Argentinische Obdachlose als Künstler

Überlebenskunst: Hecho, das Straßenmagazin aus Buenos Aires, betreibt eine Kunstwerkstatt, in der argentinische Obdachlose malen und dichten. In Läden und Cafés der Stadt werden die Bilder und Skulpturen jetzt ausgestellt.

(aus Hinz&Kunzt 203/Januar 2010)

Die Vorbereitungen für die erste große AUSSTELLUNG laufen auf Hochtouren. Alle produzieren noch mehr als sonst, um dabei sein zu können.
Die Vorbereitungen für die erste große AUSSTELLUNG laufen auf Hochtouren. Alle produzieren noch mehr als sonst, um dabei sein zu können.

Das schönste an der Kunstwerkstatt ist für Adrian Camacho Martinez nicht etwa die Kunst. „Das Schönste ist die Ruhe hier – und dass man über Dinge sprechen kann.“ Über Dinge sprechen – vor ein paar Monaten hätte ihn genau das in die Flucht geschlagen. Denn der 29-Jährige hatte regelrecht eine Phobie entwickelt: „Ich konnte mit niemandem auf der Straße mehr reden, ich sah überall nur noch die Bösartigkeit der Menschen und hörte ihr Geschwätz und ihre Lügen.“ Seine Wohnung verließ er nur noch, um einzukaufen. Vor einem halben Jahr verlor er auch den letzten Schutz, seine eigenen vier Wände.
„Eines Tages sah ich so einen traurigen und verbitterten Typ auf der Straße, der eine Zeitschrift verkaufte“, sagt Adrian. Von seinen letzten Pesos kaufte er dem Mann eine
„Hecho“ (spanisch: gemacht, vollendet, erledigt) ab. Hecho in Buenos Aires ist ein Straßenmagazin wie Hinz&Kunzt. Für Adrian der Anfang eines neuen Lebens. Denn seit einiger Zeit ist er selbst Verkäufer – und seit fünf Monaten kommt er auch regelmäßig in die Kunstwerkstatt.
Seit vier Jahren betreibt Hecho die Kunstwerkstatt. Jetzt ist sie in die Schlagzeilen gekommen. Denn im September hatte die Werkstatt eine riesige Freiluft-Ausstellung – 650 Meter Mauer mit Gedichten. Die Idee dazu hatte der Künstler Américo Gadben gehabt, der die Gruppe anleitet. Er wollte „Poesie in die Öffentlichkeit tragen“.
Hier findet jeder seinen Platz, ob er dichtet oder – wie die Gruppe heute – eher malt. Eduardo Alvarez beispielsweise. Sein Kunstwerk nennt er Brooklyn – man sieht die Kabel, an der die weltberühmte Brücke aufgehängt ist. Dass der 57-Jährige mal Ingenieur werden wollte, kann man sich bei der Machart des Bildes gut vorstellen. Allerdings brach er das Studium ab. Heute lebt er in einem alten Schuppen und lebt davon, Nachhilfeunterricht in Mathematik und Englisch zu geben. Das Leben stresst ihn. „Das Wichtigste ist für mich, dass ich mich hier ausdrücken kann.“ Und wie bei Adrian ist die Werkstatt für Eduardo so etwas wie Überlebenshilfe. Auch er empfindet die Menschen „draußen“ als Bedrohung. „Diese Ignoranz und dass die Menschen sich gar nicht um die Umwelt kümmern, das macht mich fertig“, sagt er. „Zwei Stunden bin ich hier und komme zur Ruhe. Aber ich brauche eine halbe Stunde Vorbereitung, bevor ich mich wieder auf die Straße traue.“
Richtig künstlerischen Ehrgeiz hat Zulema Noemi Razotti: Die 52-Jährige hat schon als Kind gemalt – am liebsten abstrakt. Das ist so geblieben. Sie liebt Picasso und sie liebt es, in Ausstellungen zu gehen. Das war auch so, als die ehemalige Köchin noch auf der Straße lebte. Heute hat sie wieder eine Wohnung. „Mein größter Traum wäre es, eines Tages ganz allein ein Wandbild zu malen“, sagt Zulema. „Und ich wünschte, meine Bilder würden eines Tages irgendwo hängen, wo sie jeder sehen kann.“ Dieser Wunsch ist, wenn diese Ausgabe erscheint, in Erfüllung gegangen: Seit Mitte Dezember sind Bilder und Skulpturen der Gruppe in Läden und
Cafés von Buenos Aires zu sehen.

Text: Mauricio Bustamante und Birgit Müller
Foto: Mauricio Bustamante