Zwangsräumung : 1590 Mal ist es passiert

Die Fachstellen für Wohnungsnotfälle sollen Zwangsräumungen in Hamburg verhindern. Zu oft gelingt ihnen das nicht.

(aus Hinz&Kunzt 241/März 2013)

„Kopf zu, Mund auf, Alkohol rein“: So beschreibt Dieter Moll (Name geändert, Red.) sein Leben im Winter 2008. Der gelernte Schuhmacher hat seinen Job als Bauhelfer verloren, „aus wirtschaftlichen Gründen“, wie es heißt. Der 43-Jährige fällt in ein tiefes Loch, ertränkt seinen Kummer in Korn und Bier. Kurz darauf verlässt ihn die Freundin. „Die fand’s nicht mehr lustig, also ist sie eines Tages weg.“ Moll geht zwar zur Arbeitsagentur und bekommt gut 500 Euro Arbeitslosengeld im Monat. Doch sagt der Berater ihm nicht, dass er auch zum Jobcenter muss, um ergänzend Hartz IV zu beantragen. Das Konto rutscht in die Miesen, dem Verzweifelten ist es egal. Moll säuft von früh bis spät. Die Post, „komische Briefe von komischen Ämtern“, stopft er ungeöffnet in Tüten und die in einen Schrank.

Vermutlich hat auch die Fachstelle für Wohnungsnotfälle Dieter Moll geschrieben – erreicht hat sie ihn nicht. Zwei Stunden vor dem Räumungstermin, es ist der 17. September 2009, packt Moll ein paar Kleider in die Tasche, verlässt die Wohnung und verwandelt sich in einen Obdachlosen. Dass ein Mitarbeiter vom Amt in den Monaten zuvor an seiner Wohnungstür klingelte und persönlich Hilfe anbot, ist unwahrscheinlich: Hausbesuche sind bis heute eher die Ausnahme, heißt es aus den Fachstellen. Geht es um Familien mit kleinen Kindern oder um offensichtlich psychisch Kranke, rücken die Helfer schon mal aus. Die Regel aber sind Briefe, in denen das Amt Unterstützung anbietet. Die Folge: Menschen wie Moll, die sich in ihrem Elend vergraben, fallen durch die Maschen. Dabei sollen die Fachstellen gerade das verhindern, weil mittlerweile unumstritten ist: Frühe Hilfe ist nicht nur besser für die Betroffenen als späte, sondern langfristig billiger für die Stadt.

1590 Mal wurde vergangenes Jahr in Hamburg eine Wohnung geräumt, in der Regel wegen Mietschulden. Zwar ist die Zahl der Zwangsräumungen spürbar gesunken: um 726 im Vergleich zu 2005, als die Fachstellen eingeführt wurden. Doch selbst Helfer vom Amt räumen ein, dass die Erfolgsbilanz ausbaufähig ist. „Wir kommen oft zu spät an die Leute ran“, sagt ein Fachstellen-Mitarbeiter, der ungenannt bleiben will. Meist werden die Ämter erst von den Gerichten alarmiert, wenn dort eine Räumungsklage wegen Mietschulden eingeht. Große Vermieter wie Saga/GWG oder Baugenossenschaften schicken auch Kopien fristloser Kündigungen. Doch, so heißt es aus einer anderen Fachstelle: „Wir könnten viel mehr auf Vermieter zugehen, um Räumungsklagen zu verhindern.“ Aber: „Dann müssten wir ­personell besser ausgestattet werden.“

96 Mitarbeiter (ohne Leitung und Sekretariat) zählen die Fachstellen laut Sozialbehörde. Angesichts ihrer Aufgaben erscheint diese Zahl nur auf den ersten Blick groß. Denn die Helfer vom Amt sollen nicht nur Zwangsräumungen verhindern. Sie sollen auch Obdach- und Wohnungslose in eigene vier Wände vermitteln – was ihnen zunehmend seltener gelingt (1519 Haushalte in 2011). Immer öfter geht es darum, irgendein Dach über dem Kopf zu finden, berichtet der Fachstellen-Mitarbeiter: „Die Unterkünfte sind mehr als voll. Deshalb bringen wir Menschen neuerdings ja auch wieder in Hotels unter.“

Hinzu kommt: Nicht alle Arbeitsplätze in den Fachstellen sind tatsächlich besetzt. Zwar erklärte der Senat im Februar auf Anfrage der Linkspartei, dass im Vergleich zum Soll nicht mehr als dreieinhalb Mitarbeiter in den sieben Ämtern fehlen würden. Doch erscheint diese Zahl wenig glaubhaft angesichts der Klagen aus zwei Bezirken. „Bei uns sind zwei Stellen nicht besetzt, eine seit mehr als einem Jahr“, heißt es aus der einen Fachstelle. „Ein Mitarbeiter geht in Altersteilzeit – und dann wird erst mal nichts gemacht. Die Bezirke sollen ja ­sparen“, so die Klage aus einer anderen.

Und noch ein Problem ist hausgemacht, so die Darstellung des Fachstellen-Mitarbeiters: Wenn ein Hilfesuchender etwa wegen „mangelnder Mitwirkung“ sein Hartz IV
vom Jobcenter gekürzt oder gestrichen bekommen hat, darf die Fachstelle seine Mietschulden nicht mal in Form eines Darlehens übernehmen. „Das betrifft vor allem junge ­Menschen. Das dürfte nicht sein!“ Im schlechtesten Fall müsse die Fachstelle dann „tatenlos zusehen, wie die Leute ihre Wohnung verlieren“.
Dass das Hamburger Hilfesystem verbesserungsfähig ist, zeigt auch ein Vergleich mit der Stadt München. Dort wird im Verhältnis zur Einwohnerzahl deutlich seltener geräumt. Das Münchner Sozialreferat macht vor allem die „konsequent aufsuchende Sozialarbeit“ für den Erfolg verantwortlich. Eine vorbildliche Regel: Wenn ein Betroffener auf ein Schreiben der Fachstelle nicht reagiert, rückt innerhalb einer Woche ein Sozialarbeiter aus, um an der Haustür zu klingeln und ­persönlich Unterstützung anzubieten. In Hamburg weiß die Sozialbehörde nicht einmal, in wie vielen Fällen die Helfer das Amt verlassen haben, um einen drohenden Wohnungsverlust zu verhindern. Genau das hat der Rechnungshof schon in seinem Jahresbericht 2011 bemängelt. Denn so könne „nicht ermittelt werden, ob und gegebenenfalls welche Veränderungen beim Umfang und Inhalt des Sozialmanagements sinnvoll wären“ – eine Rüge offenbar ohne Folgen.

Dieter Moll hätte dringend jemanden gebraucht, der ihn an die Hand nimmt. „Ich hab nur noch in die Flasche geguckt, mir war alles scheißegal“, erinnert er sich an die Zeit vor dem Verlust der Wohnung. Am Ende kommt nur der Gerichtsvollzieher. Eine Woche vor dem Räumungstermin steht er vor der Tür und drückt ihm die Ankündigung der Zwangsmaßnahme in die Hand. „Trocken“ sei der Mann aufgetreten, „wie ein Beamter“, erinnert sich Moll. Ein Rettungsangebot hatte er nicht dabei.

Gut drei Jahre lang hat Dieter Moll sich als Obdachloser durchgeschlagen: hat in einem Keller geschlafen, bei Bekannten, auf der Straße. Im Dezember 2012 ist er so weit, sich die Hilfe zu holen, die er braucht. Er geht zur Stadtmission und bekommt ein Bett im Haus Jona, einer Übergangseinrichtung für Obdachlose. Den Alkohol braucht Moll nach eigenem ­Bekunden nicht mehr. Aber eine Wohnung. Und einen Job.

Text: Ulrich Jonas