„Irgendwas in mir hat Klick gemacht“

Das Projekt „Gefangene helfen Jugendlichen“ wird zehn Jahre alt. Ein 25-Jähriger, dem die Knackis geholfen haben sein Leben zu ändern, erzählt seine Geschichte

(aus Hinz&Kunzt 192/Februar 2009)

Er hat andere beklaut, ausgeraubt und war ein ortsbekannter Schläger. Erst durch das Projekt Gefangene helfen Jugendlichen ist er zur Besinnung gekommen.

Der junge Mann, der in die Redaktion kommt, ist groß und schlank, lächelt offen und sieht sympathisch aus. Angst, ihm im Dunkeln zu begegnen, hat man nicht. Im Gegenteil: Von dem würde man sogar einen Gebrauchtwagen kaufen oder sich über die Straße helfen lassen.
Das war bei dem Elmshorner, den wir Dennis nennen wollen, mal ganz anders. Vor acht Jahren, mit 17, war er der Polizei schon bestens bekannt. Nicht nur, weil er ständig die Schule schwänzte – „Ich glaube, ich hielt den Rekord“ –, und auch nicht nur, weil er mitten im Unterricht aufstand und ging, dann wieder kam, „wann es mir gerade passte“.

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Der Grund: Dennis gehörte zu einer Gang, die sich hauptsächlich damit beschäftigte, andere zu beklauen oder „abzuziehen“, wie das im Straßenjargon heißt, Drogen in rauen Mengen zu konsumieren und jeden zu verprügeln, dessen Nase einem gerade nicht passte. „Wenn uns langweilig war, haben wir eben Scheiben eingeschlagen.“
Schon sein Aussehen war martialisch: Hip-Hop-Hosen, breites Kreuz, „Pisspottfrisur“ mit Stirnband, wie er selbst sagt, Goldkettchen. Im wahrsten Sinne des Wortes machten er und seine Kumpels auf dicke Hose und waren stolz darauf, wenn andere vor ihnen angstvoll zurückwichen. „Wenn wir jemandem die Nase gebrochen hatten, dann haben wir uns damit gegenseitig hochgeputscht und uns gefeiert.“ Warum das Ganze? „Es hat Spaß gemacht“, sagt der 25-Jährige. Die Auswirkungen verdrängte er. Bis zur neunten Klasse war er auf der Realschule. „Dann habe ich mich runterziehen lassen auf die Hauptschule, und auch da habe ich Mist gebaut.“
Seinen Eltern gibt er nicht die Schuld an seinem Verhalten. „Sie sind geschieden, haben sich aber gut um mich gekümmert.“ Auch die Großeltern, die in der Nähe wohnten. Ein bisschen mag’s am Viertel gelegen haben. „Hainholz war so etwas wie ein Ghetto.“
Seine Eltern wussten nicht, wie es um ihn stand. Wenn Briefe der Polizei kamen, „hab ich halt gesagt: ‚Damit habe ich nichts zu tun.‘“ Aber andere haben versucht, an ihn und seine Kumpels heranzukommen: die Mitarbeiter im Haus der Jugend und Polizeibeamte, die speziell für Jugendliche zuständig sind. „Aber ich habe das alles nicht ernst genommen“, gibt Dennis zu.
Das Jugendzentrum und die Polizei nahmen Kontakt zu Gefangene helfen Jugendlichen auf. Das Projekt wurde vor zehn Jahren von Gefangenen in der Strafvollzugsanstalt Fuhlsbüttel („Santa Fu“) gegründet. Kern der Initiative: Sie wollen Jugendliche durch ihr Beispiel und durch Gespräche zur Umkehr bewegen, solange es noch möglich ist.
Zusammen mit einer Gruppe anderer Jungs, die Gefahr liefen, demnächst hinter Gittern zu landen, besuchte Dennis die Gefangenen in Santa Fu. Mit dabei waren auch ein Kontaktpolizist und Mitarbeiter des Jugendzentrums. „Ich fand’s einfach nur lustig, da mal hinzugehen“, sagt Dennis. Cool fand er, „so ein Gefängnis mal von innen zu sehen“.
Das Lachen verging ihm. Er kam zu einem der Gefangenen auf die Zelle, zu Recep, der einen Mord begangen hatte. „Die Zelle war total klein und es war fast nichts drin.“ Dafür war das Klo im Raum. Schon früh­abends werden die Gefangenen eingeschlosen. „Recep fragte mich, wie ich das fände und ob ich mir vorstellen könnte, Jahre hier zu verbringen – so wie er“, erzählt er. Dennis gruselt es noch heute bei dem Gedanken daran. „Mal da zu landen, darauf hatte ich gar keine Lust.“
Nach einer Weile trafen sich alle Jungen und die Gefangenen im Gemeinschaftsraum. Die Gefangenen erzählten ihre Lebensgeschichten. Die ähnelten bis zu einem gewissen Punkt verblüffend denen der Jugendlichen: Schule schwänzen, Gangs, Drogen, wilde Hauereien, Abziehen anderer, dann Einbrüche, Raub, Gebrauch von Messern – und später Totschlag, Körperverletzung mit Todesfolge, sogar Mord.
„Wer schon ein Messer einsteckt, nimmt in Kauf,
einen anderen schwer zu verletzen oder gar umzubringen“, ist die Erfahrung der Inhaftierten. Die Jugendlichen und auch Dennis verstummten. Wenn das der Polizist gesagt hätte, wäre ihnen das „sonst wo vorbeigegangen“.
Später rät ihm Recep noch: „Hör auf mit dem Scheiß, solange du noch kannst! Mach deine Schule fertig! Fang an, deine Eltern zu respektieren, und hör nicht immer darauf, was andere sagen!“ Das war auch so ein Punkt. Die Gefangenen erzählten, dass sie im Prozess plötzlich alleine dagestanden hätten, weil ihre Freunde ihre eigene Haut retten wollten. „Vertrau deinem eigenen Kopf!“, sagte Recep.
Eigentlich Sätze, die jeder Jugendliche schon tausendmal gehört hat. „Aber bei denen war das anders. Vielleicht, weil die Gefangenen mal so waren wie wir und wissen, wovon sie sprechen – und sich verändert haben.“ Jedenfalls war Dennis nicht mehr lustig zumute, als er und seine Kumpels das Gefängnis verließen. „Irgendwas in mir hat Klick gemacht“, sagt er.
Ein paar Monate hat er versucht so weiterzuleben wie bisher. Er hat andere abgezogen, hat sich geprügelt. „Aber irgendwie war mir der Spaß versaut.“ Früher freute er sich fast, wenn die Polizei kam, dieses Katz-und-Maus-Spiel stachelte die Jungs noch an. Jetzt war das anders: „Wenn ich die Polizei sah, dachte ich nur noch: ‚Nix wie weg!‘“, sagt Dennis. „Ich hab das, was Recep und die anderen gesagt haben, nicht mehr aus meinem Hinterkopf bekommen. Es war immer da.“
Plötzlich merkte er, dass er vieles nur tat, weil er und seine Freunde das immer so gemacht haben: „Wenn einer von deinen Kumpels einen verprügelt hat, konntest du nicht einfach tatenlos danebenstehen.“ Nie hatte er sich vorher darüber Gedanken gemacht, ob er selbst dahinterstand oder nicht. Und er merkte, dass er seit Jahren Dinge machte, für die er niemals die Verantwortung übernehmen wollte.
Langsam vollzog sich eine Veränderung. Er zog niemanden mehr ab und ging Prügeleien aus dem Weg. Wenn jetzt einer seiner Freunde anfing, Streit zu suchen, hielt er ihn zurück oder stellte sich dazwischen. Komischerweise bekam er deswegen keinen Stress mit seinen Kumpels. Aber er entfernte sich von der Szene.
Und er fing an, regelmäßig in die Schule zu gehen, machte seinen Hauptschulabschluss, ging danach drei Jahre auf die Berufsschule für Wirtschaft und danach zur Bundeswehr. Jetzt jobbt er im Einzelhandel. Am liebsten würde er eine Lehre als Fachlagerist machen. Aber genommen hat ihn bisher niemand. Dabei ist er sich sicher, dass er die Ausbildung schaffen würde. „Ich weiß jetzt, was wichtig ist im Leben.“

Birgit Müller

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