Barmbek vor der Kamera

Lokalfernsehen im Internet: Ein Team von Kampnagel filmt die Bewohner des Stadtteils

(aus Hinz&Kunzt 177/November 2007)

„Guten Tag, wir sind von barmbek.tv, dürfen wir reinkommen?“ So beginnt der unangemeldete Hausbesuch bei Kurt Möbius. Etwas verdattert führt der 84-Jährige das Kamerateam in seine Küche. Und beginnt zwischen Kuckucksuhr und Wachsdecke zu erzählen. Über Jugendliche, die es heute schwerer haben als früher. Die Probleme mit der Kriminalität, wegen dem „ganzen Multikulti“ und der hohen Arbeitslosigkeit. Vom traurigen Tod von Lady Di. Dem „Dritten Reich“: „Diese Judenverfolgung … So viele unschuldige Menschen“, dann wird seine Stimme brüchig, Möbius schießen die Tränen in die Augen. Am Ende packt er sein Akkordeon aus, spielt für die Zuschauer. Neun Minuten Video, Möbius pur. Im Fernsehen wäre nie so viel Raum für ihn gewesen. Aber barmbek.tv überträgt im Internet.

Herzstück der Internet-Seite ist eine Karte des Stadtteils. Fast 100 Punkte sind bisher darauf markiert, jeder steht für ein Interview mit einem Barmbeker. Jeder Punkt lässt sich anklicken – dann startet das Video. Seit einem viertel Jahr fahren acht Künstler im Auftrag von Kampnagel in einem zum mobilen Aufnahmestudio umgebauten Kleintransporter durch den Stadtteil. Und lassen jeden zu Wort kommen: Wohnungslose aus dem Containerdorf an der Hamburger Straße. Junge Hip-Hop-Tänzer. Migranten. Sprechen mit einem Schüler mit Kurzhaarschnitt, der zur Bundeswehr gehen will. Auch Fragwürdiges schaffte es auf die Internetseite, wie ein Graffiti-Sprayer, der über sein mitunter illegales Hobby referiert. Es wird philosophiert, gemeckert, erzählt. Unkommentiert, ungefiltert.

Initiiert hat das Projekt die neue Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard. „Als ich zu Kampnagel gekommen bin, dachte ich, jetzt musst du erst mal gucken, wo das eigentlich liegt. Und ohne barmbek.tv hätte ich auch nach fünf Jahren den Stadtteil nicht so gut gekannt.“ Eigentlich hätte Kampnagel winterhude.tv machen müssen – denn da befindet sich das Theater trotz Grenzlage eindeutig. „Weil wir in einem ehemaligen Fabrikgebäude sind, fühlen wir uns natürlich mit dem Arbeiterstadtteil mehr verbunden“, erklärt Deuflhard. Gefördert wird barmbek.tv vom Senatsprogramm Lebenswerte Stadt – durch das Projekt soll das Image und das Wir-Gefühl im Stadtteil aufgebessert werden.

Wichtig war Deuflhard, dass es ein Projekt wird, bei dem die Barmbeker mitmachen können. „Bei der Präsentation auf der Leinwand waren ganz viele Menschen auf Kampnagel, die sonst kaum ins Theater gehen“, sagt Deuflhard. „Und durch den Bus war Kampnagel im Stadtteil präsent.“

Die Künstlergruppe „anschlaege.de“ aus Berlin setzt das Projekt um. Die kannten Deufelhard aus ihrer Zeit im Palast der Republik und hatten schon Erfahrung mit Internet-Kunst: „Wir haben mit zickzack.tv ein ähnliches Format für Berlin gemacht“, sagt Axel Watzke, Mitglied der Gruppe.

„Zu Beginn gab es einige Vorbehalte aus dem Stadtteil – warum da jetzt Berliner kommen, um den Barmbekern zu erklären, wie sie sind?“ Um diesem Vorwurf zu entgehen, lassen die Berliner die Barmbeker völlig unkommentiert zu Wort kommen. „Redaktionelle Eingriffe gibt es kaum.“ Auch wenn es manchmal schwerfällt.

Bauchschmerzen machen ausländerfeindliche Statements: „Trotzdem ist es wichtig zu sehen, dass solche Parolen nicht von Glatzen, sondern eben auch von Menschen kommen, denen man das nicht ansieht“, sagt Watzke. „Durch die Masse der Videos relativieren sich diese Aussagen dann.“

Noch warten etwa 50 Videos auf die Veröffentlichung. Wie es danach weitergeht, steht noch nicht fest. „Es wäre schön, wenn daraus eine regelmäßige Einrichtung würde“, sagt Watzke.

Und wie ist der Barmbeker nun? Watzke überlegt. „Dieses ‚Barmbek basch‘ stimmt schon.“ Basch bedeutet eigentlich derb oder rüpelhaft – so sahen die feineren Stadtteile das Arbeiterviertel. Mittlerweile sind die Barmbeker strolz drauf, für sie meint basch auch ehrlich. Am besten erklärt das Stadtteilbewohner Thomas Gaerte in einem der Internet-Interviews: „Ich sag zu jemandem Arschloch – und dann meine ich das auch!“

Marc-André Rüssau

Weitere Artikel zum Thema