Obdachlose kehren heim : Polens verlorene Söhne

In Hamburg Geld machen, sich ein besseres Leben erarbeiten – davon träumen viele Männer in Polen. Doch oft endet die Reise in Obdachlosigkeit. Wer es nicht allein schafft, dem hilft der Verein Barka bei der Rückkehr nach Hause. Wir haben Heimkehrer besucht.

„Das passt nicht zu Pawel, einfach wegzubleiben“, sagt Oksana Bamburska, Pawels Frau. „Wir hatten zwei Mal pro Woche telefoniert.“ Und plötzlich hörte sie nichts mehr. Als er an Weihnachten nicht wie versprochen zu Besuch kam, ist sie fast wahnsinnig geworden vor Sorge.Ein paar Wochen später hat sie ihn wieder. Sie hat sich auf die Suche nach ihm gemacht, als er auf den Straßen Hamburgs verschollen war. Und hat ihn zu sich zurückgeholt. Nach Hause, in ihre gemeinsame Einzimmerwohnung in Szczecin (Stettin).

Er sitzt auf dem Sofa, das sie abends zum Schlafen ausklappen. Seit fünf Tagen sitzt er so da, seit er aus Hamburg zurückgekommen ist. Der Fernseher läuft, seine Augen sind leer, es gibt heißen schwarzen Tee. Pawel Szostak ist 35 Jahre alt, er sagt: „Jetzt bleib ich zu Hause. Mit Hamburg, überhaupt mit dem Ausland, hab ich abgeschlossen.“

Dabei hat er vergleichsweise
wenig Zeit auf der Straße verbracht. Nicht einmal zwei Monate. Es war der 28. September, als Pawel Szostak mit dem Zug nach Hamburg kam. Mit vier anderen Polen sollte er ein Einfamilienhaus am Rande der Stadt renovieren, drei Monate lang. Nichts Neues, das letzte Mal war er für drei Monate auf Mallorca gewesen, die Schwarzarbeit im Ausland rentierte sich mehr als der mickrige Lohn zu Hause auf dem Bau.Der Mann, der sie beschäftigte, hieß Bogdan, sagt Szostak. Sie arbeiteten 13 Stunden am Tag, am Ende winkten 4000 Euro. Doch daraus wurde nichts. Als die Polizei eines Morgens einen von ihnen total besoffen neben der Baustelle fand, bekam Bogdan Panik und verscheuchte die anderen.

„Ich habe Bogdan
immer wieder angerufen, ihm auf die Mailbox gesprochen, wo bleibt das Geld?“ Bogdan rief nicht zurück. Seine Frau ist Polizistin und Szostak vermutet, die Sache sei ihm zu heiß geworden. Als Szostak Mitte November auf der Straße auch noch die Tasche geklaut wurde, mit Klamotten, Handy und seinen Papieren, war er plötzlich ganz unten – und meldete sich aus Scham auch nicht mehr bei seiner Frau Oksana in Szczecin.

Die ging am 26. Dezember
zur Polizei. Am 9. Januar bekam sie einen Anruf. Pawel Szostak sei in der Tagesaufenthaltsstätte Herz As gesehen worden. Oksana Bamburska fand die Internet-Adresse, rief dort an, versuchte sich an ihren paar Brocken Deutsch. Man gab ihr die Handynummer von Stanis­law Szczerba, einem Streetworker, der im Auftrag des polnischen Vereins Barka auf Hamburgs Straßen unterwegs ist, um osteuropäische Obdachlose anzusprechen. „Innerhalb von zwei Tagen finde ich Ihren Mann, das verspreche ich Ihnen“, sagte er zu ihr. Am nächsten Morgen saß Pawel Szostak bereits im Zug nach Szczecin. Szczerba hatte ihm Mineralwasser und belegte Brote mitgegeben.

Ein paar Tage
braucht er noch, sagt er. Zum Ausruhen. Dann will er sich hier in Szczecin eine Arbeit suchen, irgendwo auf dem Bau. „Es ist mir egal, dass ich dann weniger verdiene. Hier lebt meine Familie. Das ist wichtiger.“

Nicht alle, die wie Pawel Szostak im Ausland stranden, haben eine Frau, die um sie und ihre Rückkehr kämpft. Wer niemanden hat, dem hilft, wenn er Glück hat, Barka in einem Dorf namens Chudobczyce, 60 Kilometer von Poznan (Posen) entfernt. Hier nehmen 70 Männer die Herausforderung vermeintlich banaler Dinge an: morgens aufstehen, einer einfachen Arbeit nachgehen – und bloß nicht wieder zur Flasche greifen.

Sie leben gemeinsam
in einem Plattenbau, etwas abseits von den wenigen Häusern von Chudobczyce. Die Männer haben auf der Straße gelebt, jahrelang, in Hamburg, Dublin, London, Wrocław (Breslau), Gdansk (Danzig) oder Warszawa (Warschau), und sie sind Alkoholiker. Jetzt teilen sie sich zu mehreren ein kleines Zimmer, sie essen gemeinsam im Keller. Umgeben von: nichts. Getreidefelder umschließen das 460 Hektar große Areal, das sich „Integrationszentrum Barka“ nennt. Das Besondere: Keiner hier wird integriert, die Bewohner integrieren sich selbst. Raus aus dem Obdachlosen- und Alkoholikerleben, rein in einen strukturierten Alltag und eine Gemeinschaft.

Mariusz Pawlik
ist 30 Jahre alt, und wie den meisten hier stehen ihm gut zehn Jahre mehr ins Gesicht geschrieben. Seit einem Jahr wohnt er in Chudobczyce, seit er gemerkt hat, dass er keine Kraft mehr hat für die Straßen von Wrocław. Normalerweise ist Pawlik hier für die Felder zuständig, er fährt mit dem Traktor raus und bestellt sie. Jetzt liegt Schnee auf ihnen, es sind vier Grad unter null, deshalb füttert er die Schweine.

Arbeit und ein geregelter Alltag
sind die Prinzipien der Leute von Barka, die sich zum Ziel gesetzt haben, Obdachlose wieder in die Gesellschaft zu integrieren. „Das ist gar nicht so einfach“, sagt deren Leiter Tomasz Flinik. „Wer Jahre oder sogar Jahrzehnte ganz unten war, kann nicht innerhalb von ein paar Wochen wieder Struktur in sein Leben bringen.“ Bei den meisten dauere es Monate bis Jahre, bis es für sie zur Normalität geworden ist, morgens aufzustehen. Wer einmal alles wollte und mit nichts zurückkam, hat es eben besonders schwer. „Die Menschen lernen hier Bescheidenheit. Und dass eine Gemeinschaft, einfache Arbeit und miteinander essen mehr bedeuten kann als die große weite Welt, die ihnen so oft in den Arsch getreten hat.“

Zu tun gibt es genug.
Feldarbeit, Gemüseanbau, Ställe ausmisten, die Tiere füttern. Auf dem Barka-Gelände gibt es 600 Lämmer und 60 Schweine, die lebend verkauft werden. Gemüse wird ohne Chemie angebaut. Die 200 Ziegen im Stall haben es besonders gut: Klassik läuft hier aus den Boxen. Chopin. Walzer für Klavier. Geplant ist sogar eine eigene Nudelfabrik. „Unser Ziel ist es, uns selbst versorgen zu können“, sagt Flinik. „Es ist schön zu sehen, wie den Menschen arbeiten wieder Spaß macht. Unser Mann für die Ziegen würde wahrscheinlich vor Sehnsucht sterben, würde man sie ihm wieder wegnehmen.“
Regelmäßig kommt eine Psychologin ins Zentrum, die die Bewohner betreut, ein Mal wöchentlich geht es mit dem Bus nach Poznan, zu den Anonymen Alkoholikern. Doch Therapie sei den Bewohnern vor allem die Gemeinschaft, jeder helfe dem anderen, keiner müsse sich allein durchschlagen. Auch Flinik war jahrelang obdachlos.

Es ist wohl das einzige Dorf
in Polen, in dem die Prämisse gilt: kein Alkohol. „Sogar an Silvester stoßen wir nur mit Kindersekt an“, so Flinik. „Letztes Jahr gab es noch nicht mal mehr den.“ Wer doch beim Trinken erwischt wird, hat zwei Möglichkeiten: Sofort in die nächstgelegene Klinik zum zweiwöchigen Entzug. Oder gehen. Mariusz Pawlik wurde in den ersten Wochen ein Mal schwach: Zusammen mit einem Kumpel kippte er drei Flaschen Wodka. Seitdem hofft er, dass ihn das Verlangen nicht wieder einholt.

Das Zentrum erhält
kein Geld vom Staat, es finanziert sich über Spenden – und den Abgaben, die die Bewohner zahlen. Die Sozialrente, die dem deutschen Arbeitslosengeld entspricht, beträgt in Polen umgerechnet etwa 110 Euro. Davon gehen etwa 50 Euro an Barka für Unterkunft, Verpflegung und die therapeutischen Leistungen. Der Rest ist Taschengeld.

Die Bewohner kommen
aus ganz Polen hierher und aus Großstädten aus dem Ausland. Die, die ihr Land verlassen haben, sind ausgezogen, um Arbeit zu finden, Geld zu verdienen, etwas zu werden. Sie sind zurückgekommen, ohne Arbeit, ohne Geld, ohne Hoffnung. So wie Andrzej Warzynski. Er ist aus Hamburg gekommen, wo laut Barka rund 600 osteuropäische Obdachlose leben, etwa 60 Prozent von ihnen Polen. Wie Warzynski sprechen sie zumeist kein Deutsch, sind nicht krankenversichert und haben selten Anspruch auf Sozialleistungen.

Es braucht eine Weile
, bis man sich an das Kauderwelsch gewöhnt, das Warzynski von sich gibt, bis man tatsächlich mehr versteht als ein Röcheln. Seine tiefe Stimme artikuliert nicht mehr richtig, der Wulst an seinem rechten Lymphknoten ist mittlerweile so groß wie eine gut gewachsene Mango. Ein Tumor, bösartig, nicht operabel. Die Ärzte geben ihm höchstens ein Jahr.

Entdeckt wurde er
vor vier Monaten, im September, als Warzynski nach Polen zurückkam. Eine Leberzirrhose hatte ihm schon der Alkohol beschert, und dann hatte er plötzlich Schmerzen hinterm rechten Ohr. Lymphdrüsenkrebs. Mit der Diagnose fing der Tumor sogleich an zu wachsen.
Warzynski mag gar nicht daran denken, was er als Krebspatient in Hamburg getan hätte – ohne Krankenversicherung. Als er nach Chudobczyce kam, besorgte ihm der Leiter Flinik innerhalb von zwei Tagen die nötige Versicherung. Und Warzynski konnte sofort zum Arzt.

Jetzt ist er so krank,
dass er nicht arbeiten kann. Auch er sieht älter aus als seine 57 Jahre. Einmal wurde er von der Polizei mit 6,9 Promille im Blut aufgegriffen, sagt er. Man weiß nicht, ob man ihm das glauben kann. Er sitzt mit seinen zwei Zimmergenossen vor dem Fernseher. Es ist Sonntag. Ruhetag. Es gibt Skispringen.

Vor einem halben Jahr
noch lief Warzynski die Reeperbahn entlang. Zehn Jahre war er insgesamt in Hamburg, die meiste Zeit davon auf der Straße. Anfangs arbeitete er noch schwarz, als Maler tapezierte er Wände, eine Ausbildung hat er nicht. Irgendwann war der Job vorbei, ein neuer nicht in Sicht, und Warzynski baute sich unter einer Brücke ein Zuhause: aus zwei Pappkartons und ein paar Decken vom Sperrmüll. Später schlug er ein Zelt in Blankenese auf und fand wieder einen Job: als Mädchen für alles in einem Musikclub. Fegen, Tische aufstellen, für 50 Euro am Tag, schwarz natürlich. Eine Wohnung wollte er nicht, der Job war zu unsicher. Er endete ganz klassisch: als Dosen- und Flaschensammler, mit ein paar Euro am Tag. Dann hat er Barka-Streetworker Stanislaw Szczerba getroffen. Das ist etwa ein Jahr her.

Szczerba hat Warzynski
zur Rückkehr in sein Heimatland bewegt. Die Fahrt dorthin wurde bezahlt. Gefällt es ihm jetzt hier in Chudobczyce? „Ach, na ja, Hamburg ist Hamburg. Ich liebe diese Stadt einfach. Aber gerade bin ich eh nur aktiv dabei zu sterben. Lediglich mein Humor bewahrt mich vor schlechter Laune.“ Seine Augen lachen permanent. Wenn er laut auflacht, bekommt er Hustenanfälle. Dann wird Warzynski still.

Aber ist es denn vertretbar,
diese Menschen, die voll Hoffnung und freiwillig in ein fremdes Land gereist sind, einfach in den Bus nach Hause zu setzen?
Alle würden freiwillig fahren, meint Warzynski. Es sei nur manchmal nicht einfach, diesen Stolz zu überwinden, sich einzugestehen, dass man gescheitert ist. „Vor allem polnische Männer haben da Probleme, finde ich. Deutsche weniger“, sagt Warzynski. Und: „Es ist jedenfalls für viele die letzte Chance.“

Text: Emilia Smechowski
Fotos: Mauricio Bustamante