„Der Druck wird an die Basis weitergereicht“

Zerrieben zwischen den Ansprüchen von Politik, Verwaltung, Medien, Eltern und Kindern: Ein Jugendamtsmitarbeiter berichtet, warum viele Kollegen überlastet sind

(aus Hinz&Kunzt 191/Januar 2009)

Die Stadt stockt in diesem Monat die Zahl der Jugendamtsmitarbeiter um 20 auf dann 302 auf. Eine längst überfällige Maßnahme. Denn in den vergangenen Jahren waren die Jugendämter so überfordert, dass alleine 2008 jeder fünfte Mitarbeiter eine Überlastungsanzeige stellte. Ein Jugendamtsmitarbeiter, der anonym bleiben will, sagt, warum.

Hinz&Kunzt: In den vergangenen Monaten haben 61 von 282 Jugendamtsmitarbeitern Überlas­tungsanzeigen gestellt. Was passiert anschließend?

Anonymus: Das ist von Bezirk zu Bezirk sehr unterschiedlich: Manchmal versucht man, die Kollegen zu besänftigen. Manchmal werden Kollegen keine neuen Fälle mehr zugewiesen. Oder Kollegen bekommen andere Aufgaben. Nur: In dem Moment, in dem man einen Kollegen entlastet, belastet man eben einen anderen. Die Arbeit muss ja gemacht werden. Das alles führt nicht dazu, dass zusätzliche Planstellen geschaffen werden. Es gab allerdings Zeiten, da war es weit schlimmer.

Hinz&Kunzt: Werden alle Überlastungsanzeigen bekannt?

Anonymus:Im Prinzip ja. Aber es gibt etwas anderes, das mich beschäftigt: Stellen alle Kollegen, die sich überlastet fühlen, solche Anzeigen? Im amtlichen Bremer Untersuchungsbericht zu dem Kind Kevin, das bei seinem Vater tot aufgefunden wurde, steht drin, dass dort zuletzt die Mitarbeiter der Jugendämter keine Überlastungsanzeigen mehr gestellt haben, weil weder die Vorgesetzten noch die Politiker darauf reagierten.

Hinz&Kunzt: In diesem Jahr will die Stadt 20 neue Stellen finanzieren. Ein Erfolg der Überlastungsanzeigen?

Anonymus:Gewiss. Nur – diese Stellen liegen in der Hoheit der Bezirksämter. Was, wenn dort wieder gespart wird und Stellen intern umverteilt werden müssen? Ziel muss sein, dass diese neuen Stellen unantastbar beim Kinderschutz bleiben. Es sollen ja auch wieder Straßensozialarbeiter eingestellt werden – nachdem man die in den letzten Jahren weggespart hat.

Hinz&Kunzt: Worin liegt die Belastung?
Anonymus:Belastend ist zusätzlich zu der ohnehin schwierigen Arbeit der viele Schreibkram: Wenn ich eine Hilfe zur Erziehung einrichte, etwa, dass eine Familienhelferin dreimal die Woche in eine Familie geht, dann muss ich eine Unzahl von Formularen ausfüllen und Berichte schreiben, bevor überhaupt ein Euro fließt. Dazu kommen Beratungsgespräche, Erziehungskonferenzen, die ich genau protokollieren muss, Stellungnahmen vor Gericht und so weiter.

Hinz&Kunzt: Was müsste passieren, damit sich etwas ändert?

Anonymus:Die Verwaltung der Bezirke müsste das Problem in die Jugendhilfeausschüsse oder an die Sozialausschüsse geben, und das passiert nicht. Die Bezirksamtsleiter könnten durchaus eigene Schwerpunkte setzen und mehr Geld und Personal in die Arbeit mit Kindern und deren Familien investieren. Das machen die wenigsten.

Hinz&Kunzt: Gibt es Bezirke, die einen guten Weg eingeschlagen haben?

Anonymus:Der Bezirk Altona: Da kann der Großteil der Mitarbeiter sich voll auf die Fälle konzentrieren und klassische Sozialarbeit machen, denn sie haben dort relativ wenig mit dem ganzen Schreibkram zu tun. Den erledigen dort Verwaltungsangestellte.

Hinz&Kunzt: Warum ist der Verwaltungsaufwand so hoch?

Anonymus: Grundsätzlich ist es sinnvoll, Berichte zu schreiben. Seit ein paar Jahren kommt hinzu: Die oberen Etagen in der Politik und in der Verwaltung wollen sich absichern, denn beispielsweise in Bremen sind ja auch Verwaltungsspitzen rausgeworfen worden, als man ihnen nachweisen konnte, dass sie sich nicht ausreichend informiert haben. Nun wird der Druck an die Basis weitergereicht: an den einzelnen Polizeibeamten, der zu einer problematischen Familie gerufen wird, und an uns.

Hinz&Kunzt: Wie viele Fälle haben Sie zu betreuen?

Anonymus: Bis zu 80 Fälle, das ist guter Durchschnitt und das ist definitiv zu viel. Es gibt Kollegen, die haben 60, doch es geht auch hoch bis 110 Fälle. Das ist dann der Horror.

Hinz&Kunzt: Wie belastend ist es, laufend Entscheidungen fällen zu müssen?

Anonymus:Wir müssen immer abwägen: das Recht des Kindes auf Schutz und das Recht der Eltern auf Erziehung. Ich habe Fälle gehabt, wo nach einer Scheidung geklärt werden musste, bei wem das Kind in Zukunft lebt, und ich nicht wusste, wo es besser aufgehoben sein wird. Auch die Gutachten, die für das Familiengericht erstellt werden, wissen oft keine Antwort. Dann eine Empfehlung auszusprechen, ist oft sehr schwierig und auch belastend. Was, wenn ich vielleicht falsch liege mit meiner Einschätzung?

Hinz&Kunzt: Nehmen Sie Arbeit mit nach Hause?

Anonymus:Am Anfang habe ich das durchaus gemacht, heute kommt das nicht mehr vor. Aber es gibt Kollegen, besonders jüngere, die arbeiten bis in den Abend; die machen jede Menge Überstunden, die nicht abgegolten werden. Es gab schon Kollegen, die sind am Wochenende gekommen. Einfach, weil da das Telefon nicht klingelt und man in Ruhe seine Berichte schreiben kann.

Hinz&Kunzt: Gibt es Jahreszeiten, wo die Belastung besonders hoch ist?

Anonymus:Eigentlich verteilt sich das übers Jahr, aber in der Woche vor den großen Ferien klingelt laufend das Telefon: Das sind meistens Lehrer, denen einfällt, dass es bei ihnen in der Klasse Kinder gibt, um die sie sich eigentlich längst kümmern wollten und die uns nun anrufen, damit sie mit einem guten Gewissen in die Ferien gehen können.

Hinz&Kunzt: Wie ist es mit dem Druck durch die Medien?

Anonymus:Liest man die Zeitungen, dann haben wir entweder mal wieder gepennt und ein Kind kam zu Schaden, oder es wurden Kinder völlig voreilig aus den Familien gerissen. Dass weit mehr als 80 Prozent unserer Maßnahmen in völliger Übereinstimmung mit den Eltern erfolgen, dass viele Eltern von sich aus zu uns kommen und um Hilfe bitten, darüber wird kaum berichtet. Journalisten interessiert immer nur das Spektakuläre, das Extreme.

Hinz&Kunzt: Gibt es etwas, auf das Sie hinweisen möchten?

Anonymus: Wer sich für das Thema interessiert, der sollte mal in seinem Bezirk zu den Sitzungen des Sozial- und des Jugendausschusses gehen. Die Sitzungen sind öffentlich, da kann jeder Bürger zu Beginn eine Stunde lang Fragen stellen: Was macht ihr konkret? Wem tretet ihr auf den Schlips? Und warum kann es sein, dass die Mitarbeiter der Jugendämter noch immer Überlastungsanzeigen schreiben?

Das Interview führte Frank Keil

Überlastungsanzeigen
Zwischen dem 1. März und dem 30. September 2008 stellten im Bezirk Harburg 29 Jugendamtsmitarbeiter eine Überlastungsanzeige, in Mitte 19, in Altona fünf, in Nord vier und in Eimsbüttel und Wandsbek je zwei, in Bergedorf niemand – insgesamt 61 von 282 Mitarbeitern.

Der Druck in den Ämtern steigt offenbar: Zwischen Anfang 2004 bis Anfang 2008 zählten die Bezirke 183 Überlastungsanzeigen.

Dass die Zahl der Anzeigen in seinem Bezirk so hoch ist, erklärt der Harburger Sozialdezernent Holger Stuhlmann mit einer „Neuorganisation“. „Viele Mitarbeiter hatten anfangs mehr Fälle als geplant“, sagte er auf Anfrage von Hinz&Kunzt. Inzwischen seien neue Mitarbeiter eingestellt worden, die Lage habe sich entspannt. Aktuell kümmerten sich 24 Sozialarbeiter um vernachlässigte Kinder in Harburg.

Anders sieht die Sache in Mitte aus: „Die Überlastungsanzeigen sind bedingt durch wachsende Fallzahlen“, sagt Jugendamtsleiterin Pia Wolters. Das Bezirksamt bemühe sich um eine nahtlose Nachbesetzung von freiwerdenden Stellen. „Problematisch ist, dass zurzeit eine sehr hohe Fluktuation herrscht und dass sehr viele neue Fachkräfte, teilweise Berufsanfänger, einzuarbeiten sind.“ fk/ujo

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