Obdachlose Familie : 18 Quadratmeter Hoffnung

Die Situation von Familie Nikolov war so verzweifelt, dass sie lieber hier obdachlos ist als in Bulgarien arbeitslos und ohne Perspektive. Georgi Nikolov glaubt fest daran, bald Arbeit zu finden. Allerdings sind da noch die Kinder im Spiel.

(aus Hinz&Kunzt 249/November 2013)

Ivan (6) und Katarina (4) mit den Eltern und Großeltern in der Kirchen­kate. Um alle aufs Foto zu bekommen, musste Mauricio Bustamante sich auf die Toilette zurückziehen.
Ivan (6) und Katarina (4) mit den Eltern und Großeltern in der Kirchen­kate. Um alle aufs Foto zu bekommen, musste Mauricio Bustamante sich auf die Toilette zurückziehen.

Nur rein in die gute Stube! Deutsch können sie noch nicht, aber die einladenden Gesten sprechen eine eindeutige Sprache. Wir sind zu Besuch bei Familie Nikolov: Normalerweise lebt hier in der Kirchenkate – auf 18 Quadratmetern – ein Obdachloser, aber jetzt haben hier Ivan (6), Katarina (4) und ihre Eltern ein vorläufiges Zuhause gefunden. Bald bekommen auch die Großeltern eine Kirchenkate. Für die Nikolovs sind das 18 Quadratmeter Hoffnung.

Kennengelernt haben wir die bulgarischen Wanderarbeiter unter der Kennedybrücke. Seit Langem wussten wir, dass auch ganze Familien Platte machen, aber wir kannten bislang keine. Als wir die süßen Knirpse im Zelt sahen, hat uns das umgehauen. Kinder auf der Straße!

Zu Recht hatten die Nikolovs Angst, dass das Jugendamt auftauchen und ihnen die Kinder entziehen würde. Wegen Kindeswohlgefährdung. Das Prozedere sieht dann vor: Die Kinder werden zum Kinder- und Jugendnotdienst gebracht, von den Eltern getrennt und womöglich in eine Pflegefamilie gegeben.

Das Jugendamt kam tatsächlich, war aber gewissermaßen ratlos. Denn normalerweise entzieht man die Kinder, wenn sie durch ihre Eltern oder Erziehungsberechtigten gefährdet sind. Aber Ivan und Katarina leben glücklich im Kreis ihrer Eltern und Großeltern. Wer die beiden aus ihrer Familie herausreißt, gefährdet mit Sicherheit ihr Seelenheil. Aber natürlich liegt trotzdem Kindeswohlgefährdung vor. Das Leben auf der Straße ist schließlich kein Campingurlaub.

Ab November beginnt für EU-Wanderarbeiter ein Winternotprogramm zweiter Klasse. Sie werden in Schlafsälen in Schulen untergebracht. Kinder dürfen sich dort allerdings nicht aufhalten. Immer noch hofft die Stadt, dass Wanderarbeiter wie die Nikolovs wieder nach Hause gehen. Doch viele von ihnen sind so verzweifelt, dass sie lieber in Deutschland auf der Straße leben als in Bulgarien oder Rumänien ohne Perspektive. Zum Glück konnten wir zwei Kirchen­katen in der Kirchengemeinde Volksdorf bekommen. In eine davon sollte unser Hausmeister Marcel einziehen, aber der wollte lieber noch in unserem Winterquartier bleiben. Im vergangenen Winter haben wir ja ein Haus für 12 bis16 Leute angemietet, die Gruppe ist gut zusammengewachsen, und ein Sponsor finanziert uns das Haus bis einschließlich März 2014.

Deshalb beschlossen die Kirchengemeinde und wir, die Kinder mit ihren Eltern in der Kate unterzubringen und die Großeltern in einer freien Kate daneben. Das ist dann unser erweitertes Winternotprogramm. Unser Sozialarbeiter Stephan Karren­bauer und die bulgarische Beraterin Desislava Manavska vom Diakonie-Zentrum für Wohnungslose kümmern sich jetzt um die Familie. Beide nehmen derzeit die Arbeit im Kopf mit nach Hause. Stephan Karrenbauer erzählte beim Abendbrot von Ivan und Katarina. Sein fünfjähriger Sohn fragte ungläubig: „Kinder müssen draußen schlafen?!“ Dann verschwand er in seinem Zimmer und packte das „Nötigste“ für die kleinen Bulgaren: zwei Zahnbürsten und ein paar kleine Autos.
Ivan und Katarina sind derzeit richtig guter Dinge. „Ivan würde am liebsten sofort in die Schule gehen“, sagt Desislava Manavska. Die Geschwister haben gerade bei der Kinderbibelwoche mitgemacht. „Sie haben sich richtig wohlgefühlt“, sagt Pastorin Gabriele Frietzsche. „Dadurch kamen sie auch mal mit anderen Kindern zusammen.“

Auch die Erwachsenen sind zuversichtlich. Momentan leben sie vom Flaschensammeln. Die Kirchenkate ist für die Familie mehr als ein Dach über dem Kopf. Hier können sich die Nikolovs anmelden. „Das bedeutet, dass die Männer jetzt auch ein Gewerbe anmelden können“, sagt Desislava Manavska. Opa Georgi Nikolov hat in Bulgarien auf dem Bau gearbeitet und war auf Dächer spezialisiert. „Wir können hart arbeiten“, sagt der 48-Jährige. „Wir schaffen das. Wir haben es immer geschafft.“

Text: Birgit Müller
Foto: Mauricio Bustamante