Berühmt für einen Tag

Die BILD-Zeitung zeigt Obdachlose, wie man sie noch nie gesehen hat.

(aus Hinz&Kunzt 162/August 2006)

Für eine vierteilige Artikelserie kleidete die BILD-Zeitung Obdachlose neu ein. Beeindruckende Vorher-Nachher- Fotos zeigen, wie sich ein Mensch durch Kleidung verändert. Aber wie fühlt es sich für die Obdachlosen an, für einen Tag in Schale geworfen zu sein?

Tim Thorer trifft Sabrina bei der Aral-Tankstelle auf dem Kiez. Dort sitzt die 24-Jährige mit ihren Freunden – und trinkt. Deswegen spricht er sie an: Der Journalist sucht für eine BILD-Serie eine Obdachlose, die sich für die Zeitung umstylen lässt. „Sabrina war sofort begeistert mitzumachen“, erinnert sich Thorer. Sogar ihr Freund, der bei ihr sitzt, findet die Idee toll: „Sie hat das total verdient und wollte sowieso unbedingt mal shoppen gehen.“ Ein Luxus, den sie sich eigentlich nie leisten kann: Seit sie zwölf ist, nimmt sie Drogen. Sie startet mit dem BILD-Journalisten zu einem Tag, der – wie sie später sagt – einer der schönsten in ihrem Leben wird.

Zu diesem Zeitpunkt ist die Geschichte von Scanda bereits gedruckt. Und zwei Fotos: Einmal, wie alle die Hinz&Kunzt-Verkäuferin kennen, in bunten Klamotten, mit ihrem riesigen Rottweiler Sonic. Daneben Scanda in blütenweißem Kostüm, Lippgloss, lasziv zurückgelehnt, Schlafzimmerblick. „Für einen Tag zurück im Leben“ steht darüber. Scanda gefallen die Fotos: „Ich war ja erst skeptisch, weil es für die BILD ist.“ Im links-alternativen Schanzenviertel, in dem sich Scanda zu Hause fühlt, hat BILD eigentlich keinen guten Ruf. „Aber die Journalisten haben einen netten Eindruck gemacht, die Fotografin hat schon in der ganzen Welt fotografiert, mit der werde ich sicher auch mal einen Kaffee trinken.“ Also erzählte sie den Journalisten ihre Lebensgeschichte. Ihre Kindheit ohne Vater, der zur See fuhr. Wie sie nach Amsterdam ging, dort heroinabhängig wurde. Wie der Kontakt zu ihrer Mutter abbrach. Wie sie zurück in Hamburg zum ersten Mal auf der Straße schlief. Wie sie jetzt versucht, mit dem Heroinprogramm ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. „Verwahrlost. Heroinsüchtig. Vergessen in der Millionen- Metropole Hamburg“, textet die BILD darüber – ziemlich hart. Trotzdem findet Scanda den Artikel okay: „Natürlich bin ich nicht verwahrlost, aber das weiß ja jeder, der mich kennt.“ Und von ihren Fotos ist sie beeindruckt: „Das haben die superschön hingekriegt.“

Aber wie hat es sich angefühlt, plötzlich ganz anders auszusehen? „Klamotten sind mir sowieso wichtig, ich achte immer darauf, dass ich nicht heruntergekommen aussehe. Eigentlich sind Klamotten das Einzige, was mir von einem normalen Leben geblieben ist.“

Bei Hinz&Kunzt gibt es unterschiedliche Meinungen über die Serie. Die Lebensgeschichte, die unter den Fotos steht, finden alle beeindruckend. Die Autoren nehmen die Probleme der Wohnungslosen ernst: Drogensucht, schwierige Kindheit im Heim, Trennung vom Partner. Kein „selbst Schuld“, keine „Penner sind faul und leben vom Staat“, kein „Junkies raus aus der Stadt“. Über die Fotos lässt sich allerdings streiten. Warum jemanden umstylen, der eigentlich ganz andere Sorgen im Leben hat? Warum jemanden in schicke Klamotten stecken – und ihn dann wieder auf die Straße stellen? „Ich denke, die Teaser auf Seite fünf haben den Sinn der Serie klargemacht“, sagt Tim Thorer. Bei Sabrina steht da: „Hey, findest du mich schön? Möchtest du mich vielleicht auf einen Kaffee einladen? Ja? Seltsam. Sonst hast du mich nicht mal angeguckt, wenn ich dir zugelächelt habe.“

Damit niemand mehr an Sabrina vorbeigeht, muss einiges an Aufwand betrieben werden. Zuerst geht es zu einem Szenefriseur in der Innenstadt. Erst waren die dort gar nicht begeistert, erinnert sich Thorer. Aber je weiter Sabrinas Verwandlung fortschreitet, desto mehr tauen die Friseure auf. Am Ende nehmen sie sich fast zwei Stunden Zeit, einer flirtet sogar ein bisschen mit Sabrina. „Das war ein junger Portugiese, der hat sie die ganze Zeit ‚Lady‘ genannt, das fand sie natürlich ganz toll.“ Thorer ist sich sicher, dass sich die Wohnungslose wohl gefühlt hat: „Sabrina war in der Zeit natürlich ziemlich unsicher, ist jedes Mal aufgesprungen, wenn jemand was zu ihr gesagt hat.“ Aber unangenehm oder peinlich sei ihr die „Generalüberholung“ nicht gewesen.

Fotografin Lena Nielsen fotografiert den Drogenabhängigen Claus für die Serie. „Er ist uns richtig ans Herz gewachsen, uns war wichtig, dass ihm geholfen wird“, erinnert sich Nielsen. Im Text steht, dass der 43-Jährige spart, um seine Zahnprobleme behandeln lassen zu können. Nachdem der Artikel gedruckt ist, ruft ein Zahnarzt in der BILD-Redaktion an. Er bietet Claus an, seine fehlenden Zähne umsonst zu richten. Lena Nielsen ist begeistert, als sie davon erfährt. Aber Claus erscheint nicht beim Zahnarzt. Vielleicht hat er Angst gekriegt. Oder sich geschämt, das Angebot anzunehmen. Oder er wollte nicht als Obdachloser im Wartezimmer neben den „Normalen“ sitzen. Tausend Gründe sind möglich. Der Zahnarzt wartet umsonst, ist wütend und zieht das Angebot zurück. Und Lena Nielsen geht die ganze Sache ziemlich nah, ratlos fragt sie: „Hätten wir ihn an die Hand nehmen sollen und zum Zahnarzt begleiten?“

Für Sabrina ist vor allem Shopping bei H&M ein Erlebnis. Begeistert spricht sie andere Kundinnen an, redet über Mode. „Ich bin doch auch nur ein Mädchen“, sagt sie. Thorer gefällt der Satz so gut, dass er ihn fett an den Anfang seines Artikels setzten wird. „Das mag vielleicht arrogant klingen, aber ein bisschen habe ich mich wie der Weihnachtsmann gefühlt“, so Tim Thorer. Da noch ein Kettchen, hier noch ein Accessoire – der Trip zu H&M macht beiden Spaß. Sein Artikel endet mit den Sätzen: „Sabrina kann sich nichts leisten. Doch sie hat Liebe und Hoffnung. Und die gibt es umsonst.“

Frances sieht Shopping und Hairstyling abgeklärter: „Als ich die Preise gesehen habe, wäre ich fast vom Stuhl gekippt. Was für eine Geldverschwendung!“ Aber auch der 46-Jährige lässt sich neu einkleiden. „Aber nur, weil das zwei so nette Mädels waren, die gefragt haben“, sagt Frances. Nur mal kurz ein paar Fotos wollten die machen. „Aber als die dann die riesige Kamera rausgeholt hatten, wusste ich schon, dass daraus was Größeres wird“, amüsiert er sich. Frances kommt aus Belfast, 1993 zerbrach seine Ehe, seine Frau hat ihm den Kontakt zu seinen Kindern verboten. Frances kündigte seinen Job, beendete sein ganzes altes Leben und begann, in der Welt herumzureisen.

Er genießt dieses Leben: Er nimmt keine illegalen Drogen, trinkt nur Bier. „Frances ist ein Lebemann der Straße“, schreibt die BILD, der sich im Hamburger „Sommer-Hotel“, wo man nachts unter den Sternen liegt „eingemietet“ hat. Nur der fehlende Kontakt zu seinen Töchtern belastet ihn. Weihnachten hat er eine Karte von seinen Kindern bekommen. „Wir vermissen dich“, stand drauf. Er hat zurückgeschrieben und die Adresse eines befreundeten Sozialarbeiters angegeben. Er ruft ihn oft an, ob sie sich wieder gemeldet haben – bisher ist das noch nicht geschehen.

Mit dem Ergebnis in BILD ist er zufrieden: „Als ich das Foto das erste Mal gesehen habe, dachte ich: So hast du vor ein paar Jahren ausgesehen“, sagt Frances, „aber ich gefalle mir auf dem Foto mit meinen normalen Sachen besser.“ Schließlich passen die zu dem Leben, für das er sich entschieden hat. Eigentlich wollte er das graue Jackett von BILD nicht behalten: „Soll ich damit auf der Straße hocken? Ist doch Blödsinn!“ Er versteckt die Klamotten, will sie irgendwann verschenken.

Wird für Sabrina mehr als eine schöne Erinnerung von der BILD-Aktion bleiben? Dem BILD-Journalisten beschreibt sie ihren Traum, von den Drogen wegzukommen und mit behinderten Kindern zu arbeiten. Ist das realistisch? „Sie hat einen starken Eindruck gemacht. Ich glaube schon, dass sie das schaffen kann“, sagt Tim Thorer.

Marc-André Rüssau

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