortur geht es Halima besser. Sie kommt nach stundenlangem Fußmarsch ins Krankenhaus, um ihre Medizin zu holen. Wir alle freuen uns so. Eine Woche später mache ich auf meiner Rundfahrt durch den Busch Halt am Waisenhaus. Halima ist tot. Die Schwestern berichten von Gelbsucht und plötzlicher Schwäche, und ich stehe da und kann nicht mehr denken.

Menschen in Malawi haben eine für uns oft seltsame Art zu trauern, und der Tod ist so präsent in ihrem Leben, so täglich gegenwärtig, dass ihr Umgang distanziert und nüchtern scheint. Einen weißen Mann weinen zu sehen, war meinen Kollegen fremd und wohl auch ein bisschen peinlich. Ich habe es nicht geschafft, ihnen das zu ersparen.
Auch wenn Halima nicht mehr lebt: Unsere Arbeit in dem Medikamentenprojekt ist schon heute ein Erfolg, für eine kleine, aber wachsende Gruppe von Menschen. 200 Patienten nahmen bisher an dem Programm teil. 18 sind gestorben. Hätten sie keine Medikamente bekommen, dürfte kaum einer von ihnen noch am Leben sein.

Jetzt wird es langsam Sommer in Malawi, die Temperaturen steigen, die schlechte Kleidung ist nicht mehr so wichtig. Und vielleicht haben die anderen kranken Kinder in dem Waisenhaus eine bessere Chance als Halima, in einem so schönen und so furchtbaren Land zu überleben.

www.aerzte-ohne-grenzen.de

Greifen Sie zu!

Im Wilhelmsburger Laden ohne Kasse können Arme einkaufen, ohne zu bezahlen

(aus Hinz&Kunzt 116/Oktober 2002)

Pilze, einfach wieder mal Pilze. Hinten im Gemüseregal finden sich heute gleich mehrere Kisten, gefüllt mit Champignons und Austernpilzen. „Die mag ich sehr gerne essen“, lächelt schüchtern eine ältere Frau, „aber in den normalen Läden sind die zu teuer für mich.“ Jetzt kann sie sich frei bedienen, noch einen Kopf Blumenkohl dazu und ein paar Zwiebeln, Paprika, Brot vom Vortag oder auch Yoghurt und Käse.
Das Angebot im „Laden ohne Kasse“ ist tagesabhängig. Immer abhängig davon, welche Lebensmittel zuvor von kleinen Bäckereien oder grossen Supermarktketten zur Verfügung gestellt wurden.

Seit nunmehr fünf Jahren organisiert die Arbeitsloseninitiative Wilhelmsburg die Wilhelmsburger Tafel, zunächst im Gemeindehaus der Emmaus-Gemeinde, Rothenhäuser Damm, und seit Ende vergangenen Jahres im renovierten „Deichhaus“ am Vogelhüttendeich: Zwanzig ehrenamtliche Mitarbeiter sammeln Lebensmittel ein, zumeist überschüssige oder auch einfach nur falsch deklarierte Ware, um sie an bedürftige Menschen aus dem Viertel zu verteilen. Anders als die seit fast acht Jahren im gesamten Stadtstaat arbeitende „Hamburger Tafel“ mit ihrer zentralen Aufgabe, soziale Einrichtungen mit Mitteln zum Leben zu versorgen, werden in Wilhelmsburg auch ein Laden sowie ein Café betrieben. Einmal die Woche bereiten Freiwillige ein Mittagessen – einmal warm essen für einen Euro. Für manche Leute wird das „Deichhaus“ so auch zu einem Ort der Begegnung.
„Man spricht dann mit anderen Menschen“, sagt eine 61-jährige Frau, allein lebende Witwe, und das Essen, na ja, das sei sowieso gut. Seit zwei Jahren kommt sie zur „Wilhelmsburger Tafel“, und im Laden „nehme ich mir das, was gerade vorhanden ist. Daraus kann ich mir zu Hause immer etwas ganz Leckeres zubereiten.“ Ich kann mir ja sonst nicht viel kaufen, sagt sie, nur 50 Mark bleiben jede Woche zum Leben. „Mark“, fügt sie resolut hinzu, „nicht Euro“.

„Witwen“, erzählt später Harald Pietrowski, „haben es hier im Stadtteil oft besonders schwer. Wenn der Mann gestorben ist, bleibt ihnen nur eine ganz karge Rente.“ Seit ein paar Monaten arbeitet der 60-Jährige ehrenamtlich für die Wilhelmsburger Tafel. 45 Jahre Hafen auf dem Kreuz, sagt er, und nach der Frühpensionierung „wollte ich nicht in ein schwarzes Loch fallen. Deshalb bin ich hier.“ Zusammen mit einigen anderen Ehrenamtlichen begleitet er Ladenbesucher, um ihnen die Ware zu verstauen und auch darauf zu achten, dass sich alle gerecht bedienen. Manchmal, sagt der Helfer, „da muss man die Leute auch drängen, damit sie ausreichend nehmen. Vor allem ältere Leute schämen sich und wollen mit nur einer Tomate wieder gehen.“
Die Frau mit den Pilzen umfasst ihre Tüten, sie will zurück zu sich nach Hause. Das dritte Mal erst war sie heute Gast der Tafel. „Eigentlich weiß ich schon länger hiervon“, sagt sie, „und ich hab auch nur eine ganz kleine Rente. Aber man geht dann erstmal doch nicht hin.“ Man könnte ja von anderen gesehen werden, erklärt die 72-Jährige ihre ursprüngliche Scheu. Aber irgendwann habe sie sich gesagt, Quatsch, jetzt gehst du da hin, das ist bestimmt eine gute Sache. „Ich hab dann meine Hemmungen verloren“, sagt sie und grüßt leise zum Abschied. „Bis zum nächsten Mal.“

Auch beim nächsten Mal werden bis zu einhundert Menschen den Wilhelmsburger Kellerladen aufsuchen. Überwiegend Stammkunden habe sie, sagt Koordinatorin Karin Rohde, allesamt bedürftige Menschen, etwa ein Drittel ausländische Frauen und Männer, viele Ältere dabei aber auch junge Frauen mit kleinen Kindern. Morgen, hofft sie, hat sie vielleicht wieder etwas Besonderes für ihre Besucher. Vielleicht neue Körbe mit überschüssigen Pilzen.

Peter Brandhorst

Mit einem Bein draußen

Im Moritz-Liepmann-Haus bereiten sich Gefangene auf die Freiheit vor

Ein Gefängnis mitten im Stadtteil, eine Anstalt, die kaum einer kennt. Im Moritz-Liepmann-Haus in Altona verbringen Strafgefangene die letzten Monate vor ihrer Entlassung. Wird Justizsenator Roger Kusch das Haus erhalten?

(aus Hinz&Kunzt 116/Oktober 2002)

Der zweigeschossige Bau in der Alsenstraße ist nur ein paar Schritte vom Musical-Theater „Neue Flora“ entfernt. Das Grundstück hat keine Mauer, keine meterhohen Zäune, keine Scheinwerfer. Das Moritz-Liepmann-Haus (MLH) gibt sich diskret. Noch nicht mal ein Schild am Eingang weist darauf hin, dass es sich um die Justizvollzugsanstalt XIII handelt.

Im Haus leben 38 Männer und 7 Frauen. Sie haben zum Teil Jahre in anderen Anstalten hinter sich und sind für die letzten Monate ihrer Haft ins MLH gewechselt, um sich auf die Entlassung vorzubereiten. Wichtigste Bedingung dort: Die Insassen müssen sich Arbeit suchen. Ziel ist „ein nahezu an die Freiheit angepasstes Leben noch während der Haft“, wie es in einem Info-Blatt heißt. Oder wie ein Insasse formuliert: „Man sitzt mit einem Bein schon draußen.“

Freigang für den Job gibt es zwar auch in anderen Hamburger Gefängnissen. Doch das MLH hat den Vorteil einer zentralen Lage: Die S-Bahn Holstenstraße ist in Sichtweite. Insassen erreichen ihre Arbeitsstellen wesentlich leichter, als wenn sie sich von Vierlande oder Glasmoor auf den Weg machen müssen. Das MLH ist außerdem die einzige Einrichtung in Hamburg, die ausschließlich für den Übergang zwischen Haft und Freiheit konzipiert wurde. Bei der Eröffnung 1972 war es bundesweit ein Modellprojekt.

Vorausgegangen war die Erfahrung, dass in den ersten sechs Monaten nach der Entlassung eines Häftlings das Rückfall-Risiko am größten ist. So entstand die Idee, mit Integration noch während der Haftzeit zu beginnen und dafür ein spezielles Haus zu schaffen. Ein mutiger Schritt, getragen von der Aufbruchstimmung jener Zeit. Selbst die konservative „Welt“ stellte zur Eröffnung des MLH zufrieden fest: „Auf dem Wege zu einem modernen Strafvollzug ist Hamburg wieder einen Schritt vorangekommen.“

Benannt ist das Haus nach dem Strafrechtsprofessor Moritz Liepmann, der von 1919 bis 1928 an der Universität Hamburg lehrte und führender Kopf in der Reform des Strafvollzugs war.

Zwischen sechs und zwölf Monaten sind die Insassen im MLH. Sie leben in Ein- bis Drei-Bett-Zimmern, die sie mit eigenen Dingen ausstatten dürfen, die sie aber auch selber sauberhalten müssen. Die Regeln im Haus sind strikt: kein Alkohol, keine Drogen – was durch unangekündigte Kontrollen überwacht wird.
Das Verlassen des Hauses und die Rückkehr werden auf Zeitkarten festgehalten. Pünktlichkeit ist angesagt, „mal sehen“ gibt’s nicht. Wer nach der Arbeit noch Ausgang haben will, muss in der Regel erst ins Haus zurückkehren, um sich dann wieder abzumelden. Dass die rund 20 Mitarbeiter den Insassen ständig mit Fragen auf den Leib rücken, gehört zum Prinzip der Anstalt („Wo sind Sie gewesen? Was haben Sie erreicht?“). Einzel- und Gruppengespräche sind Pflicht, ebenso die Teilnahme an den monatlichen Vollversammlungen. Rund zwei Drittel der Insassen halten durch und werden in die Freiheit entlassen. Die übrigen müssen zurück in reguläre Anstalten, weil sie Vereinbarungen nicht einhielten oder sogar neue Straftaten verübten.
Über die Aufnahme ins Haus entscheiden je zwei Vertreter des MLH und der „entsendenden“ Haftanstalt. Nicht genommen werden Sexualstraftäter – eine Regelung, die schon seit Eröffnung des Hauses gilt. Grund: Eltern, deren Kinder auf die benachbarte Grundschule gingen, hatten das Projekt zunächst mit Skepsis verfolgt.

Arbeit finden die Insassen zum Beispiel bei Zeitarbeitsfirmen oder in gewerblichen Jobs. Arbeitgeber schätzen offenbar, dass die Anstalt mit in der Pflicht ist: Wenn ein Arbeitnehmer zum Beispiel nicht erscheint, können sie sich ans MLH wenden. Wie in anderen Anstalten auch müssen Gefangene, die Geld verdienen, einen Teil für die Zeit nach der Entlassung zurücklegen. Sie müssen außerdem einen Beitrag zu den Haftkosten leisten und, falls erforderlich, Unterhalt be- und Schulden abzahlen.

Seit Justizsenator Roger Kusch (CDU) alle Justizvollzugsanstalten auf den Prüfstand gestellt hat, ist die Zukunft des MLH jedoch ungewiss. Hardliner Kusch ist kein Freund von offenem Vollzug, setzt auf Wegschließen und muss für zusätzliche Haftplätze, die im Großgefängnis Billwerder geplant sind, Geld und Personal mobilisieren. Könnte dafür eine „weiche“ Einrichtung wie das MLH geopfert werden, die wegen der sozialpädagogischen Begleitung personalintensiver ist als geschlossener Vollzug? Die Leitungsstelle im MLH ist bereits seit zehn Monaten vakant. Die Neubesetzung wurde nach dem Regierungswechsel gestoppt.
Eine Schließung des Moritz-Liepmann-Hauses steht überhaupt nicht zur Debatte“, sagt Behördensprecher Kai Nitschke. Die Leitungsstelle sei derzeit zwar nicht ausgeschrieben, solle aber wieder besetzt werden („im Augenblick funktioniert das auch so ganz gut“). Die zusätzlichen Haftplätze in Billwerder seien „Zukunftsmusik“, Auswirkungen auf das MLH gebe es nicht, zumal das Klientel – in Billwerder geschlossener Vollzug, im MLH offener Vollzug – völlig unterschiedlich sei.

Die Sorge, das MLH könne geschlossen werden, hat immerhin die 17 Hamburger Strafvollstreckungsrichter auf den Plan gerufen (also jene Richter, die sich mit Anträgen und Beschwerden von Gefangenen befassen). Sie gaben im August ein einhelliges Votum für das Haus ab: Die Anstalt erbringe „vorbildliche Leistungen“ bei der Resozialisierung und sei „in der Palette der Hamburger Anstalten unentbehrlich“, so die Richter in einem Schreiben an das Strafvollzugsamt.

Das Moritz-Liepmann-Haus – vielleicht Hamburgs unauffälligstes Gefängnis. Die einzigen Gitter befinden sich vor den Fenstern des Kassenraums im Erdgeschoss. Sie sollen nicht Ausbrüche verhindern, sondern Einbrüche.

Detlev Brockes

Letzte Filiale Reeperbahn

Die Haspa an der Reeperbahn regelt für alle die Geschäfte – und manchmal auch mehr

(aus Hinz&Kunzt 116/Oktober 2002)

In kaum einer Straße wird so viel Geld umgesetzt wie auf der Reeperbahn. Die Banken haben dennoch die Flucht ergriffen. Nur noch eine Filiale regelt hier Finanzgeschäfte persönlich: die Hamburger Sparkasse.

Reichtum ist relativ. „Soll ich Ihnen mal mein Zahngold zeigen?“, fragt die alte Frau den Filialleiter nicht zum ersten Mal. Carsten Maywald, ganz Diener seiner Kundin, nickt ergeben. Gemeinsam gehen sie zu den Schließfächern, und die Witwe zeigt stolz das Schächtelchen mit ihrem Vermögen: „Mein Mann hat gut für mich gesorgt!“, sagt sie wie jedes Mal.

In die HASPA-Filiale an der Reeperbahn kommen alle: die Immobilienbesitzer wie die Bordellbetreiber, die Einzelhändler wie die alten Mütterchen, die Arbeitslosen wie die Sozialhilfeempfänger, in Spitzenzeiten bis zu 500 Menschen am Tag. „Eine sehr vielschichtige Kundschaft“, sagt Maywald, seit 25 Jahren in der Filiale und seit drei Jahren deren Leiter. Seinen Beruf hat der 48-Jährige in einer Zweigstelle in Blankenese gelernt. Dorthin zurück würde er nie gehen: „Hier ist es sicher nicht leichter – aber ich fühle mich pudelwohl. Ich mag es, wenn das Leben pulsiert!“

Nachdem die Commerzbank kürzlich ihre Zweigstelle geschlossen hat, betreibt die Haspa die einzige Filiale an der Reeperbahn. Andere Geldinstitute wie die Dresdner Bank, die Deutsche Bank oder die BfG (heute: SEB) haben schon vor Jahren das Weite gesucht.
Banken-Kritiker sehen darin eine Entwicklung nach US-amerikanischem Vorbild: Mit ihren immer genaueren Controlling-Systemen können die Geldinstitute mühelos feststellen, wo sie wie viel mit ihren Kunden verdienen. Ergebnis: der Rückzug der Banken aus den Vierteln, in denen viele Menschen mit wenig Geld leben und die deshalb nicht lukrativ erscheinen.

Dass die Armut auf St. Pauli – 13,3 Prozent Sozialhilfeempfänger und etwa noch mal so viele Arbeitslose – der Grund sein könnte für die Abwanderung der Geldinstitute, das will Maywald „so nicht stehen lassen“: Kleinere Zweigstellen würden „immer mal“ geschlossen. „Und die Großbanken haben sich nicht nur hier zurückgezogen, sondern zum Beispiel auch an der Hoheluftchaussee.“ Zudem, meint Maywald, auch Menschen mit geringem Einkommen könnten für Banken interessante Kunden sein, wenn sie sich „vertragskonform“ verhielten: „Das kann sich ja entwickeln.“

Der Morgen des Filialleiters ist ruhig verlaufen. Ein Angestellter fragte nach einem 10.000-Euro-Kredit, er will sich ein neues Auto kaufen. Ein Selbstständiger suchte Rat, wie er den Bau eines Einfamilienhauses finanzieren könnte, er wird wiederkommen mit den nötigen Unterlagen. Ein im öffentlichen Dienst Beschäftigter hat sein Aktiendepot aufgefrischt, „der kauft jetzt zu niedrigen Preisen nach“, weiß der Experte.

Nicht immer geht es so friedlich zu in der Filiale gegenüber dem Spielbudenplatz. Wenn die Ämter am Monatsende Geld überweisen an die Armen, „gibt’s schon mal Aufregung“, berichtet Maywald. Dann müssen die Mitarbeiter im Ansturm der Ungeduldigen, die sehnlichst die Überlebenshilfe erwarten, auch mal Schimpfkanonaden hören wie: „Ihr sitzt doch auf dem Geld! Zahlt das endlich aus!“

Maywalds Frau für alle Fälle heißt Bärbel Schultze. Die 56-jährige Kundenberaterin ist auf St. Pauli aufgewachsen und auch schon 24 Jahre in der Filiale tätig, sie kennt das Quartier und seine Schwierigkeiten. „Für den Stadtteil wird nicht genug getan“, meint die resolute Bankangestellte, weshalb „viele Menschen mit wenig Einkommen“ zu ihr kommen, die „Beratung und Betreuung brauchen“. Oft, erzählt sie, „wissen die Leute nicht, wo sie anpacken sollen, um aus der Geldmisere rauszukommen“.

Ein älterer Herr mit viel Gold an den Handgelenken sucht das Gespräch. „2000 Euro kostet der Spaß!“, ruft er Bärbel Schultze zu. Der offenbar nicht schlecht gestellte Rentner ist schockiert angesichts der Reparaturkosten für seinen Mercedes. „Das kriegen wir schon hin!“, beruhigt ihn die Bankangestellte. „Kommen Sie morgen noch mal!“

Am Vormittag hat sie bereits einem Arbeitslosen aus der Patsche geholfen. Der ehemalige Verlagsmitarbeiter hatte mit seiner Kreditkarte immer weiter Geld abgehoben, obwohl sein Konto längst in den Miesen war – wohl auch aus Frust angesichts von 60 erfolglosen Bewerbungen um einen neuen Job. „Das ist einer, der immer wieder auf die Beine kommt“, sagt Bärbel Schultze – und hat die Schulden in ein ratenweise abzuzahlendes Darlehen umgewandelt.

Die zahlreichen Gewerbetreibenden vom Kiez – rund 1000 der 7500 Konten sind Geschäftskonten – sind meist einfach zu versorgen, so Carsten Maywald. Viele bringen ihre Einnahmen täglich und holen sich Wechselgeld, „da bauen sich Kontakte viel besser auf.“ Kurz wird die unsichtbare Mauer sichtbar, die sich auch durch die menschlichste Bankfiliale zieht: Die „sehr schöne Beratungszone“ im ersten Stock, jener Ort, an dem „diskrete Atmosphäre“ herrscht, lernt ein schlichter Guthabenkonto-Besitzer „höchstens zur Eröffnung“ kennen.

Schwierig gestalten sich die Darlehensgespräche auf St. Pauli. Oft muss der Filialleiter Nein sagen angesichts von „Schnapsideen“ und unsicheren Einkommensverhältnissen. Das fällt ihm nicht immer leicht: „Es gibt immer Fälle, bei denen du denkst: Dem würd ich’s gönnen! Aber die Vorschriften?
Wer nur von Rente, Stütze oder Mini-Jobs lebt, kann auf einen Kredit kaum hoffen. Im besten Fall schickt ihn Maywald ins „Start-up-Center“ der Bank, wenn die Geschäftsidee pfiffig erscheint. Es bleibt den Bankmitarbeitern die Hilfe zum Überleben, und die kann ebenso bedeutsam wie zeitaufwändig sein: Wenn etwa der alte Mann mit der kleinen Rente auch beim dritten Mal nicht begreift, dass ihn eine Sammelüberweisung viel billiger käme als acht einzelne Transaktionen, dann ist Geduld gefragt. Zumal der Rentner am Ende entscheidet: „Nein, ich will das so wie bisher!“ „Ich versuche allen Kunden gerecht zu werden“, sagt Maywald, und einer wie er meint das auch so.

Vor einigen Wochen allerdings wurde seine Toleranzgrenze doch überschritten: Ein offenbar geistig Verwirrter überfiel mit einem Gaspistolen-Imitat die Bank, die direkt im Blickfeld der Davidwache liegt. Da übernahm der Chef persönlich die Verfolgung – und ermöglichte den Polizisten die schnelle Festnahme.

Ulrich Jonas

Jesus auf St. Pauli

Mit der Kurverwaltung auf dem Kiez unterwegs

(aus Hinz&Kunzt 116/Oktober 2002)

Für die Zeit, in der das Weihnachtsgeschäft schon auf Hochtouren läuft, bietet die Kurverwaltung St.Pauli ein ungewöhnliches Event an: Am 31. Oktober wandeln wir auf Jesus‘ Spuren über den Kiez, machen Station bei der Heilsarmee und erklettern Kirchtürme. Wir erforschen die dunklen Seiten des irdischen Daseins und teilen Wein und Bier.

Das Ganze zum Vorweihnachts-Preis von 45 Euro. Und das Schöne daran ist: Ganz der christlichen Tradition folgend, geht ein Teil des Geldes an eine gemeinnützige Einrichtung: die St. Pauli-Kurverwaltung – und die verteilt den Erlös später an Projekte auf dem Kiez!
Tourguide oder – um im Jargon zu bleiben – Kurschatten an diesem Abend ist Sieghard Wilm, Pastor an der St. Pauli-Kirche am Pinnasberg. „Die Vorstellung, der Mann aus Nazareth gehe über die Reeperbahn, hat Unterhaltungswert“, sagt der Pastor. Und kennt zum Thema eine Menge Geschichten.

Vor ein paar Jahren beispielsweise erregte ein Oldenburger Künstler Aufsehen dadurch, dass er als Jesus verkleidet über den Kiez ging. An einem Ostermorgen verteilte der Aktionskünstler „Brian Divine“ gute Worte und Blumen an Obdachlose. Mit Bart, in langem Gewand und mit Jesuslatschen an den Füßen. „Alles nur Klamauk? Ein Witz, über den wir lachen, weil etwas Tragikkomisches darin steckt?“ Das findet der Kirchenmann vom Pinnasberg ganz und gar nicht.
Denn ausgerechnet auf dem Kiez, der als verruchtester Stadtteil ganz Deutschlands gilt, in dem Rotlicht und Blaulicht angeblich die vorherrschenden Farben sind, Rausch und Absturz näher als sonstwo beieinander liegen, da ist laut Wilm auch Jesus zu Hause. „Wo alle nur labern und gröhlen, ist da ein Mann, der einfach zuhört.“

Denn ausgerechnet dieses harte Pflaster hat von jeher Menschen gereizt, im Namen Jesu gestrandete Seeleute und gefallene Mädchen zu retten, Suppenküchen und Wärmestuben einzurichten, Gottes Liebe und Moral zu predigen. „Der Kiez war immer ein Ort, an dem sich der Glaube in Tat und Wort einem Härtetest stellen wollte“, sagt der Pastor.
Wer allerdings Sozialromantik und Gossenidyll sucht, wird schnell enttäuscht. „Auf St. Pauli kann man vom Glauben abfallen – von einem falschen Glauben. Alles, was unecht ist, fliegt hier auf“, sagt Wilm.

Durch diesen spannenden Stadtteil voller Gegensätze will er seine „Kurgäste“ führen. Und wo könnte der Abend am besten seinen kulinarischen Höhepunkt haben? Natürlich im „Abendmahl“ auf dem Hein-Köllisch-Platz.

tk/bim

Faire Chancen statt Almosen

Entwicklungshilfe ist denkbar ungeeignet, um die Armut zu besiegen. Diese gewagte These vertritt Ex-Greenpeace-Chef Thilo Bode.

(aus Hinz&Kunzt 116/Oktober 2002)

Rund 1,2 Milliarden Menschen leben unter der Armutsgrenze, also mit weniger als einem Dollar pro Tag, und nach dem Willen der Vereinten Nationen soll der Anteil der Armen auf der Welt bis 2015 halbiert sein.

In den ärmsten Ländern hat die Entwicklungshilfe große Bedeutung, meistens zu große. In Afrika südlich der Sahara erreicht ihr Anteil an den inländischen Bruttoinvestitionen etwa 20 Prozent und pro Kopf 21 Dollar im Jahr. Dennoch hat sich die Lage in dieser Region drastisch verschlechtert. Die Zahl der Armen ist gestiegen, der Hunger hat zugenommen, Bürgerkriege wüten, viele Staaten zerfallen. Die Entwicklungshilfe steht vor einem Scherbenhaufen. Oder hätte sie einfach nur höher sein müssen?

Paradoxerweise ist es gerade ihr relativ großes Gewicht, das diesen negativen Trend mitverursacht hat. Als Instrument der Außenpolitik im Kalten Krieg hat die staatliche Entwicklungspolitik korrupte Regime dauerhaft subventioniert, politische Reformen damit verhindert und indirekt die Bevölkerung bluten lassen. Darunter leidet Afrika noch heute. Der korrupte, milliardenschwere Diktator Sese Seko Mobutu, ehemaliger Präsident von Zaire, der sein Land in Grund und Boden gewirtschaftet hat, wurde noch durch westliche Entwicklungshilfe alimentiert, als seine Durchstecherei selbst für afrikanische Verhältnisse unappetitliche Ausmaße angenommen hatte.
Auch nach Ende des Kalten Krieges wirkt es sich besonders negativ aus, dass die staatliche Entwicklungshilfe von den Geberländern als Dauersubvention für die an der Macht befindlichen Elite und Bürokra- tie angelegt ist. In undemokratischen Systemen, vor allem in den tribalistisch organisierten Staaten Afrikas, bevorzugt das von Regierung zu Regierung fließende Geld auf der Seite der Nehmerländer einseitig die jeweils herrschenden Stämme und Clans. Das hat fatale Auswirkungen.

Die ungleiche Verteilung trug zu vielen schrecklichen Bürgerkriegen bei. Etwa in Somalia, wo sich der Clan des ehemaligen Präsidenten Siad Barre so lange bereicherte, bis die anderen Clans zurückschlugen. Oder in Burundi, wo die Gelder der Entwicklungshilfe bei den herrschenden Tutsis hängen blieben, während die unterdrückte Landbevölkerung, vornehmlich Hutus, nicht davon profitieren konnte. Die dadurch verursachte soziale Schieflage ist mitschuldig an dem entsetzlichen Gemetzel zwischen den beiden Volksgruppen. Diese Liste ist beliebig verlängerbar.

Der Charakter der Hilfe erzeugt eine schlimme „Nehmermentalität“ und entmündigt die Empfänger. Eigeninitiative kann sich nicht entfalten. Versuche, die Entwicklungshilfe durch strenge Auflagen zu konditionieren und damit effektiver einzusetzen, sind bislang gescheitert.
Das Argument, dass trotz dieser Defizite wenigstens ein kleiner Teil der Hilfe bei den Armen ankomme, trägt kaum. Abgesehen davon, dass von den durchschnittlich 21 Dollar pro Kopf einige in die Taschen korrupter Staatsdiener gehen und andere in die Geberländer zurückfließen, setzt der Rest keine Wachstumsprozesse – die wesentliche Voraussetzung für Armutsbekämpfung – in Gang.

Wegen des zwischenstaatlichen Charakters der Hilfe gehen 70 Prozent der Investitionen in den öffentlichen Sektor, insbesondere in Straßen, Flughäfen, Kraftwerke, Telekommunikation und große Wasserversorgungsanlagen, deren Unterhalt die Staatshaushalte überbeanspruchen und die den Armen relativ wenig nützen. Die gern gezeigten „Brunnen in Afrika“ sind ganz und gar nicht repräsentativ für die staatliche Entwicklungslungshilfe.

Die Entwicklungshilfe für Großprojekte bewirkt zudem, dass sich die armen Länder immer mehr im Ausland verschulden. Denn für derartige Projekte benötigen sie zusätzliche Kredite. Bis zu 20 Prozent des Staatshaushaltes müssen die ärmsten Länder heute für den Schuldendienst ausgeben, das Geld fehlt für die Bekämpfung der Armut.

Viele Entwicklungsländer sind also nicht deshalb so hoch veschuldet, weil ihre Regierungen unfähig sind, sondern weil die Industrieländer eine verfehlte Entwicklungsstrategie betreiben. Rechnet man die Kosten für die alten Schulden gegen die neuen Zusagen, bleibt von der Hilfe netto praktisch nichts übrig. Nach Auffassung der Weltbank ist die Verschuldung heute das größte Hindernis für eine effektive Hilfe. Effektive Armutsbekämpfung muss deshalb Teil einer ressortübergreifenden Globalisierungsstrategie sein.

Erstens: Vor allen Dingen müssen den ärmsten Entwicklungsländern faire Handelsbedingungen gewährt werden. Der Norden muss seine für die Landwirtschaft – und damit für die Wachstumsprozesse – in der Dritten Welt tödlichen Exportsubventionen stoppen.
Gleichermaßen müssen endlich die Zollschranken für den Import von Agrar- und Industriegütern fallen. Im Schnitt werden landwirtschaftliche Importe aus Entwicklungsländern mit fünfmal so hohen Importzöllen wie entsprechende Produkte aus den Industrieländern belegt, für industrielle Importe erreicht die Zollbelastung das Vierfache. Die Verluste aus dieser Abschottung sind statistisch etwa doppelt so hoch wie die gesamte Entwicklungshilfe.

Zweitens: Die ärmsten Länder müssen umfassend entschuldet werden. Mehr Länder müssen zu realistischeren Bedingungen von der Entschuldung profitieren.

Drittens: Die Entwicklungsländer müssen in den internationalen Institutionen mitbestimmen können. Das gilt vor allem für den Internationalen Währungsfonds, in dem die sieben größten Industrieländer alle wichtigen Entscheidungen fällen und schon die USA allein diese blockieren können.

Viertens: Der Süden wird am schwersten von der globalen Klimaerwärmung betroffen sein. Eine wesentliche Ursache dafür ist, dass die Industrieländer exzessiv fossile Brennstoffe verfeuern. Die Länder des Nordens müssen deshalb eine effektive Klimapolitik umsetzen.

Fünftens: Die Entwicklungshilfe darf nicht mehr von Regierung zu Regierung fließen. Organisationen aus den ärmsten Ländern müssen bei Banken Kredite zu Vorzugskonditionen beantragen können, und diese Anträge müssen unter ausschließlich bankmäßigen Kriterien geprüft werden. Zusätzlich sollte fachliches Know-how vermittelt werden. Die Entmündigung hat ein Ende, die Eigeninitiative wird gefördert. Nur die besten Projekte kommen zum Zuge. Die aufgeblähte Entwicklungs!hilfebürokratie wird abgeschafft, das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit aufgelöst.

Klar, einen solchen Strategiewechsel kann nicht ein Land allein stemmen. Aber Deutschland könnte die notwendige Diskussion vorantreiben, insbesondere in Europa. Das von den deutschen Parteien, die allesamt die Globalisierungsdebatte verschlafen haben, zu erwarten, ist nicht zu viel verlangt.

Abwärts in die Armut

Hilfseinrichtungen klagen: Immer weniger Geld für immer mehr Arme

(aus Hinz&Kunzt 116/Oktober 2002)

Immer mehr Bedürftige stehen in Hamburgs Suppenküchen und Tagesstätten Schlange. Deshalb bräuchten die Hilfseinrichtungen eigentlich mehr Geld. Doch das Spendenaufkommen sinkt, und der Staat spart.

„Das ist nicht mehr normal“, sagt Marion Sachs. Früher, so die stellvertretende Leiterin von „Mahlzeit“, seien im Sommer 20, höchstens 40 Leute pro Tag zum Essen gekommen. Jetzt sind es 80. Klar, manche Einrichtungen haben in den Sommerferien geschlossen, die Bedürftigen verteilen sich auf das geschrumpfte Angebot. Aber: „So stark wie in diesem Jahr ist der Andrang im Sommer noch nie gewesen“, bestätigt Sonja Praß, Leiterin der Suppenküche „Alimaus“.
Viele ganz neue Gesichter seien darunter, viele Frauen und viele junge Menschen. Nicht alle seien obdach- oder wohnungslos, so wie früher. „Es kommen immer mehr Menschen, die mit dem Euro einfach nicht mehr hinkommen, und denen die Sozialhilfe gekürzt wurde“, sagt Praß. „Sogar Kinder laufen hier herum – zwischen den ganzen Haudegen“, so die 30-Jährige, die sich einen besseren Spielplatz vorstellen kann.

Womit der Anstieg der Hilfesuchenden zusammenhängen könnte, weiß Gabi Brasch, zuständig für sozialpolitische Projekte beim Diakonischen Werk: „Für die Menschen wird es immer schwieriger, ihre Notlage beim Sozialamt geltend zu machen“, sagt sie. Eingeschüchterte Hilfeberechtigte scheitern an Rezeptionen, Überforderte am Ausfüllen von Fragebögen oder an der schlichten Weisung: „Such dir einen Job.“ So fallen viele durch die Maschen des sozialen Netzes – und landen bei Hilfseinrichtungen.

Auch Uschi Hoffmann von der Stadtteildiakonie Harburg und Heimfeld beobachtet, dass nicht mehr nur Obdachlose auf Hilfe zurückgreifen müssen. „Es fragen unheimlich viele Leute nach Kleidung, die man vor Kurzem noch als normal situiert eingestuft hätte“, so Hoffmann. Darunter Familien mit Kindern, viele Menschen aus der unteren Mittelschicht.

Und die Diakonin glaubt, dass sich die Armuts-Spirale weiter abwärts dreht. Es werde immer schwieriger, die Menschen zu beraten. „Welche Perspektiven soll ich mit den Jugendlichen und Familien entwickeln?“, fragt sie angesichts fehlender Jobs und gestrichener Arbeitsbeschaffungs-Maßnahmen. Hoff- mann: „Den Leuten wird jede Chance genommen. Wenn das so weiter geht, züchten wir uns amerikanische Verhältnisse heran – oder schlimmeres.“

Für Sabine Vetters, Koordinatorin des Vereins Hilfspunkt (alter Name: Armenhilfe), ist die Entwicklung eindeutig: „Die Armut verfestigt sich.“ Seit fast zehn Jahren beobachtet die 44-Jährige, dass sich immer mehr Menschen in den Suppenküchen zur Essensausgabe einfinden. „Wer sich erst mal traut, so ein Hilfsangebot anzunehmen, hat in der Regel einen langen Armutsweg hinter sich“, so Vetters. „Die Leute versuchen, den Schein der Normalität so lange wie möglich aufrecht zu erhalten.“

Ein Problem kommt selten allein: Eigentlich bräuchten die Hilfseinrichtungen mehr Geld, um mit den steigenden Besucherzahlen fertig zu werden. Doch seit Anfang des Jahres gibt es einen drastischen Spendeneinbruch. Rund 55 Prozent weniger Spenden gingen im Vergleich zum Juli des Vorjahres bei „Mahlzeit“ ein. Und Sonja Praß vom Verein „Alimaus“ dachte beim Blick auf den Kontostand schon im März: „Noch ein Monat und wir sind pleite.“
Die 30-Jährige begann daraufhin, wie wild die Werbetrommel zu rühren. Das machte sich kurzfristig bezahlt. Doch der Erfolg wird nicht von Dauer sein. Selbst große Verbände verzeichnen im Vergleich zum ersten Halbjahr 2001 einen Spendenrückgang – trotz schlagkräftiger Öffentlichkeitsarbeit: 10 bis 15 Prozent sind es bei der Caritas, 6 Prozent beim Diakonischen Werk.

Kleine Vereine wie die Alimaus, die – wenn überhaupt – nur eine Angestellte beschäftigen und sich ansonsten durch Ehrenamtliche über Wasser halten, haben weder Zeit noch Geld für Spendenwerbung. „Ich habe im Moment ja nicht mal eine Küchenleitung“, sagt Sonja Praß. Selbst stadtbekannten Projekten wie der Hamburger Tafel, in denen bis zu 130 Ehrenamtliche anpacken, droht die Luft auszugehen: Sie bekam rund 90 Prozent weniger Spenden, vergleicht man die Juni-Monate 2001 und 2002.

Die Begründungen der zum Teil langjährigen Unterstützer, warum sie ihre Zahlungen einstellen, spiegeln den Zustand der Gesellschaft wieder: Angst vor Jobverlust, Arbeitslosigkeit oder sogar das Abrutschen in die Sozialhilfe. „Die Mieten sind gestiegen, die Menschen müssen einen Zweitjob annehmen, bekommen oft nur noch Zeitverträge und müssen sich um Dinge wie ihre Altersversorgung auch noch kümmern“, nennt Michael Hansen, Referatsleiter für soziale Projekte bei der Caritas, weitere Gründe für die allgemeine Verunsicherung. „Und seit der Einführung des Euro ist obendrein vieles teurer geworden.“

Schon sieht Holger Hanisch vom Cafée mit Herz ein neues Problem auf sich und andere zukommen: „Viele Menschen sagen jetzt, sie hätten für die Opfer der Flutkatastrophe gespendet und könnten nicht noch mal was geben.“

Etliche Einrichtungen der Obdachlosen- und Armenhilfe, wie Alimaus, Mahlzeit, Cafée mit Herz oder Hamburger Tafel, finanzieren sich seit Jahren ausschließlich über Spenden und durch die Hilfe ehrenamtlicher Mitarbeiter. Vom Sparkurs der Sozialbehörde unter Senatorin Birgit Schnieber-Jastram (CDU) sind sie trotzdem betroffen: Die Straßensozialarbeit auf St. Pauli zum Beispiel wurde geschlossen, die im Karoviertel ist ebenfalls unbesetzt. „Die jungen Leute und die Punks, die damit ihre Anlaufstellen verloren haben, die sitzen jetzt zusätzlich bei uns“, sagt Holger Hanisch vom Cafée mit Herz. Die Besucherzahl in der Tagesaufenthaltsstätte stieg von täglich 100 Menschen auf bis zu 180 in diesem Sommer.

„Man kann freiwilliges Engagement zwar fördern, aber man darf den Bogen auch nicht überspannen“, kritisiert Michael Hansen die Sparpolitik. Er fordert, dass der Staat den Projekten eine solide finanzielle Basis ermöglicht. Die Stimmung bei den Hilfsprojekten sei inzwischen vermiest: „Selbst wenn die Behörde einem Projekt etwas geben würde: Man muss ja ständig Angst haben, anderen das Geld wegzunehmen.“
Übrigens: Hansen sorgt sich um die Zukunft der „Mobilen Hilfe“. Das Arzt-Mobil für Obdachlose bekam 65 Prozent weniger Spenden.

Annette Bitter