Zwischen Grau und Grün

Billstedt hat nicht den besten Ruf. Aber es lohnt sich, den Stadtteil kennenzulernen. Eine Erkundungstour zu Hochhäusern, Parks und einem Kulturpalast

(aus Hinz&Kunzt 172/Juni 2007)

Meine einzige Erinnerung an Hamburgs Osten ist ein Gefühl. Und dieses Gefühl passt nicht zum strahlenden Frühlingstag, an dem ich mich auf den Weg nach Billstedt mache. Denn es ist ein Gefühl der Beklommenheit. Als ich vier oder fünf Jahre alt war, hatten meine Eltern Bekannte in Mümmelmannsberg, die wir gelegentlich dort besuchten. Wenn ich daran zurückdenke, fällt mir ein, wie klein ich mich damals fühlte zwischen den vielen Hochhäusern und dem grauen Beton überall, der mich zu erdrücken schien. Und heißt es nicht auch: „Billstedt, Mümmelmannsberg und Horn, schuf der liebe Gott im Zorn“?

Und so sitze ich nun in der U-Bahn, im Gepäck mein Fahrrad und reichlich Aufregung. An der Haltestelle Legienstraße steige ich aus und bin überrascht, direkt neben der Bahnstrecke einen schönen Radwanderweg zu entdecken, umgeben von Bäumen und Rasenflächen. Später erfahre ich, dass man auf diesem Weg bequem von Mümmelmannsberg bis fast in die Innenstadt radeln kann.

Doch jetzt habe ich ein anderes Ziel. Als „Interventionsschwerpunkte“ im Programm Aktive Stadtteilentwicklung hat der Senat die Gegend um den Washingtonring und den Schiffbeker Berg ausgewählt, wo überwiegend Familien und Jugendliche ausländischer Herkunft dicht zusammen in Hoch- und Reihenhaussiedlungen wohnen. Die Jugendlichen haben wenig zu tun, es kommt oft zu Gewalttaten. Rund um den Washingtonring wurden die meisten Häuser saniert, die Grünflächen dazwischen gepflegt, auf den Wiesen toben Kinder. Doch am Schiffbeker Berg sieht es tatsächlich trostlos aus: Hochhaus an Hochhaus, eine triste graue Fläche, auf der einen Seite Industrie, auf der anderen der Verkehr der Billstedter Hauptstraße. Leute sind kaum unterwegs, und ich muss gestehen, dass ich mich nicht besonders wohlfühle.

Dann treffe ich Margot (Name geändert) mit ihrem Chihuahua, der unbekümmert und schwanzwedelnd jedes bisschen Grün beschnuppert, das aus dem Asphalt sprießt. Ungeduldig zieht Margot an der Leine. Sie will zurück in ihre Wohnung, Kaffee trinken. Nach einem Schlaganfall ist sie gehbehindert und nur noch selten draußen. „Als ich hierhergezogen bin, habe ich mich sehr wohlgefühlt“, sagt sie, während sie aus Betonkübeln noch schnell etwas Löwenzahn für ihr Zwergkaninchen pflückt. „Aber seit immer mehr Ausländer herkommen, wird es gefährlicher. Auch wenn sich das natürlich gleich rassistisch anhört.“ Schnell fügt sie hinzu, dass sie sich mit ihren direkten Nachbarn, die aus Afrika stammen, sehr gut versteht. Doch wurde sie bereits zwei Mal überfallen, das letzte Mal in ihrem Treppenhaus. Dass sich die Situation durch die AktiveStadtteilentwicklung verbessern wird, glaubt sie nicht. „Die Gegend wurde schon viel zu lange vernachlässigt. Jetzt hilft nur noch verstärkter Polizeieinsatz vor Ort.“

Da ist es wieder, dieses Gefühl der Beklommenheit. Natürlich ist es nur eine einzelne Stimme, die ich hier gehört habe. Doch in diesem Moment bin ich froh, mich aufs Fahrrad schwingen und weiterfahren zu können. Auf der anderen Seite der U-Bahn komme ich zum „wichtigsten kulturellen Zentrum in Hamburgs Osten“, wie dessen Leiterin Dörte Inselmann, 46, findet. Seit 28 Jahren arbeitet sie im Kulturpalast, der sich seit 1993 in einem alten Wasserwerk am Öjendorfer Weg befindet. Ihre Tätigkeit dort umschreibt Inselmann gerne mit „kultiplizieren“: „Da hier viele Personengruppen leben, die mit Bildung und Kultur nichts anfangen können, versuchen wir kulturelles Potenzial aufzubauen und zu vervielfältigen.“ Gerade jüngere Billstedter sollen durch Kindertheater und Musikworkshops angesprochen werden. 2004 wurde außerdem das alte Turbinenwerk des Gebäudes in einen Clubraum umgewandelt. Seitdem ist das „Bambi galore“ eine Alternative für Jugendliche, die zum Tanzen nicht extra auf den Kiez fahren wollen. Hier wird im Juli auch die Hip-Hop-Academy starten, ein Projekt aus dem Senatsprogramm „Lebenswerte Stadt“. Das vierwöchige Sommercamp ist als kostenloses Ausbildungsprogramm für Jugendliche zwischen 13 und 18 Jahren gedacht, die Hip-Hop zu ihrem Beruf machen wollen – angeleitet von den „Besten aus der Szene“, wie Inselmann verspricht. Zurzeit laufen dafür in ganz Hamburg die „Battles“: Interessierte müssen vor einer Jury beweisen, was sie können, die besten 50 werden anschließend einen Platz bekommen. Inselmann kann es kaum erwarten, dass das Projekt startet. Atemlos erzählt sie von den verschiedenen „Styles“, die dabei „represented“ werden, zum Beispiel „NuStyle“ und „Beat Production“ – ich verstehe kein Wort und fühle mich neben Inselmann wie eine Rentnerin.

Nur wenige Meter vom Kulturpalast entfernt schlemme und entspanne ich bei Eis-Hille – im Sommer ein beliebter Treffpunkt für die Billstedter. Wenn – wie heute –

das Wetter mitspielt, kann es schon mal passieren, dass die Tische und Stühle draußen auf dem Gehweg für die Eishungrigen nicht ausreichen. Besitzer Thilo Koch, 44, behauptet deswegen auch ganz unbescheiden, „der erste Platz“ im Ort zu sein. Ein Ort, an dem er sich sichtlich wohlfühlt. Woanders arbeiten? Das käme nicht in Frage: „Schließlich ist der Betrieb schon seit 33 Jahren im Familienbesitz“, wie Koch verkündet.

Schwimmsachen habe ich nicht dabei, schade eigentlich. Denn nur einige Meter weiter ist das Kombibad Billstedt. Gegenüber dem Neubaugebiet Archenholzstraße erstreckt sich das Schwimmbad, dessen Liegewiese gut belegt ist. Mit Geld aus dem Topf „Lebenswerte Stadt“ soll es demnächst zum „Familienbad“ umgebaut werden. Was das genau heißt, steht noch nicht fest.

Ich folge der Straße auf dem Fahrrad und habe bald das Gefühl, auf dem Land zu sein. Dunkelgrüne Wiesen und Bäume wie aus einem Märchenwald, am Gehwegrand duftender Flieder, Autos fahren kaum noch. War ich nicht vor wenigen Minuten noch im „Ghetto“? Karlheinz Zolk, 60, lacht über meine Verwunderung. Gerade erst hat er für seinen Sohn Michael, der bislang in Jenfeld gewohnt hat, ein Haus in der Archenholzstraße gekauft. Die neu gebauten Wohnungen sollen junge Familien anlocken und so das Umfeld „aufwerten“. Das Konzept funktioniert. Trostlose Hochhäuser und Lärm – das scheint in diesem Wohngebiet kilometerweit weg zu sein. „Hier hinterm Haus beginnt sogar ein Naturschutzgebiet“, erzählt Zolk.

Von dort aus ist es mit dem Fahrrad nur ein Katzensprung zum Öjendorfer Park und dem Öjendorfer See. Wunderschön – warum habe ich diesen Ort nicht schon früher entdeckt? Im Gegensatz zu Stadtpark, Alster oder Elbe ist es hier auch an einem Wochenende mit herrlichem Sonnenschein nie überlaufen. Neben zwei Badeplätzen gibt es eine Minigolfanlage, einen Kiosk und einen großen Spielplatz. Der See ist fast doppelt so groß wie die Binnenalster, und auf den kleinen Inseln in der Mitte sind zahlreiche Vögel zu Hause. Auf der riesigen Wiese rund um den See treffe ich Jutta Staudinger, 43, und Arzoo Rahimi, 24, mit ihren fünfjährigen Töchtern Olivia und Samira. Während die Mädchen über den Rasen toben, breiten ihre Mütter Decken und Handtücher für ein Picknick aus. Der See und der angrenzende Park sowie die Nähe zu den Boberger Dünen sind für sie die Highlights in ihrem Stadtteil. Doch auch sonst fühlen sie sich in der Gegend wohl. „Ich hatte hier nie Probleme“, meint Rahimi, die vor sieben Jahren aus Afghanistan nach Hamburg gekommen ist. „Ich mag das Multikulti hier und die Verbundenheit der Leute.“ „Natürlich gibt’s hier auch Gegenden, die nicht so schön sind“, wirft Staudinger ein, „aber die gibt es doch überall.“ Dass „hier im Osten“ oft alles schlecht geredet wird, findet sie einfach „doof“.

In diesem friedlichen Moment am See kann ich ihr nur zustimmen. Ich fühle mich wie im Kurzurlaub. Nach einem langen Tag mache ich mich auf den Rückweg. Noch einmal komme ich an den Hochhäusern vorbei, und die Beklommenheit lässt sich nicht abschütteln. Aber dieses Gefühl wird nicht mehr meine einzige Erinnerung bleiben.

Maren Albertsen

Aktive Stadtteilentwicklung

Im Dezember 2005 hat der Senat die Aufnahme des „Entwicklungsraums Billstedt/Horn“ in die Aktive Stadtteilentwicklung beschlossen. Das etwa 2000 Hektar große Gebiet ist das größte Stadtteilentwicklungsgebiet Deutschlands. Beim Projektstart lebten dort rund 105.000 Menschen in 50.000 Wohnungen. Die Einwohnerdichte war fast doppelt so hoch wie in Hamburg insgesamt, ebenso der Anteil an Sozialhilfeempfängern (12,8 % ). Der Ausländeranteil betrug 22,3 % (Hamburg insgesamt 15,3 %). Die Arbeitslosenquote der 15- bis 65-Jährigen lag bei 10,3 % (Hamburg 7,6 %).

Lebenswerte Stadt

Das Senatsprogramm „Lebenswerte Stadt“ in Billstedt ergänzt die Aktive Stadtteilentwicklung, beschränkt auf das Gebiet um den Schleemer Bach. Zu den dort geplanten 13 Projekten gehören der Ausbau des Kombibads Billstedt, die Einrichtung einer Hip-Hop Academy sowie die Einrichtung eines Jugendtreffs am Jenkelweg.

Radwanderweg

Entlang der U 3 führt ein Radwanderweg, auf dem man mit einigen Unterbrechungen fast bis zur Innenstadt kommt. Nach Vorschlägen der Zukunftskonferenz soll der Weg ausgebessert und verschönert werden.

Kulturpalast

im Wasserwerk e.V.

Öjendorfer Weg 30a,

Telefon 822 45 68 11,

www.kultur-palast.de

„Klangstrolche“ im Kulturpalast

Musikalisches Angebot für Kinder von sechs Wochen bis sechs Jahren (tanzen, singen, einfache Instrumente spielen), mehr Informationen:

www.klangstrolche.de

Öjendorfer Park

Der Öjendorfer Park umfasst eine Fläche von 60 Hektar und wird im Osten durch die A1 und im Norden durch das Verbindungsstück A24 begrenzt. Im Norden liegt ein Vogelschutzgebiet, im Westen der Öjendorfer Friedhof.

Öjendorfer See

Der Öjendorfer See befindet sich mitten im Öjendorfer Park und hat zwei ausgewiesene Badestellen. Neben Liegewiesen und Rundwegen gibt es eine Minigolfanlage, einen Spielplatz und ein großes Schachbrett mit Figuren.

Anfahrt: Mit der U3 bis Billstedt oder Steinfurther Allee, dann ca. 15 Minuten zu Fuß oder mit dem Bus 161

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