Barmbek tanzt

Wo es Oma krachen lässt: In der „Piste“ geht die Musik noch direkt in die Beine

(aus Hinz&Kunzt 170/April 2007)

Das zweigeschossige Haus duckt sich im Gewerbegebiet neben der U-Bahn-Station Hamburger Straße. Rosa leuchten Neonröhren in die Nacht. An der Tür ein Herz, darunter der Name des Etablissements: „Die Piste“. Wenn man den Besitzer einer der Garagen nebenan fragt, was das denn sei, ’ne Disko oder gar was Schlimmeres, dann sagt er ganz lapidar: „Die verdienen ihr Geld da drin mit Rentner-Schieben – Tanztee und so.“ Das klingt nach betulichem Seniorenabend. Das ist aber falsch. Denn mit allem nötigen Respekt: Hier lässt es Oma richtig krachen.

Ferdinand Weber schlendert ins Tanzlokal. Zweimal die Woche, Freitag und Samstag, schlüpft der 61-Jährige in sein Rüschenhemd, legt den Kummerbund an und bindet die Fliege um. Ein Lebemann. „Heiraten ist Luxus, den kann ich mir nicht leisten“, scherzt der überzeugte Junggeselle. Verheiratet war er nie, will er auch nicht. Warum auch? „Hier habe ich doch die freie Auswahl.“ Der Lagerarbeiter kommt aus dem hippen Schanzenviertel nach Barmbek-Süd: „Publikum und Musik sind hier netter.“

Es ist 17 Uhr. Aus den Boxen erklingt „La Bamba“, tanzbar als Bossa Nova. Langsam füllt sich die Tanzfläche. Diskolichter huschen über Boden und Tänzer. Mit dabei sind Ilse und Dieter Fischer. „Wir sind jetzt seit 40 Jahren verheiratet. Aber wenn wir tanzen, ist alles noch wie früher. Dann flüstert mir meine Frau manchmal ‚Ich liebe dich‘ zu“, freut sich Dieter Fischer.

Yvonne schenkt hinter der Theke „Saure“ in Schnapsgläser. Sie mag den Job im Tanzlokal – keine Probleme mit betrunkenen Verehrern wie in anderen Diskos. „Die alten Herren werden niedlich, wenn sie was getrunken haben, aber nie aggressiv.“ Nicht, dass die 29-Jährige Probleme hätte, sich zu wehren. Als „Runningback“ und „Linebacker“ spielt sie American Football in der Bundesliga. Vorher war sie Eiskunstläuferin: „Aber ich hatte auch mal Lust, zu schubsen und zu drängeln.“

Auftritt Franz Heinz Gensterblum. „Du weißt ja, was ich will“, ruft der 81-Jährige Yvonne über den Tresen zu. Immer nur Wasser – Alkohol rührt der Mann im eleganten hellen Anzug nicht an. Auf seine Erscheinung legt er Wert, 20 Anzüge hängen bei ihm im Schrank. Europameister im Minigolf war er, verkündet eine goldene Plakette an seinem Revers. Damals, in Rotterdam – sein größter sportlicher Erfolg. Jetzt spielt er schon seit 20 Jahren nicht mehr: „Minigolf, das ist was für Junge, die Mut haben.“

Jeden Sonnabend kommt er in die „Piste“. Nur tanzen kann er heute nicht. „Schau dir meine Schuhe an!“, sagt er und guckt an sich herunter. Normale Straßenschuhe. „Irgendwie habe ich vergessen, dass heute Tanz ist.“ Mit den Tagen kommt er manchmal durcheinander: „Der stand schon mal aufgebrezelt am 30. Dezember vor der Tür, um Silvester zu feiern“, flüstert Harry, der mit Yvonne heute den Tresen macht. Sei’s drum, mit dem Alter werden auch die Lebensmottos deftiger: „Ich sag immer: Leckt mich am Arsch, nach mir die Sintflut“, meint Franz Heinz Gensterblum.

Helga Thom ist heute zum zweiten Mal in der „Piste“, zusammen mit einer langjährigen Freundin, die eben von Junggeselle Ferdinand Weber zum Tanz aufgefordert wurde. Vorher gingen die Freundinnen in ein Tanzcafé im Tropengarten in Planten un Blomen. Vergangenes Jahr ist da eine Eisdiele reingekommen. „Das haben viele bedauert“, sagt sie.

Gertrud „Traudel“ Jerwitz holt bei Yvonne Getränke und lässt ordentlich Trinkgeld da. „Ich habe heute meinen sozialen Tag“, lacht sie. Die 78-jährige Osdorferin kommt seit 20 Jahren. „Ich will auch ein bisschen lustig sein, unterhalten werden.“ Ihr Mann verstarb früh, seither lebt sie allein.

Nun könnte Gertrud Jerwitz’ Geschichte von Einsamkeit im Alter handeln. Aber dafür ist sie einfach zu abenteuerlustig. Mit einer guten Freundin macht sie Reisen, nach Monaco, Österreich, Tirol. Und sonnabends eben in die „Piste“. An Männern hat sie da kaum Interesse: „Nur wenn ich den richtigen Partner finden würde, der mich akzeptiert, wie ich bin, der nett und lustig ist, wie ich ihn schon mal hatte, dann vielleicht.“

Kurt Möbius meckert über den DJ. „Volkstümliches“ wünscht er sich, wie „‚Die Fischerin vom Bodensee‘ – wunderbarer Rhythmus“. Mehrfach hat er schon versucht, den DJ umzustimmen: „Aber die lassen sich ja nicht reinreden. Halten sich nun mal für Künstler.“ Trotzdem: Der 84-Jährige kann sich seine Wochenenden ohne die „Piste“ kaum noch vorstellen. Er hat es auch nicht weit, wohnt gleich um die Ecke. Seine Begleitung, Annemarie Schwientek, hat da schon eine längere Anreise: Sie kommt aus der Lüneburger Heide. Kennengelernt haben sie sich beim Tanzen: „Ich kannte schon ihre Mutter vom Tanzen.“ Läuft da etwa mehr? „Wir sind gute Bekannte. Ein Freundschaftspaar“, erklärt er. Dann gibt er ihr einen Kuss. Auf den Mund.

[BILD=#piste3][/BILD]Seit zehn Jahren kennen sich Ilse Siegler und Manfred Hennings, verlobt sind sie auch. Kennengelernt natürlich beim Tanzen – wenn auch nicht in der „Piste“, sondern in Harburg. Dort leben beide. Zusammengezogen sind sie nicht. „Aber wir wohnen nur zehn Minuten auseinander, er radelt jeden Tag zu mir“, sagt die 70-Jährige. Auch sie sind Stammgäste in der „Piste“. „Sollen wir denn nur zu Hause rumhocken?“, fragt der 71-Jährige. „Wir kennen hier auch praktisch alle mit dem Vornamen“, ergänzt seine Verlobte. Mit Helga Stalft, die neben dem Paar sitzt, ist sie auch schon einige Zeit befreundet. Auch sie kann eine Liebesgeschichte vom Tanztee erzählen: Sie hat ihren zweiten Mann in der „Piste“ kennengelernt. Vier Jahre war sie mit ihm zusammen, bevor er starb.

So jung, dass sie auffällt: Steffi ist erst 36 – halb so alt wie viele andere Gäste. Steffi stört das gar nicht: „Ich gehe hier hin, um Schlager zu hören und zu tanzen – nicht um Männer kennenzulernen.“ Schließlich ist sie verheiratet. So hat ihr Mann schon mal keinen Grund, eifersüchtig zu sein. Auf die Idee brachte sie ihre Mutter: „Die kommt heute vielleicht noch nach.“

Marc-André Rüssau

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