20 Jahre Fluchtpunkt : Anlaufstelle Fluchtpunkt

Immer mehr Menschen aus den Krisengebieten dieser Welt suchen Schutz in Hamburg. Besonders schwierig ist die Situation für jugendliche Flüchtlinge. Ein Gespräch mit Anne Harms von der Beratungsstelle Fluchtpunkt.

(aus Hinz&Kunzt 260/Oktober 2014)

Anne Harms ist Leiterin der kirchlichen Beratungsstelle FLUCHTPUNKT, die 1994 gegründet und die durch die NDR-Dokumentation „Abschiebung im Morgengrauen“ bundesweit bekannt wurde. (Foto: Bertold Fabricius)
Anne Harms ist Leiterin der kirchlichen Beratungsstelle FLUCHTPUNKT, die 1994 gegründet und die durch die NDR-Dokumentation „Abschiebung im Morgengrauen“ bundesweit bekannt wurde. (Foto: Bertold Fabricius)

Hinz&Kunzt: Fluchtpunkt feiert sein 20-jähriges Jubiläum. Die Situation für Flüchtlinge ist wieder fast so dramatisch wie in den 90er-Jahren, als ihr angefangen habt. Inzwischen ist sogar die Zentrale Erstaufnahme überfüllt.

Anne Harms: Noch haben wir nicht die Situation der 90er-Jahre, da sind wir zahlenmäßig und auch was die Qualität der restriktiven Verwaltungspraxis angeht, noch ein Stück von entfernt. Ich hoffe allerdings, dass wir da nicht wieder hinkommen, denn erste Anzeichen gibt es schon.

Die Praxis hat sich wieder deutlich verschlechtert im Hinblick auf den Umgang mit Flüchtlingen insgesamt. Und was wir merken: dass die Ersteinrichtungen völlig überfordert sind. Wir haben mehrere Menschen hier, die mehrmals dort vorgesprochen haben und abgewiesen wurden. Wir haben sogar eine hochschwangere Frau gehabt, die viermal dort vorsprechen musste und dann erst mit unserer Intervention beim fünften Mal registriert wurde.

Was bedeutet das?

Die Flüchtlinge, die noch nicht registriert wurden, sitzen in der ersten Zeit auf der Straße – mittellos, unversorgt.

Buchstäblich auf der Straße oder in den Zelten?

Bei denen, die aus Überlastungsgründen gar nicht erst angenommen werden, gibt es auch keine Zelte. Die werden einfach weggeschickt mit den Worten: Kommen Sie ein andermal wieder!

Aber es gibt doch eine gesetzliche Verpflichtung, die Flüchtlinge ­unterzubringen.

Selbstverständlich gibt es die. Ich denke, in der Stadt regiert zurzeit die nackte Verzweiflung. Man hätte wesentlich früher ­aktiv werden müssen, weil die Entwicklung deutlich absehbar war. Man kann nicht immer so tun, als wäre das Ganze eine große Überraschung. Ich gehe davon aus, dass bei ausreichenden Bemühungen eine große und reiche Stadt wie Hamburg damit fertigwerden müsste. In den 90er-Jahren haben wir ­wesentlich mehr Menschen unterbringen können. Damals ­waren das doppelt so viele (insgesamt bis zu 25.000; Anmerkung der ­Redaktion) wie jetzt.

Kann man im Moment denn was tun oder ist es so, wie die Behörden sagen: Wir tun doch alles, und wir kommen nicht hinterher.

Daran, dass Hamburg nun sogar sogenanntes Polizeirecht anwendet, um Räume und Flächen zu nutzen, kann man erkennen, dass die Verpflichtung zur Unterbringung hier aktuell dennoch sehr ernst genommen wird. Natürlich ist das eine sehr harte Maßnahme. Die fehlende Bürgerbeteiligung wird die Akzeptanz nicht verbessern und die Räume werden für eine längerfristige Unterbringung meist nicht geeignet sein. Aber es wird kälter draußen. Berlin hat vor einiger Zeit seine Erstaufnahmestelle für 14 Tage wegen Überlastung komplett geschlossen. Das ist auch keine Lösung.

Wirklich schön wäre, wenn die Flüchtlings- und Wohnungspolitik zukünftig endlich der Tatsache Rechnung tragen würde, dass Sammelunterkünfte grundsätzlich nur in Not­lagen und nur für sehr kurze Zeit zumutbar und verantwortbar sind.

Katastrophal ist ja auch die Situation für minderjährige Flüchtlinge. Beim Kinder- und Jugendnotdienst (KJND) in der Feuerbergstraße wurden sogar minderjährige Flüchtlinge wieder weggeschickt.

Das stimmt. Die Überforderung des Landesbetriebes Erziehung und Beratung ist früher nicht in dem Maße publik geworden, bis 2010 war die Ausländerbehörde zuständig. Die Jugendlichen sind ja gar nicht bis zum Jugendamt vorgerückt. Damals wurden die Jugendlichen gleich in die Ausländerbehörde geschickt und mit einem fiktiven Geburtsdatum ausgestattet – und weg waren sie. Erst seit die Sozialbehörde zuständig ist, wird deutlich, dass auch die Fachbehörde die Jugendlichen nicht anerkennt, dass auch die öffentlichen Jugendschutzeinrichtungen sie nicht wollen.

Im August gab es eine Phase, in der Minderjährige vom zuständigen Kinder- und Jugendnotdienst einfach weggeschickt wurden, ohne dass sich jemand dafür interessiert hat, wie alt sie sind und wo sie dann bleiben sollen. Diese Praxis ist, soweit ich weiß, beendet. Aber wir beklagen weiterhin, dass der Kinder- und Jugendnotdienst einfach, nach der äußeren Erscheinung, junge Flüchtlinge älter schätzt und sie als vermeintlich Volljährige wegschickt. In einigen Fällen konnten wir beweisen, dass die Schätzungen falsch waren, aber die meisten erhalten keine Chance dazu, weil sie nach der Abweisung durch den KJND sofort in andere Bundesländer verteilt werden.

Wie kann das denn passieren?

Die meisten haben keine Papiere, oder diese werden, zum Beispiel wenn es afghanische sind, von den Behörden nicht als ausreichender Beleg für die Identität angesehen. Aber sie sollten doch wenigstens als ein Indiz für mögliche Minderjährigkeit gesehen werden. Der Kinder- und Jugendnotdienst maßt sich an, durch bloße Inaugenscheinnahme mit absoluter ­Sicherheit feststellen zu können, ob jemand 17 oder 18 ist. Das geht natürlich nicht.

Der Fall von Mujib ist ja zum Glück bekannt ­geworden, auch weil ihr euch eingeschaltet habt … 

Im Februar kam Mujib, ein afghanischer Junge, zu uns. Er hatte eine Odyssee durch verschiedene Länder in Europa überstanden, hatte viel erlitten, war sehr erschöpft und psychisch stark belastet. Der Kinder- und Jugendnotdienst hat ihn abgewiesen, und Mujib wäre dann einfach in einer Erwachsenenunterkunft gelandet und wie ein Erwachsener behandelt worden. Aber wir sahen einen ganz klaren Jugendhilfebedarf. Wir haben dann eine Pastorin gefunden, die jetzige Flüchtlingsbeauftragte Dietlind Jochims, die ihn freundlicherweise bei sich aufgenommen hat. Dadurch haben wir Zeit gewonnen, und wir konnten durchsetzen, dass die Entscheidung zumindest überprüft wird.

Wird so etwas im Zweifelsfall nicht sowieso gemacht?

Nein. Im Gegenteil. Wir haben ein halbes Jahr lang verhandelt und vor Gericht klagen müssen, bis die Behörde bereit war, ihn wenigstens einer Altersuntersuchung im UKE, die wir ja auch skeptisch sehen, zuzuführen. Da ist dann rausgekommen, dass er minderjährig ist.

Wir hielten eine Prüfung des Jugendhilfebedarfes durch pädagogisches Fachpersonal für wesentlich sinnvoller. Die Gerichtsmedizin kann das Alter auch nur schätzen, und die Verfahren sind umstritten. Zudem sind sie belastend, nicht nur durch die unnötige Strahlenbelastung beim Röntgen, sondern auch durch die Untersuchung von äußeren Geschlechtsmerkmalen und Zähnen. Mit dieser Prozedur zum Anfang ist es schwer für die Jugendlichen, Vertrauen aufzubauen.

Aber für Mujib ist das Ergebnis wichtig. Ein großer Erfolg auch für euch. Was passiert weiter mit ihm?

Jetzt ist er in Obhut genommen. Er kam in eine Erstaufnahmeeinrichtung, wohnt in einer Jugendwohnung und hat inzwischen einen Vormund, nämlich Dietlind Jochims. Jetzt können wir uns gemeinsam über die Fortsetzung der Kinder- und Jugendtherapie, die er dringend benötigt, unterhalten.

Ihr bleibt am Ball?

Ja, das tun wir!

Fluchtpunkt ist eine Beratungsstelle der Evangelisch-Lutherischen Kirche Nordelbien in Hamburg. Sie wurde 1994 als Reaktion auf den sogenannten Asylkompromiss gegründet. Das Team kämpft für die Rechte und den Schutz von Flüchtlingen, die in Hamburg leben, ­Asylbewerber, Menschen mit „Duldungen“ und illegalisierte ­Menschen; www.fluchtpunkt-hh.de, Adresse: Eifflerstraße 3,
Telefon 432 500-80. Offene Sprechstunde: mittwochs 10–16 Uhr.

Interview: Birgit Müller
Foto: Bertold Fabricius

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