Interview mit Cäthe : „Komplizierte Menschen brauchen einfache Lösungen“

Das Markenzeichen von Cäthe: eine markante, fast raue Stimme. Die Sängerin steht für energische Liveauftritte und Songs, die aus dem Herzen sprechen. Im Gespräch lernt man eine sehr nachdenkliche Künstlerin kennen.

Hinz&Kunzt: Cäthe, du engagierst dich für viele soziale Projekte. Warum?
CÄTHE: Meine Mutter ist Altenpflegerin, ein Beruf, der wahnsinnig anstrengend und zugleich unterbezahlt ist. Ich hab ihr früher in den Sommerferien geholfen und bekam ein erstes Gespür für soziales Engagement. Und dann hatte ich ein Schlüsselerlebnis: Ich ging mit meiner Mutter nach dem Einkaufen durch die Stadt, und auf der Straße saß ein Obdachloser. Ich hatte noch Geld von meinem Einkauf über, aber erst meine Mutter musste mich darauf aufmerksam machen, dass man, wenn man Geld über hat und eine andere Person Hilfe braucht, dieses Geld teilen sollte. Heute kann ich mich sehr gut in Menschen einfühlen, die am Boden sind. Ich habe durchaus Krisen in meinem Leben gehabt, habe mich immer wieder hochgekämpft. Es kann so schnell passieren, dass man abrutscht.

Wie hast du das konkret erlebt?
Ich bin 2005 mit nur zwei Koffern nach Hamburg gekommen. Ich wusste nicht wohin, ich wusste nur, dass ich in dieser Stadt leben wollte. Ich habe nach einem Job gesucht und keinen gefunden, wusste an manchen Abenden nicht, wo ich hinkonnte. Schließlich konnte ich bei jemandem einziehen, den ich da noch gar nicht richtig kannte. Ich hatte Glück, dass es gut gegangen ist. Aber um zu wachsen, muss man risikofreudig sein. Was nicht einfach ist, wenn man jung ist und die Grenze noch nicht kennt, ab der es gefährlich wird.

„Indem man anderen hilft, hilft man sich selbst“

Cäthe, was ist für dich Nächstenliebe?
Wow – Nächstenliebe! Nächstenliebe ist für mich mit das Wichtigste überhaupt im Leben. Durch Nächstenliebe lernt man, sich selbst zu lieben. Nächstenliebe ist, dem Menschen gegenüber zuzuhören und ihn anzunehmen, wie er ist. Es ist nicht einfach, selbstlos zuzuhören, ohne zu urteilen und gleichzeitig dem anderen nicht nach dem Mund zu reden. Jemandem zuzuhören bedeutet nicht, auch eine Lösung für dessen Probleme parat zu haben. Jeder ist für sich selbst verantwortlich. Was man aber tun kann: Anteilnahme zeigen und jemanden dadurch aus einem Loch holen, in dem er sich verlassen und haltlos fühlt. Das Ganze ist ein Kreislauf: Indem man anderen hilft, hilft man auch sich selbst.

Du strahlst vor Energie, aber Hochgefühle haben oft ihr Gegenstück. Wie gehst du mit negativen Gefühlen um?
Natürlich habe auch ich viele Ängste und Selbstzweifel. Früher hatte ich das Gefühl, manches von mir verstecken zu müssen. Doch sich zu verschließen ist nicht die Lösung. Ich bin so, wie ich bin, und das ist okay. Wichtig ist auch, dass ich mich nicht isoliere, wenn es mir schlecht geht. Ich suche Kontakt zu Freunden und tausche mich mit ihnen aus. Natur hilft mir sehr: ein langer Spaziergang, in einem Park unter einem Baum zu sitzen. Manchmal fühle ich mich entwurzelt. Wenn ich mir dann die Wurzel eines Baums vorstelle und diese unter mir spüre, hilft mir das unglaublich.

Was kannst du jemand anderem beibringen?
Zurückzulächeln.

Was ist das schönste Geräusch, das du mit eigenen Ohren gehört hast?
Es gibt eine Stunde in der Nacht, in der die Vögel noch nicht singen und keine Autos mehr fahren. Wenn ich bis zu die- ser Stunde wach bleibe und an meinen Songs schreibe, dann genieße ich diese eine Stunde. Wenn die Welt den Atem anhält und man es vor Stille knistern hört, das ist das schönste Geräusch.

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In deinem neuen Song „So oder so“ heißt es: „Na gut, stell mir Fragen, die naiven und gewagten.“ Die gewagte Frage zuerst: Viele Menschen kommen an einen Punkt, an dem das Leben sie auf die Probe stellt. Wie sah dieser Moment bei dir aus?
Es gab eine Zeit in Hamburg, in der sich viele Beziehungen zu Menschen gelöst haben und das sehr schnell nacheinander. Das hat mich aus der Bahn geworfen. Ich konnte mir das nicht erklären und fing an, mich in Selbstmitleid zu suhlen. Dieses Selbstmitleid hat mir die Sicht auf das versperrt, was eigentlich passiert war: die Erkenntnis, dass es Zeit für mich war, weiterzuziehen. Es fällt mir nicht leicht loszulassen. Vor allem meine Vorstellungen und Erwartungen loszulassen und mich der Gegenwart zu öffnen.

Jetzt die naive Frage: Angenommen, du hast die Macht, etwas in der Welt zu verändern, was wäre das?
Das ist eine sehr schwere Frage. Ich versuche gerade, die Welt so zu akzeptieren, wie sie ist. Und nicht, sie zu verändern oder zu glauben, ich könnte das. Das Einzige, was ich verändern kann, bin ich. Ich kann meine Sicht auf die Welt verändern, kann im Kleinen etwas tun; rücksichtsvoll mit Menschen, Lebewesen und der Natur umgehen. Ich kann bei mir selber anfangen.

„In die Rolle der Cäthe zu schlüpfen tut mir gut“

Für was bist du jetzt gerade dankbar?
Ich war nie besonders religiös, habe aber gemerkt, dass ich mich lange gegen meine spirituelle Kraft gewehrt habe. Ich glaube, wenn man seine spirituelle Kraft findet, ist man bewusst dankbar. Gerade in letzter Zeit fühle ich mich, als wäre ich aufgewacht und bin dankbar dafür, dass ich da bin. Das gelingt mir nicht jeden Tag, aber ich versuche es. Auch wenn uns Dinge widerfahren, die unfair sind, kann man das als Aufgabe für sich selbst sehen, um daran zu wachsen. Das ist manchmal sehr schwer, aber ich glaube, das ist die einzige Wahl, die wir haben.

äthes musikalische VORBILDER sind Janis Joplin und Aretha Franklin – das passt zu ihrer Stimme. Überraschend: Auch die Chansons von Udo Jürgens waren stilbildend für die Musikerin, die mal mit Gisbert zu Knyphausen im Duo sang.
Cäthes musikalische VORBILDER sind Janis Joplin und Aretha Franklin – das passt zu ihrer Stimme. Überraschend: Auch die Chansons von Udo Jürgens waren stilbildend für die Musikerin, die mal mit Gisbert zu Knyphausen im Duo sang.

Auf der Bühne bist du die Sängerin Cäthe, im Alltag Catharina – wie bekommst du das zusammen?
Ich wollte immer gerne, dass es nur eine Person ist, die in mir rumwühlt und geistert. Aber das ist nicht so, und das ist auch sehr gut so. Daraus ziehe ich viele Vorteile für mich, weil ich mich als Cäthe so ausleben kann, wie ich es als Catharina gar nicht wollen würde. Auf der Bühne in die Rolle der Cäthe zu schlüpfen, das tut mir verdammt gut, genauso wie sie wieder abzustreifen, wenn ich wieder von der Bühne gehe.

Auf deiner Homepage schreibst du, dass du mit dem aktuellen Album ganz bei dir angekommen bist …
„Ankommen“ sagt man immer so gerne, aber ich denke, man erreicht immer nur ein nächstes Level in seinem Leben. Ich merke lange, bevor ich texte oder Musik aufnehme, dass etwas in mir reift. Mit jedem Kapitel in meinem Leben verändert sich das, andere Eigenschaften werden mir wichtiger, die Message, die ich erzählen möchte, ist eine andere. Das alles wächst sehr langsam, weil es von Herzen kommt. Sehr wichtig ist dabei, nicht zu hohe Erwartungen an sich selber zu stellen oder sich vorzustellen, was die anderen darüber denken werden. Der persönliche Beweggrund zählt. Du musst deiner Kunst Flügel verleihen. Wie diese aussehen, ist egal. Du musst sagen: Kunst – flieg! (breitet die Arme weit aus) Dabei kannst du es nicht beeinflussen, wohin sie fliegt, sie wird ihren Platz finden. Eine Frage, die sich jeder einmal stellen sollte: Lebe ich mein Leben oder das Leben eines anderen?!

Was wolltest du gerne schon immer einmal in einem Interview sagen?
Komplizierte Menschen brauchen einfache Lösungen. Viele Menschen fühlen sich nicht geliebt, kommen aber nicht auf die Idee, sich selber mit eigenen Armen ganz fest zu umarmen. Das sollte man sich zur regelmäßigen Übung machen. Egal wie dämlich das aussieht!

Text+Foto: Lena Maja Wöhler

Cäthes aktuelles Album heißt „Vagabund“ und ist bei DEAG Music erschienen

Artikel aus der Ausgabe:

Nie wieder Knast

Ab dem 1. August auf Hamburgs Straßen zu haben: unsere neue Ausgabe. Wie drei ehemalige Gefangene ihren schwierigen Weg zurück in die Freiheit fanden, erzählen sie in unserer Titelgeschichte. Plus: Hinz&Künztler fotografieren ihr Hamburg, eine Foto-Reportage aus dem Gängeviertel und vieles mehr.

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