Bei Motte in der Lehre

Schriftstellerin Dagmar Seifert recherchierte bei Obdachlosen für ihr Buch „Der Winter der Libelle“

(aus Hinz&Kunzt 135/Mai 2004)

Dagmar Seifert ist wieder da. An dem Ort, an dem sie vor ein paar Monaten gebettelt hat. „Hier saß ich“, sagt sie und schaut sich am Mönckebrunnen um. Hinten auf der Bank sitzen die von immer, palavern und trinken ein Bierchen in der Sonne. Motte, ein Hinz & Kunzt-Verkäufer, hatte die Schriftstellerin damals unter seine Fittiche genommen.

Und Motte hatte ihr gezeigt, wo sie sich hinsetzen und wie sie sich verhalten sollte. „Dann stellte er sich drüben in den Eingang der Landesbank-Galerie und verkaufte seine Zeitungen, aber er hatte mich immer im Blick“, sagt Dagmar Seifert. Überhaupt, die Obdachlosen, die sie kennen gelernt hat, seien vor allem eines gewesen: „aufrichtig und liebevoll“.

Die Zeit des Bettelns ist für die Mittvierzigerin vorbei. Denn sie hat ihr Ziel erreicht: Die Recherche für ihren Roman „Der Winter der Libelle“ ist abgeschlossen, das Buch liegt schon in den Regalen. Hauptperson ist Lilly, eine Frau aus besseren Kreisen, die Kunstgeschichte studiert hat, den Tag mit Shopping und einem Liebhaber verbringt und mit dem berühmten Psychotherapeuten Norbert verheiratet ist. Doch plötzlich steht Lilly, die sich immer gerne auf andere verlässt, buchstäblich auf der Straße: schwanger von ihrem toten Geliebten, verfolgt von ihrem rachelüsternen Mann – ohne einen Pfennig Geld. Hilfe bekommt sie von den Experten der Straße, den Obdachlosen. Und damit dieser Teil des Romans möglichst echt wirkt, recherchierte Dagmar Seifert in der Szene, unter anderem bei Hinz & Kunzt. Neben Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer standen ihr auch die Verkäufer Motte und Elke Rede und Antwort und wurden Teil der Geschichte. „Ich habe tolle Leute kennen gelernt“, sagt die Schriftstellerin. Und: „Mit Elke verbindet mich heute sogar eine Freundschaft.“ Die will sie auf jeden Fall erhalten.

Wer Elke kennt, wird sie unschwer im Buch als „Heike“ wieder finden. Und Elke und den anderen Beratern ist es wohl auch zu verdanken, dass der Roman überraschend realistisch geworden ist. In der ursprünglichen Fassung gab es beispielsweise die Figur des Professors. Einen Mann, der früher an der Universität beschäftigt war und nach dem Tod seiner Frau abrutschte. Im Manuskript sucht ihn seine Tochter und nimmt ihn mit nach Hause – Happy End für den Professor. „Völlig illusorisch“, fand Elke bei der Erstlektüre, dass sich der alte Mann noch mal derartig anpassen und damit glücklich werden könnte. Denn im wahren Leben, so Elke, klappen solche Arrangements meistens nicht. Zu unterschiedlich sind die Erwartungen und Erfahrungen. Dagmar Seifert nahm sich die Kritik zu Herzen. Im fertigen Buch geht der Professor zwar zu seiner Tochter, kommt aber nach ein paar Tagen zurück zu seinen Freunden auf die Platte.

Wie auch schon in ihrem Roman „Die Lavendelfrau“ ist der Ton locker, flockig – das Buch liest sich einfach so weg. Und für Lilly gibt’s ein Happy End. Dagmar Seifert weiß: Für viele ihrer neuen Freunde auf der Straße wird es das vermutlich nicht geben. „Trotzdem hatten viele Obdachlose mehr Hoffnung, als ich erwartet hatte – und viel mehr, als so manche Schickimickis, die im Café sitzen, teuren Capuccino schlürfen und vor sich hin quengeln.“

Große Berührungsängste mit Obdachlosen hat die Schriftstellerin nicht. Vielleicht liegt das am Verhältnis zu ihrem Vater, der „viel zu früh“ gestorben ist. „Im bürgerlichen Sinne“, sagt sie, „war er ein Versager: Er war gegen Ende seines Lebens Alkoholiker und wäre vielleicht später auch auf der Straße gelandet. Aber als Vater war er fantastisch.“

Sie fühlte sich von ihm immer behütet und im buchstäblichen Sinne getragen. „Vielleicht ist das auch der Grund, warum ich immer zuversichtlich bin“, sagt sie. „Ich habe mich zwar hin und wieder schon verzweifelt, aber nie machtlos gefühlt.“

Nach ihrer Scheidung etwa. So richtig wusste sie damals nicht, was sie tun sollte. „Meine innere Stimme sagte: ‚Geh aufs Land!‘“ Allerdings hatte die Journalistin und Autorin bis dato noch keinerlei Verbindung zum Landleben gehabt. Und die Frau, die ihr anbot, mit ihrem Sohn bei ihr, ihrem Rottweiler und ihrem Kater einzuziehen, war quasi eine Unbekannte. Ihre Freunde rieten ihr ab: „Du kennst die Frau doch kaum, und nachher fällt dir dort die Decke auf den Kopf.“ Und ihr Sohn, damals 13 Jahre alt, könnte eventuell Schwierigkeiten haben, neue Freunde zu finden. „Aber meine innere Stimme war stark“, sagt Dagmar Seifert. Sie zog aufs Land. Zum Glück.

Kaum angekommen meldete sich Dagmar Seiferts innere Stimme wieder zu Wort: „Tritt in den Schützenverein ein!“ Selbst als die Autorin das heute, Jahre später erzählt, scheint sie sich zu schütteln. „In den Schützenverein?!“, fragt sie sich entsetzt. Aber die innere Stimme blieb hartnäckig. Irgendwann gab Dagmar Seifert ihrem Drängen nach. Von da an pilgerte sie jeden Freitagabend zu den Treffen und lernte schießen. Ansonsten langweilte sie sich. Nicht mal die Idee zu einem Buch wollte sich entwickeln. Nach einem halben Jahr war sie kurz davor zu kapitulieren. Ein letztes Mal wollte sie noch hingehen. Doch genau da passierte etwas Merkwürdiges. Ein Mann, den sie noch nie gesehen hatte, saß da – und auf einmal waren die abendlichen Treffen keineswegs mehr langweilig.

Seit acht Jahren ist sie mit diesem Mann verheiratet. Ihr Mann ist der Krimi-Autor Delf Schulz. Und immer noch leben sie auf dem Land. Zwar ohne den inzwischen erwachsenen Sohn und die Wohngemeinschaftsgenossin, aber mit zwei Gärten, drei Aquarien, einer Katze und einem Bernhardiner. Über ihren Mann sagt Dagmar Seifert – und es klingt fast erstaunt: „Er ist der einzige Mann, der mir noch nie auf die Nerven gegangen ist.“ Und das, obwohl die beiden gemeinsame Projekte und ein gemeinsames Arbeitszimmer haben. Im Moment arbeiten sie an einem Roman über den Rembrandt-Schüler Jürgen Ovens.

„Ich bin für diese Beziehung unendlich dankbar“, sagt Dagmar Seifert. Vor allem darüber, dass sie sich nach all den Jahren immer noch so viel zu erzählen haben. „Unsere Ehe ist eigentlich ein ununterbrochener Dialog.“

Birgit Müller

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